L 4 AS 375/15 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 22 AS 711/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 375/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 27. Mai 2015 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig SGB II-Leistungen für Februar 2015 in Höhe von insgesamt 1.981,00 EUR und für die Zeit vom 1. bis zum 26. März 2015 in Höhe von insgesamt 1.761,87 EUR zu gewähren.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) begehren im Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Februar bis zum 26. März 2015.

Der 1964 geborene Antragsteller zu 1 und seine Ehefrau, die 1973 geborene Antragstellerin zu 2, sind italienische Staatsangehörige albanischer Herkunft. Sie stellten nach Zuzug aus Z. am 26. Januar 2015 für sich und ihre Kinder, den 1995 geborenen Antragsteller zu 3, die 1998 geborene Antragstellerin zu 4 und den 2007 geborenen Antragsteller zu 5 einen SGB II-Leistungsantrag, der für die Zeit ab 1. Februar 2015 gelten sollte. Bis einschließlich Januar 2015 bezogen die Antragsteller vorläufige SGB II-Leistungen vom Jobcenter des Landkreises A. Dieser hatte mit Bescheid vom 13. Januar 2015 die Erteilung einer Zusicherung zu den KdU für einen Umzug nach R. abgelehnt. Sie gaben unter Vorlage des Mietvertrags an, für das am 26. Januar 2015 bezogene Haus mit einer Wohnfläche von ca. 120 m² in R. eine Grundmiete von 500 EUR sowie Abschläge auf die Betriebskosten von 100 EUR zu zahlen zu haben. Weiter seien an die Stadtwerke D. Vorauszahlungen für Wasser in Höhe von 60 EUR und für Erdgas in Höhe von 80 EUR zu leisten, sodass insgesamt 740 EUR für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) aufzubringen seien. Ihre einzigen Einnahmen seien derzeit das Kindergeld für die Antragsteller zu 4 und 5 in Höhe von je 184 EUR. Der Antragsteller zu 1 gab an, er sei erwerbsfähig und habe zuletzt von November bis Dezember 2013 bei der Firma R. GmbH in L. als Berufskraftfahrer sozialversicherungspflichtig gearbeitet, jedoch keinen Lohn erhalten. Diesbezüglich sei beim Arbeitsgericht Stendal ein Klageverfahren anhängig. Er sei bei der A. gesetzlich kranken- und pflegeversichert. Die Antragsteller zu 2 und 3 machten keine Angaben zu Beschäftigungen. Nach vorgelegten Bescheinigungen besucht die Antragstellerin zu 4 die 10. Klasse der Sekundarschule in Z. und der Antragsteller zu 5 die 2. Klasse der Grundschule in R.

Aus einem wohl von der Arbeitsagentur im EDV-System gespeicherten und am 27. Februar 2015 ausgedruckten Lebenslauf des Antragstellers zu 1 ergibt sich eine in Albanien absolvierte Berufsausbildung als Mechaniker mit nachfolgender berufspraktischer Tätigkeit. Von 1994 bis zum 10. November 2013 sei er in M. als Berufskraftfahrer beschäftigt gewesen. Anschließend habe er bis 10. Januar 2014 für die Firma S. gearbeitet. Der nachfolgende Zeitraum vom 11. Januar 2014 bis zum 25. Januar 2015 wird als "Zeit ohne Nachweis" geführt, die sich daran anschließende Zeit vom 26. Januar bis zum 15. Februar 2015 als "Arbeitslosigkeit". Für den Zeitraum vom 16. Februar bis zum 15. August 2015 ist eine Weiterbildung mittels Integrationskurs sowie für den 24. und 25. Februar 2015 eine Maßnahme zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung bei einem Arbeitgeber (§ 45 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung (SGB III)) eingetragen. Nach Bestätigung der I. Sprachschule D. OHG vom 16. Februar 2015 absolvieren die Antragsteller zu 1 und 2 einen voraussichtlich bis zum 6. November 2015 dauernden Integrationskurs Deutsch mit fünfmal wöchentlichem Unterricht von 9.00 bis 12.15 Uhr.

Nach seinen Vermerken hielt der Antragsgegner einen Alg I-Anspruch des Antragstellers zu 1 aufgrund der Vorbeschäftigungen für möglich. Dessen Voraussetzungen seien bislang noch nicht geprüft worden. Schreiben an den Antragsteller zu 1 mit der Aufforderung, einen Antrag auf Alg I bei der Agentur für Arbeit in D.-R. zu stellen, und an die Agentur für Arbeit D.-R. mit der Anmeldung eines Erstattungsanspruchs gemäß § 102 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) befinden sich als Entwurf in der Akte, wurden aber nicht versandt.

