S 40 AS 1713/13

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
40
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 40 AS 1713/13
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit, nach denen davon auszugehen ist, "dass ein Mehrbedarf wegen Alleinerziehung durch ein Kind, das selbst ein Kind hat, nicht mehr verursacht wird", stehen nicht im Einklang mit dem Gesetz. In einem Mehrgenerationenhaushalt ist ein Alleinerziehungsmehrbedarf für die Großmutter auch dann anzuerkennen, wenn die Teenagertochter, die durch die Großmutter allein betreut wird, bereits selbst ein Baby hat.
1. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 7.11.2012 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 24.11.2012 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.2.2013 verurteilt, der Klägerin weitere Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II für den Monat Dezember 2012 in Höhe von 44,88 EUR und für die Monate Januar 2013 bis Mai 2013 in Höhe von monatlich 45,84 EUR (insgesamt für den gesamten streitgegenständlichen Leistungszeitraum 274,08 EUR) zu zahlen. 2. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten ausschließlich um die Frage, ob der Klägerin ein Alleinerziehungszuschlag nach § 21 Abs. 3 SGB II für die Tochter B zusteht. Streitgegenständlich sind hier weitere Leistungen der Grundsicherung in Höhe von insgesamt 274,08 EUR für die Leistungsmonate 12/2012 bis 5/2013.

Die 1971 geborene, alleinstehende Klägerin zu 1) ist erwerbsfähig und die Mutter zweier Töchter: der am 27.11.1994 geborenen Tochter A, die mit ihr gemeinsam eine Bedarfsgemeinschaft bildet und der am 7.4.1996 geborenen weiteren Tochter B, die wiederum mit ihrem eigenen Sohn L, dem Enkelkind der Klägerin, geboren am 7.12.2011 eine eigene Bedarfsgemeinschaft bildet. Alle vier Personen leben in einem gemeinsamen Haushalt, der unstrittig von der Klägerin geleitet wird. Der Vater der Töchter oder eine sonstige weitere Person wirken bei der Erziehung und Pflege der Töchter nicht mit. Sowohl die Klägerin selbst (in Bedarfsgemeinschaft mit Tochter A), als auch die Tochter B in Bedarfsgemeinschaft mit dem Enkelkind L erhielten fortlaufend vom Beklagten Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II. Einkünfte erzielte die Klägerin im streitgegenständlichen Leistungszeitraum nicht.

Ursprünglich hatte der Beklagte beide Töchter der Klägerin bei der Berechnung des Alleinerziehendenmehrbedarfs nach § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II berücksichtigt. Mit der Geburt des Enkelkindes L gewährte der Beklagte diese Leistungen für die Tochter B jedoch nicht mehr und bezog sich zur Begründung auf die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 21 SGB II, wonach mit der Geburt eines eigenen Kindes ausgeschlossen werden könne, dass die minderjährige Mutter selbst noch der Pflege und Erziehung durch die eigenen Eltern bedürfe. Der maßgebende Text der fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit laute: "Damit werden die tatsächlichen Lebensverhältnisse abgebildet. Es wird davon ausgegangen, dass ein Mehrbedarf wegen Alleinerziehung durch ein Kind, das selbst ein Kind hat, nicht mehr verursacht wird."

Für den hier streitgegenständlichen Leistungszeitraum 12/2012 bis 5/2013 bewilligte der Beklagte für die Klägerin daher mit den Bescheiden vom 7.11.2012 und 24.11.2012 neben den unstrittigen Leistungen für Unterkunft und Heizung nur den Regelbedarf in Höhe von 374,- EUR (für 12/2012) bzw. 382,- EUR monatlich (für 1/2013 bis 5/2013). Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.2.2013 zurück.

Die Klägerin hat fristgerecht am 14.3.2013 Klage erhoben. Sie zieht nicht in Zweifel, dass für die inzwischen volljährige Tochter A kein Mehrbedarf mehr zu gewähren sei. Für die Tochter B sei jedoch auch dann der Mehrbedarf zu gewähren, wenn diese selbst bereits ein eigenes Kind habe. Denn durch die Geburt des Enkelkindes habe sich an der alleinigen Betreuung der minderjährigen B und der Gestaltung der Lebensverhältnisse der Familie durch die Klägerin nichts geändert.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 7.11.2012 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 24.11.2012 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.2.2013 zu verurteilen, der Klägerin weitere Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II für den Monat Dezember 2012 in Höhe von 44,88 EUR und für die Monate Januar 2013 bis Mai 2013 in Höhe von monatlich 45,84 EUR (insgesamt für den gesamten streitgegenständlichen Leistungszeitraum 274,08 EUR) zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen und die Berufung zuzulassen.

