S 20 AS 3827/15 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 20 AS 3827/15 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Es verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, wenn bei einer 60 %-Sanktionierung die Erbringung ergänzender Sachleistungen nach § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II verwehrt wird, weil der vorgelegte Personalausweis seit weniger als einem Monat abgelaufen ist.
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ergänzende Sachleistungen nach § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II für den Monat Juli 2015 zu erbringen. II. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I. Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von ergänzenden Sachleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für den Monat Juli 2015. Der Antragsteller bezieht laufend Leistungen des Antragsgegners nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 21. April 2015 minderte der Antragsgegner für die Zeit vom 1. Mai 2015 bis 31. Juli 2015 das Arbeitslosengeld II um 60 % des Regelbedarfs. Der Antragsteller sprach am 23. Juli 2015 bei dem Antragsgegner vor, um sich für den Monat Juli 2015 Lebensmittelgutscheine ausreichen zu lassen. Der Antragsgegner machte dies von der Vorlage eines aktuellen Personalausweises abhängig. Der Personalausweis, den der Antragsteller vorlegte, ist am 29. Juni 2015 abgelaufen. Der Antragsteller hat am 27. Juli 2015 vor dem Sozialgericht Dresden die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Er könne die 38 EUR für die Beantragung eines neuen Personalausweises und die Kosten für die Erstellung des dafür erforderlichen biometrischen Passbildes nicht aufbringen. Die Tatsache, dass er keinen gültigen Personalausweis vorlegen könne sei kein sachdienlicher Grund für die Versagung der begehrten Leistungen. Der Antragsteller beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller ergänzende Sachleistungen nach § 31a Abs. 3 SGB II zu bewilligen. Der Antragsgegner stellt keinen Antrag. Im Minderungsbescheid sei dem Antragsteller mitgeteilt worden, dass zur Beantragung von Gutscheinen oder geldwerten Leistungen ein aktueller Personalausweis notwendig sei. Er habe keinen gültigen Personalausweis vorgelegt. Die Möglichkeit eines vorläufigen Personalausweises für 10 EUR sei nicht genutzt worden. Grundsätzlich sei bei der Antragstellung die Identität des Antragstellers zu überprüfen. Insoweit sei die Ausgabe der Warengutscheine nicht abgelehnt worden, da noch eine Nachholmöglichkeit zur Vorlage eines entsprechenden Dokumentes bestehe. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen. Seine Behördenakten hat der Antragsgegner trotz entsprechender Aufforderung nicht vorgelegt.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet. Inhaltlich handelt es sich um einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit dem Begehren, den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig ergänzende Sachleistungen nach § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II für den Monat Juli 2015 zu erbringen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Anträge sind schon vor Klageerhebung zulässig, § 86b Abs. 3 SGG. Voraussetzung für den Erfolg des Antrages ist, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen. Für eine vorläufige Entscheidung müssen gewichtige Gründe vorliegen (Anordnungsgrund). Der Anordnungsgrund liegt vor, wenn dem Antragsteller wesentliche, insbesondere irreversible Nachteile drohen, die für ihn ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar machen und die Regelung zur Verhinderung dieser unzumutbaren Nachteile durch eine Anordnung nötig erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977, Az: 2 BvR 42/76). Ferner muss ein Anordnungsanspruch vorliegen. Dabei muss es sich um einen der Durchsetzung zugänglichen materiell-rechtlichen Anspruch des Antragstellers handeln (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 86b Rn. 27 ff.). Eine einstweilige Anordnung ergeht demnach nur, wenn sie nach gebotener summarischer Prüfung der Sachlage zur Abwendung wesentlicher, nicht wieder gutzumachender Nachteile für den Antragsteller notwendig ist. Dabei hat der Antragsteller wegen der von ihm geltend gemachten Eilbedürftigkeit der Entscheidung die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §§ 202 SGG, 294 Zivilprozessordnung (ZPO), also Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, glaubhaft zu machen. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch (1.) und einen Anordnungsgrund (2.) glaubhaft gemacht. 1. Der Anordnungsanspruch des Antragstellers ergibt sich aus § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II. Danach kann der Leistungsträger bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 % des nach § 20 SGB II maßgeblichen Regelbedarfs ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Der Antragsgegner räumt ein, dass die Voraussetzungen für die Erbringung ergänzender Sachleistungen an den Antragsteller nach dieser Vorschrift im Juli 2015 vorliegen. Er hat sein Ermessen bereits dahingehend ausgeübt, die begehrten Leistungen zu gewähren. Allerdings macht er die Übergabe des Gutscheines davon abhängig, dass der Antragsteller einen gültigen Personalausweis vorlegt. Dies sei erforderlich, um die Identität des Antragstellers zu überprüfen. Der Antragsteller macht glaubhaft, dass er derzeit nicht über einen gültigen Personalausweis verfügt. Er legt allerdings einen Personalausweis vor, dessen Gültigkeit am 29. Juni 2015 abgelaufen ist. Es ist nicht nachvollziehbar, dass es dem Antragsgegner anhand dieses zum Zeitpunkt der Vorsprache des Antragstellers noch nicht einmal seit einem Monat abgelaufenen Dokumentes nicht möglich sei, seine Identität zu überprüfen. Der Antragsgegner überspannt hier die Anforderungen an die Ausreichung einer existenzsichernden Leistung zur Überbrückung einer Notlage während einer Sanktionierung. Er verkennt die Bedeutung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz [GG] in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG) und hat damit ermessensfehlerhaft über das Begehren des Antragstellers noch nicht entschieden. In Anbetracht der erheblichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der vorangegangenen Sanktion (vgl. SG Gotha, Vorlagebeschluss vom 26. Mai 2015 – S 15 AS 5157/15 –) war hier das dem Antragsgegner in § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II eröffnete Ermessen dahingehend reduziert, dass trotz der Vorlage eines abgelaufenen Personalausweises nur die Erbringung der begehrten ergänzenden Sachleistung in Betracht kam. 2. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Antragsteller hat insbesondere die Dringlichkeit der Durchsetzung seiner Ansprüche dargelegt, da er nach seinen aktuellen Einkommens- und Vermögensverhältnissen nicht in der Lage ist, die seit 1. Mai 2015 wirksame Sanktionierung aus eigenen Mitteln auszugleichen. Damit ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Vermeidung einer Verletzung seines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums geboten. Unbeachtlich war es im vorliegenden Fall, dass der Monat, für den die begehrten Leistungen zu erbringen sind, bei Antragstellung bereits weitgehend abgelaufen war. Denn im vorliegenden Fall eines möglicherweise verfassungswidrigen Eingriffs in das Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums des Antragstellers konnte das Gericht ausnahmsweise rückwirkend Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung zusprechen, da die Rechtsverletzung anders nicht mehr zu beseitigen war.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

4. Dieser Beschluss ist nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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