Mit Bescheid vom 16. März 2015 lehnte der Antragsgegner den SGB II-Antrag (nur) des Antragstellers zu 1 ab. Er habe keinen Leistungsanspruch, weil er ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche habe. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Ausführungen zu den übrigen Antragstellern enthielt der Bescheid nicht.

Dagegen legte der Antragsteller zu 1 am 19. März 2015 Widerspruch ein. Er sei als italienischer Staatsbürger leistungsberechtigt. Er habe von ca. Oktober 2013 bis Dezember 2013 bei einer Firma in L. bis deren Verkauf und bis zur Kündigung gearbeitet. Er und seine Familie seien mittellos. Sie hätten inzwischen Mietschulden und befürchteten Obdachlosigkeit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24. März 2015 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Der Antragsteller zu 1 sei zwar Unionsbürger, aber auf ihn sei die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 SGB II uneingeschränkt anwendbar. Da er seit dem Ende seiner Beschäftigung im Januar 2014 nicht mehr erwerbstätig gewesen sei, erfülle er nicht die Voraussetzungen von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU, denn die Arbeitslosigkeit sei nicht erst nach einer Tätigkeit von mehr als einem Jahr eingetreten. Bei Arbeitslosigkeit nach einer Beschäftigung von weniger als einem Jahr bleibe das Recht auf Freizügigkeit für den Arbeitnehmer nur für die Dauer von sechs Monaten bestehen. Danach ergebe sich sein Aufenthaltsrecht in Deutschland allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Daher hätten er und seine Familienangehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.

Dagegen haben die Antragsteller beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 22 AS 752/15 geführt wird. Am 30. März 2015 hat der Antragsteller zu 1 beim SG zur Niederschrift der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in Begleitung der Antragstellerin zu 2 und des Vermieters P. als Dolmetscher um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Er hat ausgeführt, er sei mit der Entscheidung des Antragsgegners nicht einverstanden und habe seit Februar 2015 kein Einkommen mehr. Er könne die Miete nicht bezahlen. Er hat auf das beim Arbeitsgericht Stendal anhängige Verfahren zum ausstehenden Lohn verwiesen. Die Antragstellerin zu 2 sei seit 27. März 2015 bei ihrem Vermieter sozialversicherungspflichtig beschäftigt und verdiene 510 EUR monatlich. Er hat den zwischen der Antragstellerin zu 2 und P. geschlossenen Arbeitsvertrag über eine Beschäftigung in dessen Eiscafé mit einer monatlichen Arbeitszeit von 60 Stunden vorgelegt. Aus den vorgelegten Kontoauszügen des Girokontos ergeben sich allein Gutschriften des Kindergeldes. Vom SG ist allein der Antragsteller zu 1 als Verfahrensbeteiligter auf Antragstellerseite geführt worden.

Wegen der Erwerbstätigkeit der Antragstellerin zu 2 hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 28. April 2015 den Antragstellern ab 27. März 2015 Leistungen in Höhe von insgesamt 308,67 EUR für März, 1.627,22 EUR für April und jeweils 1.852,05 EUR für die Monate Mai bis Juli 2015 vorläufig bewilligt. Für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 26. März 2015 hat er den Antrag gemäß § 7 SGB II abgelehnt und auf seinen Bescheid vom 16. März 2015 verwiesen: Es könne noch nicht endgültig entschieden werden, da das anzurechnende Einkommen der Antragstellerin zu 2 noch nicht feststehe. Zugleich hat der Antragsgegner die Antragssteller auf die zu hohen KdU für die zu große Wohnung hingewiesen und zur Kostensenkung aufgefordert. Die Grundmiete einschließlich Betriebskosten dürfe maximal 531,05 EUR betragen. Derzeit berücksichtige er von den tatsächlichen Kosten nur 611,05 EUR, weil die Antragsteller ohne Zustimmung des bisherigen Leistungsträgers umgezogen seien.

Auf Aufforderung des SG, mitzuteilen, ob sich mit der Leistungsbewilligung das Verfahren erledigt habe, hat der Antragsteller zu 1 am 18. Mai 2015 erklärt, Erledigung sei nicht eingetreten, da erneut die Leistungsgewährung für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 26. März 2015 abgelehnt worden sei.