Der Beklagte verteidigt die angegriffenen Bescheide und verweist auf die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage ist begründet, denn der Klägerin stehen weitere Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II in der tenorierten Höhe als sogenannter Alleinerziehendenmehrbedarf gemäß § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II zu. Streitgegenstand des Verfahrens sind ausschließlich die die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Mehrbedarfsleistungen, dagegen aber nicht die Leistungen für Unterkunft und Heizung. Auch nach dem Inkrafttreten des RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG (BGBl I 453, mWv 1.1.2011 bzw 1.4.2011) können die Streitgegenstände Streitgegenstände Regelbedarf sowie Bedarf für Unterkunft und Heizung getrennt verfolgt werden (BSG, Urteil vom 6.8.2014, B 4 AS 55/13 R, juris und BSG, Urteil vom 4.6.2014, B 14 AS 42/13 R, juris). Der Klägerin ist ein Mehrbedarf in Höhe von 12% der jeweils maßgebenden Regelleistung zu gewähren, weil sie gemäß § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II mit einem minderjährigen Kind über 7 Jahre in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebt und allein für dessen Pflege und Erziehung sorgt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm sind erfüllt. Die Zugehörigkeit des Kindes zur Bedarfsgemeinschaft der alleinerziehenden Mutter ist nicht Voraussetzung. Die Begriffe "Pflege" und "Erziehung" beschreiben die umfassende Verantwortung für die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes. Pflege konkretisiert die Sorge für das körperliche Wohl, Erziehung die Sorge für die seelische und geistige Entwicklung, die Bildung und Ausbildung der minderjährigen Kinder. Es geht um die gesamte Sorge für das Kind, mithin die Ernährung, Bekleidung, Gestaltung des Tagesablaufs und emotionale Zuwendung (vgl. BSG, Urteil vom 3.3.2009, B 4 AS 50/07 R, juris). Diese Sorge wird hier von der Klägerin getragen, obwohl ihre Tochter bereits selbst Mutter ist. Die vom Beklagten vorgenommene Würdigung, dass ein minderjähriges Kind, welches selbst schon Mutter ist, grundsätzlich keiner Pflege und Erziehung mehr bedürfe, welche den Anspruch auf Alleinerziehungsmehrbedarf für den zugehörigen Elternteil auslösen könnten, verfängt nach Auffassung der Kammer nicht. Ebenfalls unerheblich ist der konkret geleistete Pflege- und Betreuungsaufwand für B. Dies ergibt sich unter anderem aus dem aus der Entstehungsgeschichte herzuleitenden Zweck des Mehrbedarfs, für den inhaltlich an die entsprechende Vorschrift im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und deren Motive angeknüpft werden kann. Die Rechtfertigung jenes Mehrbedarfszuschlages im BSHG ergab sich nach den Materialien damals vor allem dadurch, dass Alleinerziehende wegen der Sorge für ihre Kinder weniger Zeit haben, preisbewusst einzukaufen sowie zugleich höhere Aufwendungen zur Kontaktpflege und zur Unterrichtung in Erziehungsfragen tragen müssen. Anders als noch das BSHG sieht das SGB II auch einen Mehrbedarf für Alleinerziehung für Kinder über 16 Jahre vor. Gleichwohl wird der Zweck des in § 21 Abs. 3 SGB II geregelten Mehrbedarfs in der Kommentarliteratur noch immer dahingehend beschrieben, den höheren Aufwand des Alleinerziehenden für die Versorgung und Pflege bzw. Erziehung der Kinder etwa wegen geringerer Beweglichkeit und zusätzlicher Aufwendungen für Kontaktpflege oder Inanspruchnahme von Dienstleistungen Dritter in pauschalierter Form auszugleichen (vgl nur Lang/Knickrehm in Eicher, SGB II, 2. Aufl 2013 § 21 RdNr 28); ein Argument, das bei Kindern über 16 Jahre schon rein tatsächlich wenig verfangen dürfte, weil Kinder zwischen 16 und 18 Jahren weder die Beweglichkeit des betreuenden Elternteils maßgeblich einschränken, noch Betreuung durch Babysitter in Anspruch nehmen. Der Gesetzgeber wollte ersichtlich gleichwohl - auch in Kenntnis der Selbständigkeit von Teenagern - einen pauschalen Mehraufwand bei Alleinerziehung durch eine pauschale Mehrleistung von Geld abgelten. Dieser gesetzgeberische Wille ist vom Gericht bei der Anwendung und Auslegung der Vorschrift zu beachten. Schon deswegen ist es fernliegend, einzelne Gruppen von Teenagern - hier die jungen Mütter - die im Haushalt eines allein erziehenden Elternteils leben, vom Gesetzeswort gleichermaßen auszunehmen und für diese pauschal zu unterstellen, dass sie grundsätzlich nicht mehr der Pflege und Erziehung bedürften. Auch der Gesetzeswortlaut stellt allein auf die Minderjährigkeit des Kindes ab, ohne dass eine