Mit Beschluss vom 27. Mai 2015 hat das SG den Antrag (nur des Antragstellers zu 1) auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es hat ausgeführt, es seien weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Bis zur Aufnahme der Erwerbstätigkeit durch die Ehefrau habe der Antragsteller zu 1 der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II unterlegen. Denn er sei weder Arbeitnehmer noch Selbständiger gewesen. Zudem sei seine unfreiwillige Arbeitslosigkeit nicht nach einer Tätigkeit von mehr als einem Jahr eingetreten. Der Antragsteller zu 1 sei in Deutschland nur von November 2013 bis Januar 2014 beschäftigt und danach nicht mehr erwerbstätig gewesen. Da der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes erst am 30. März 2015 und damit nach Ablauf des von der fortbestehenden Ablehnung umfassten Zeitraums vom 1. Februar bis zum 26. März 2015 gestellt worden sei, bestehe kein Anordnungsgrund. Denn dem Vorbringen des Antragstellers zu 1 sei nicht zu entnehmen, dass er durch die Ablehnung der beantragten Leistungen in eine akute wirtschaftliche Notlage geraten sei.

Gegen den Beschluss hat der Antragsteller zu 1 am 5. Juni 2015 zur Niederschrift der Geschäftsstelle des SG Beschwerde eingelegt: Er benötige dringend SGB II-Leistungen für den Zeitraum vom 1. Februar bis 26. März 2015, um die zwischenzeitlich aufgelaufenen Mietschulden in Höhe von 1.356,05 EUR zu begleichen. Er sei auch wegen der ausstehenden Gas- und Wasservorauszahlungen gemahnt worden. Zudem fordere die A. Krankenversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1. Februar bis zum 26. März 2015 in Höhe von 1.282,06 EUR. Er hat die Mahnung des Vermieters vom 18. Mai 2015 vorgelegt, die die Androhung der Kündigung des Mietverhältnisses enthält. Danach sind für Februar 2015 keine Zahlungen, für März 2015 eine Zahlung in Höhe von 111,85 EUR sowie für April und Mai Zahlungen in Höhe von 471,05 EUR erbracht worden. Die Rückstände seien innerhalb von 14 Tagen zu begleichen.

Die Antragsteller beantragen nach ihren schriftlichen Ausführungen sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 27. Mai 2015 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen vorläufig für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 26. März 2015 SGB II-Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt schriftlich,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hat ausgeführt, im einstweiligen Rechtsschutz sei eine Entscheidung über rückwirkende Leistungszeiträume unzulässig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners ergänzend Bezug genommen. Die genannten Unterlagen sind Gegenstand der Beratung des Senats gewesen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Rubrum war von Amts wegen um die Antragsteller und Beschwerdeführer zu 2 bis 5 zu ergänzen. Schließlich hat der nicht anwaltlich vertretene Antragsteller zu 1 mit seinem einstweiligen Rechtsschutzantrag die SGB II-Leistungsansprüche aller Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft geltend machen wollen. Obwohl dieses umfassende Rechtsschutzziel nahelag, hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des SG bei Aufnahme und Niederschrift des Eilantrags wegen der Beteiligten im Verfahren nicht nachgefragt. Nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz war von einem Rechtsschutzgesuch aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auszugehen.

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des SG vom 27. Mai 2015 ist zulässig, insbesondere nach den §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 iVm § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG ausgeschlossen. Denn der maßgebliche Wert des Beschwerdegegenstands für eine Berufung nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG von 750 EUR ist überschritten.

Die Beschwerde ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist gem. § 86b Abs. 2 Satz 4 iVm § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) stets die Glaubhaftmachung des Vorliegens eines Anordnungsgrunds (die Eilbedürftigkeit der Regelungsabwendung wesentlicher Nachteile) und eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs). Der Beweismaßstab im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erfordert im Gegensatz zu einem Hauptsacheverfahren für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen nicht die volle richterliche Überzeugung. Dies erklärt sich mit dem Wesen dieses Verfahrens, das wegen der Dringlichkeit der Entscheidung regelmäßig keine eingehenden, unter Umständen langwierigen Ermittlungen zulässt. Deshalb kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eine vorläufige Regelung längstens für die Dauer des Klageverfahrens getroffen werden, die das Gericht der Hauptsache nicht bindet. Ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind. Dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer: SGG, 11. Auflage 2014, § 86b RN 16 b).

Dabei müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. November 2002, Az.: 1 BvR 1586/02, NJW 2003, S. 1236; BVerfG, NVwZ 2004, S. 95 f.), wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren – wie vorliegend – vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, dass der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt. Dies gilt insbesondere wenn der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Zudem müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. November 2002, a.a.O., S. 1237). Dies gilt insbesondere, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern.

Unter Anwendung dieser Grundsätze war vorliegend im Rahmen einer Folgenabwägung zu Gunsten der Antragsteller zu entscheiden. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen.

Die Antragsteller haben im Hinblick auf die im Beschwerdeverfahren noch geltend gemachten SGB II-Leistungen für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 26. März 2015 einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Zwar besteht in der Regel kein Anordnungsgrund, wenn im Wege des Eilrechtsschutzes um Zeiträume der Vergangenheit gestritten wird, die üblicherweise keine gegenwärtige akute Notlage auslösen. Es beruht auf dem sozialhilferechtlichen, aber auch im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende geltenden Grundsatz, dass Leistungen für den Lebensunterhalt im Wege der einstweiligen Anordnung nur zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage erfolgen und nicht rückwirkend zu bewilligen sind. Dies gilt nur dann nicht, wenn glaubhaft gemacht ist, dass eine in der Vergangenheit eingetretene Notlage in die Gegenwart hineinwirkt, wenn also fehlende oder unzulängliche Leistungen in der Vergangenheit wirtschaftliche Auswirkungen in die Gegenwart zeitigen.

So liegt es hier: Die Antragsteller waren ab 1. Februar 2015 einkommenslos und erhielten keine SGB II-Leistungen, sodass sie ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen konnten. Daher waren bis zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung Mietschulden in einer Gesamthöhe von 1.356,05 EUR aufgelaufen. Zudem hat die A. die Zahlung der Krankenversicherungsbeiträge für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 26. März 2015 in einer Gesamthöhe von 1.282,06 EUR angemahnt. Zudem waren die Antragsteller nach ihren Bekundungen in der Beschwerde nicht in der Lage, die vereinbarten Abschläge an die Stadtwerke für die Strom-, Wasser- und Gasversorgung zu erbringen. Der Vermieter der Antragsteller hat in seinem Mahnschreiben die Kündigung des Mietvertrags für den Fall des weiteren Zahlungsverzugs bereits angekündigt. Es besteht im Zeitpunkt der Entscheidung der Senat noch eine aktuelle und dringliche Notlage, die durch das Ausbleiben der SGB II-Leistungen für den streitigen Zeitraum verursacht worden ist, und einen Nachholbedarf auslöst.

Das Bestehen eines Anordnungsanspruchs ist hier zu Gunsten der Antragsteller im Rahmen der Folgenabwägung zu unterstellen. Denn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen. Fest steht, dass die Antragsteller die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 bzw. Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Nr. 4 SGB II erfüllen. Offen ist jedoch, ob sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sind. Dies lässt sich nach der bislang bekannten Sachlage nicht abschließend beurteilen, erscheint aber eher unwahrscheinlich.

Der dem vorliegenden Fall zugrunde liegende Sachverhalt wurde weder vom Antragsgegner noch vom SG hinreichend ermittelt. Aus dem vorliegenden Verwaltungsvorgang ergeben sich keine Informationen zur Beschäftigung des Antragstellers zu 1 seit der Aufgabe der Tätigkeit in Loburg im Januar 2014. Es erfolgte durch den Antragsgegner auch keine Prüfung, ob der Antragsteller zu 1 ggf. Alg I-Ansprüche in Deutschland aufgrund seiner Vorbeschäftigungen – insbesondere der langjährigen (1994 bis 2013) und grundsätzlich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit als Berufskraftfahrer in M.– hat. Nach den Vermerken in der Verwaltungsakte hat der Antragsgegner diese für möglich gehalten, aber weder Kontakt zu der der zuständigen Agentur für Arbeit aufgenommen noch den Antragsteller zu 1 auf eine entsprechende Antragstellung hingewiesen oder um Klärung gebeten.