Einschränkung wie etwa "ledig, ohne eigene Kinder" hinzugefügt worden wäre. Dass schließlich die Geburt eines eigenen Kindes kein maßgeblicher Anknüpfungspunkt sein kann, erhellt sich zusätzlich durch einen Blick ins Gesetz. Die Vorschriften über die elterliche Sorge werden durch die Geburt eines Enkelkindes nicht berührt, auch wird der Teenager hierdurch nicht ansatzweise einem Volljährigen gleichgestellt. Im Gegenteil ist für das minderjährige Enkelkind ein geeigneter, nämlich volljähriger Vormund zu bestellen während die Klägerin nach wie vor die personensorgeberechtigte Vertreterin ihrer Tochter bleibt. Schließlich zeigen auch Vorschriften der Jugendhilfe, die sich z.B. mit speziellen Wohngruppen für minderjährige Mütter befassen, dass hier weiterhin Erziehung an der jungen Mutter geleistet werden muss und soll – und nicht nur an deren Baby. Das Gesetz unterscheidet daher hinsichtlich der Fürsorgeverpflichtungen der Erziehungsberechtigten gegenüber Minderjährigen nicht danach, ob diese schon selbst Eltern sind, oder nicht. Weil damit der Alleinerziehungsmehrbedarf als pauschale Abgeltung eines pauschalen Aufwands konzipiert ist, und weil Eltern zur Unterstützung, Erziehung und Pflege ihres minderjährigen Nachwuchses gesetzlich verpflichtet sind, verbietet es sich nach Auffassung der Kammer, konkrete Feststellungen über den Umfang der im Einzelfall bei dem Jugendlichen noch erforderlichen Pflege- und Erziehungsmaßnahmen zu treffen. Es ist daher nach § 21 Abs. 3 SGB II schlicht zu unterstellen, dass jeder Minderjährige tatsächlich von irgendjemandem betreut und erzogen werden muss und auch wird. Wird diese Leistung von einer nach dem SGB II leistungsberechtigten Person allein erbracht, ist unabhängig von der konkreten Ausgestaltung dieses Betreuungsaufwands eine pauschale Abgeltung nach § 21 Abs. 3 SGB II zu gewähren. Dem Beklagten ist insoweit zwar zuzugeben, dass sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Kommentarliteratur stets die Formulierung verwendet wird, dass es "auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls ankomme", wenn festgestellt werden müsse, ob der Betreffende alleinerziehend sei. Dabei geht es jedoch gerade nicht um das Maß an Erziehung überhaupt und darum, wie selbständig der Teenager schon ist, sondern ausschließlich um die Frage, ob eine andere Person ebenfalls miterzieht und mitpflegt, mit der Konsequenz, dass die für die Alleinerziehung als typisch angesehenen Belastungen und damit das Bedürfnis für eine pauschalierte Entschädigung wegfallen. Eine Beweiserhebung darüber, ob ein 17jähriger Teenager etwa deswegen, weil er besonders selbständig und schlau, oder deswegen weil er selbst bereits Mutter ist, gar nicht mehr betreut und erzogen werden muss, scheidet dagegen aus. Es ist vielmehr weiterhin auch nach der Geburt von L davon auszugehen, dass die minderjährige B der Erziehung und Pflege bedarf und dass diese Betreuung durch die dem Haushalt vorstehende Klägerin geleistet wird. Dass die Klägerin nicht durch den anderen Elternteil oder eine weitere dritte Person bei der Erziehung ihrer Tochter B unterstützt wird, ist hingegen zwischen den Beteiligten unstrittig und bedarf deshalb keiner Beweisaufnahme. Der Anspruch besteht jeweils monatlich in Höhe von 12% der maßgebenden Regelleistung, also für den Monat Dezember 2012 in Höhe von 44,88 EUR und für die Monate Januar 2013 bis Mai 2013 in Höhe von monatlich 45,84 EUR. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits. Die Berufung war nicht zuzulassen, weil keiner der in § 144 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 genannten Zulassungsgründe vorliegt. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Die hier vorliegende Fallgestaltung kommt nur äußerst vereinzelt vor. Der Rechtsstreit ist nach den Ermittlungen der Kammer als Einzelfall am Sozialgericht Dresden zu bezeichnen. Rechtsprechung (zB in der Datenbank juris) gibt es allenfalls zu der häufiger interessierenden Frage, ob die Teenagermutter als alleinerziehend anzusehen ist, wenn die im gleichen Haushalt lebende Großmutter Unterstützung bei der Erziehung des (Enkel-)Kindes leistet. Dass die Bundesagentur für Arbeit meinte, diese Fallgestaltung gleichwohl zum Gegenstand von Verwaltungsvorschriften machen zu müssen, macht die Angelegenheit ebenfalls nicht grundsätzlich bedeutsam. Schließlich ist auch nicht zu erwarten, dass ein Berufungsverfahren zur Klärung einer allgemein interessierenden Rechtsfrage führen würde.
Rechtskraft
Aus
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