Zu den volljährigen Antragstellern zu 2 und 3 wurden ebenfalls keine Angaben über bisherige abhängige Beschäftigungen oder Integrationsbemühungen auf dem Arbeitsmarkt erhoben, sodass nicht beurteilt werden kann, ob eine Arbeitnehmereigenschaft besteht. Dasselbe gilt letztlich für den Antragsteller zu 1: Der Antragsgegner hat im Bescheid vom 16. März 2015 zwar ausgeführt, er könne aus der vorausgegangenen Erwerbstätigkeit kein Aufenthaltsrecht mehr herleiten, weil er bereits länger als ein Jahr unfreiwillig arbeitslos sei. Indes ergibt sich aus den Akten nicht, dass der Antragsteller zu 1 zu weiteren Beschäftigungen oder zu Bemühungen um einen Arbeitsplatz befragt worden ist. Bewerbungsbemühungen sind in Bezug auf die Antragsteller zu 1 bis 3 nicht dokumentiert.

Andererseits besuchten die Antragsteller zu 1 und 2 seit 16. Februar 2015 einen voraussichtlich bis November 2015 dauernden und werktäglich stattfindenden Integrationskurs Deutsch. Mithin wurden offensichtlich Integrationsbemühungen gefördert – wahrscheinlich durch den Antragsgegner als Leistungsträger. Eine Erbringung von Leistungen zur Eingliederung nach § 16 SGB II und eine gleichzeitige Ablehnung des Leistungsantrags unter Bezugnahme auf den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II für die Zeit vom 1. Februar bis zum 26. März 2015 erscheint inkonsequent. Der Antragsgegner hat auch die Verwaltungsakte des zuvor zuständigen SGB II-Leistungsträgers nicht beigezogen, obwohl sich daraus relevante Informationen ergeben könnten.

Weiter wurde vom Antragsgegner nicht ermittelt, ob und in wie weit sich der Aufenthalt der Antragsteller in Deutschland bereits verfestigt hat. Es ist beispielsweise nicht bekannt, seit wann die Antragsteller zu 4 und 5 in Deutschland die Schule besuchen. Dies ist jedoch erheblich, weil die Antragsteller zu 4 und 5 möglicherweise über ein sog. autonomes Aufenthaltsrecht nach Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 verfügen, wenn sie ihrer Schulausbildung in einer in Deutschland gelegenen Einrichtung regelmäßig nachkommen. Dieses würde ein Aufenthaltsrecht der Elternteile, die die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnehmen, nach sich ziehen, obwohl die in § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügigG/EU geregelten Fristen bereits abgelaufen sind (vgl. z. Vorst.: EUGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 26. März 2015 in C-67/14 Alimanovic, juris Nr. 119-122). Dadurch wäre § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf die Antragsteller zu 1, 2, 4 und 5 nicht anwendbar.

Schließlich hat der Antragsgegner mit dem ersten Bescheid vom 16. März 2015 allein den Leistungsantrag des Antragstellers zu 1 abgelehnt. Ausführungen zu den Antragstellern zu 2 bis 5 sind dem Bescheid nicht zu entnehmen. Offensichtlich wurden eigenständige Aufenthaltsrechte der übrigen Antragsteller, die nach den vorstehenden Ausführungen denkbar sind, nicht geprüft. Dies ist auch im Widerspruchsbescheid vom 24. März 2015 nicht erfolgt, obwohl dieser die Antragsteller zu 2 bis 5 insoweit einbezieht, als abschließend erklärt wird, auch sie hätten keinen SGB II-Leistungsanspruch.

Vorliegend lässt sich für keinen der Antragsteller das Eingreifen des Leistungsausschlussgrundes nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit hinreichender Sicherheit feststellen.

Unabhängig vom Vorstehenden ist aktuell die Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 383/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO [EG] 883/2004) zweifelhaft. Denn danach haben Personen, die als Unionsbürger unter den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Vorschriften des Mitgliedsstaates, wie die Staatsbürger dieses Staates vorbehaltlich abweichender Regelung in der Verordnung. Das BSG hat dazu in seinem Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof vom 12 Dezember 2013 (AZ.: B 4 AS 9/13 R, juris) ausgeführt: Es sei klärungsbedürftig, ob sich eine solche abweichende Regelung für den Export beitragsunabhängiger Leistungen ergebe. Es sei zweifelhaft, ob ein ausnahmsloser Ausschluss von Sozialleistungen möglich sei, und klärungsbedürftig, ob eine verhältnismäßige Anwendung der Ausschlussregelung erfordere, dass besondere Umstände im Rahmen einer Einzelfallprüfung zu berücksichtigen seien. Insoweit komme eine bestehende Verbindung zum innerstaatlichen Arbeitsmarkt trotz längerfristiger erfolgloser Arbeitsuche oder eine Integration des arbeitsuchenden Unionsbürgers in Betracht. In diese Richtung geht auch das Plädoyer des Generalanwalts in seinen Schlussanträgen vom 26. März 2015 in der oben genannten Vorlagesache. Er schätzt ein, dass Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 einer gesetzlichen Regelung eines Mitgliedsstaats entgegenstehe, die Staatsangehörigen anderer Mitgliedsstaaten, die eine Arbeit im Aufnahmemitgliedsstaat suchten, von bestimmten besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen, die auch eine Leistung der Sozialhilfe darstellten, automatisch und ohne individuelle Prüfung ausschließe, während Staatsangehöre des Aufnahmemitgliedsstaats, die sich in derselben Situation fänden, diese Leistungen erhalten (vgl. EUGH, a.a.O., juris, VI Ergebnis Nr. 2; sowie: Beschluss des 2. Senats vom 1. Juni 2015, Az.: L 2 AS 80/15 B ER, juris).

Danach erscheint es nicht fernliegend, dass – unbeschadet vom Vorliegen anderer Aufenthaltsrechte – im Fall der Antragsteller entsprechende besondere Umstände vorliegen könnten, die es gebieten, sie als nicht von der Ausschlussklausel erfasst anzusehen. Denn sie halten sich inzwischen mehr als 18 Monate in Deutschland auf und haben – bis auf den hier streitigen Zeitraum von weniger als zwei Monaten – SGB II-Leistungen erhalten.

Nach alledem waren den Antragstellern im Wege der Folgenabwägung SGB II-Leistungen zu gewähren. Diese belaufen sich auf einen Regelbedarf von insgesamt 1.609 EUR (je 360 EUR für die Antragsteller zu 1 und 2, 320 EUR für den Antragsteller zu 3, 302 EUR für die Antragstellerin zu 4 und 267 EUR für den Antragsteller zu 5). Hinzu kommen als Bedarf die tatsächlichen KdU in Höhe von insgesamt 740 EUR. Insoweit ist es entgegen der Auffassung des Antragsgegners unerheblich, dass der vorherige SGB II-Leistungsträger dem Umzug der Antragsteller nach D.-R. nicht zugestimmt hatte. Denn im Fall eines Umzugs über die Grenzen des kommunalen Vergleichsraums hinaus, d. h. bei einem Leistungsträgerwechsel, sind die KdU nicht auf die Aufwendungen am bisherigen Wohnort begrenzt (BSG, Urteil vom 1. Juni 2010, Az.: B 4 AS 60/09 R, juris RN 81f.).

Unter Berücksichtigung des Kindergeldeinkommens für die Antragsteller zu 4 und 5 ergibt sich ein monatlicher Gesamtanspruch der fünfköpfigen Bedarfsgemeinschaft von 1.981 EUR, der für den Monat Februar 2015 zu gewähren ist. Für März 2015 sind Leistungen noch bis zum 26. des Monats zu erbringen, mithin ergibt sich ein individueller Leistungsanspruch von je 26/30 der jeweiligen Monatsleistung. Hieraus ergibt sich ein Betrag von insgesamt 1.716,87 EUR (je 440,27 EUR für Antragsteller zu 1 und 2, 405,60 EUR für den Antragsteller zu 3, 230,53 EUR für die Antragstellerin zu 4 und 200,20 EUR für den Antragsteller zu 5).

Im Hinblick auf den Umstand, dass der Antragsgegner im Rahmen seiner vorläufigen Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 28. April 2015 auf die Leistungsansprüche der Antragsteller noch kein Erwerbseinkommen der Antragstellerin zu 2 aufgrund ihrer Beschäftigungsaufnahme ab 27. März 2015 angerechnet hat, hat der Senat davon abgesehen, im Wege der einstweiligen Anordnung noch weitere KdU-Leistungen für die Dauer des bis einschließlich Juli 2015 laufenden Bewilligungszeitraums zu gewähren, da die Antragsteller unter Berücksichtigung des anzurechnenden Einkommens der Antragstellerin zu 2 ab April 2015 insgesamt über hinreichende Mittel zur Bedarfsdeckung verfügen dürften. Zudem haben sie die Höhe der Leistungsbewilligung die Zeit ab 27. März 2015 in der Beschwerde nicht beanstandet.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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