L 19 AS 1561/15 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 19 AS 2052/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1561/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 30.07.2015 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Antragstellers sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Aufforderung des Antragsgegners, einen Antrag auf vorgezogene Altersrente zu stellen.

Der am 00.00.1952 geborene Antragsteller bezog seit 1994 durchgehend Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe. Seit dem 01.01.2005 erhält der Antragsteller durchgehend zusammen mit seiner Ehefrau Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, zuletzt in Höhe von insgesamt 1.354,12 EUR monatlich.

Mit Schreiben vom 09.07.2014 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, bei der Deutschen Rentenversicherung Westfalen eine Rentenantrag zu stellen. Mit Bescheid vom 24.03.2015 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, einen Antrag auf Altersrente bis zum 10.04.2015 zu stellen. Der Antragsteller sei nach § 12a SGB II verpflichtet, eine vorgezogene Altersrente bei Erreichen des 63. Lebensjahres in Anspruch zu nehmen. Unter Abwägung aller Gesichtspunkte sei er zur Entscheidung gekommen, ihn zur Beantragung vorrangiger Leistungen aufzufordern. Er sei gehalten, wirtschaftlich und sparsam zu handeln. Der Antragsteller sei verpflichtet, die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen oder zu verringern. Es seien keine maßgeblichen Gründe ersichtlich, welche gegen die Beantragung einer vorgezogenen Altersrente sprächen. In Abwägung der Interessen des Antragstellers mit dem Interesse an wirtschaftlicher und sparsamer Verwendung von Leistungen nach dem SGB II sei dem Antragsteller die Beantragung der Leistungen zumutbar, da die Hilfebedürftigkeit beseitigt bzw. verringert werde. Bei seiner Ermessensentscheidung habe er die Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung geprüft, die nicht vorlägen. Auch wenn die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente eine finanzielle Einbuße beinhalte, könne nach Prüfung und Abwägung mit den Gründen der Unbilligkeitsverordnung in Verbindung mit §§ 12a, 5 Abs. 3 SGB II nicht auf eine vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente verzichtet werden.

Hiergegen legte der Antragsteller am 27.05.2015 Widerspruch ein. Er gab, dass ihm der Bescheid erst am 15.05.2105 zugegangen sei. Eine Begründung des Widerspruchs erfolgte nicht. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.06.2015 wies der Antragsgegner den Widerspruch als unbegründet zurück. Er führte u.a. aus, dass die Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung nicht erfüllt seien. Auch sonstige Gründe, die die Aufforderung als unbillig erscheinen ließen, lägen nicht vor und seien auch nicht vorgetragen worden. Die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente sei auch dann rechtmäßig, wenn der Bezug der geminderten Altersrente lediglich eine Minderung und nicht zum gänzlichen Wegfall der Hilfebedürftigkeit führe. Gerade bei langjährigem Hilfebezug, beim Antragsteller insgesamt ca. 17 Jahre, dürfte auch der ungeminderte Rentenanspruch nie zur Bedarfsdeckung ausreichen. In diesem Fall eine Unbilligkeit anzunehmen widerspräche dem gesetzlichen Regel-/Ausnahmeverhältnis. Damit würde eine Besserstellung von "Langzeitbeziehern" im Verhältnis zu kurzzeitigen Leistungsbeziehern geschaffen, bei denen die Inanspruchnahme der geminderten Altersrente in den meisten Fällen größere Auswirkungen haben dürfte. Zudem werde durch den aufstockenden Bezug von Leistungen nach dem SGB XII der geringe Fehlbetrag der Rente ohnehin durch entsprechende höhere SGB XII-Leistungen ausgeglichen. Nach Abwägung aller Umstände sei der Antragsteller zur Antragstellung bezüglich der Altersrente aufzufordern gewesen.

Hiergegen erhob der Antragsteller Klage.

Am 27.05.2015 hat der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs beantragt. Er hat gerügt, dass der Bescheid vom 24.03.2015 wegen eines Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig sei. Der Antragsgegner habe den Sachverhalt - Höhe der abschlagsfreien Rente und der die Höhe der vorgezogenen Nettoaltersrente - nicht ermittelt.

Durch Beschluss vom 30.07.2015 hat das Sozialgericht Dortmund den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung als unzulässig abgelehnt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 05.08.2015 zugestellten Beschluss hat Antragsteller am 04.09.2015 Beschwerde eingelegt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Dahinstehen kann, ob der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Aufforderung zur Rentenantragstellung i.S.v. § 12a SGB II vor Rentenantragstellung durch den Antragsgegner unstatthaft und damit unzulässig ist (bejahend: LSG NRW, Beschluss vom 10.07.2015 - L 7 AS 818/15 BER; verneinend: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.12.2014 - L 5 AS 2740/14 B ER).

Jedenfalls ist der Antrag unbegründet. Bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebende Wirkung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, die Wirkung des angefochtenen Bescheides (zunächst) zu unterbinden (Aussetzungsinteresse), mit dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners vorzunehmen. Dabei besteht ein Regel-Ausnahmeverhältnis. In der Regel überwiegt das Vollzugsinteresse des Antragsgegners. Die aufschiebende Wirkung der Klage ist anzuordnen, wenn das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt. Dies ist der Fall, wenn mehr gegen als für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes spricht.

Vorliegend überwiegt das Vollzugsinteresse des Antragsgegners das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn der Bescheid vom 24.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.06.2015 ist nicht zu beanstanden.

Rechtsgrundlage für die hier streitige Aufforderung des Antragsgegners an den Antragsteller, eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, ist § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II. Danach können die Leistungsträger nach diesem Buch einen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen, wenn der Leistungsberechtigte einen solchen Antrag trotz Aufforderung nicht selbst stellt. Auch die Aufforderung zur Stellung des Rentenantrags steht im Ermessen des Leistungsträgers (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15 R; Beschluss des Senats vom 26.01.2015 - L 19 AS 1969/14 B - m.w.N.).

§ 5 Abs. 3 S. 1 SGB II setzt dabei eine Pflicht des Leistungsberechtigten zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen - hier der Rente - voraus. Diese bereits zuvor in §§ 5,7, und 9 SGB II vorausgesetzte Pflicht zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen wird durch § 12a SGB II konkretisiert (vgl. BT-Drs. 16/7460 S 12 zu § 12a). § 12a SGB II betrifft unter Berücksichtigung von § 65 Abs. 4 SGB II alle Leistungsberechtigten, die nach dem 01.01.2008 das 58. Lebensjahr vollendet haben und damit nicht mehr in den Genuss der sog. 58er-Regelung kommen (vgl. Beschluss des Senats vom 22.05.2013 - L 19 AS 291/13 B ER m.w.N.). Gemäß § 12a S. 1 und S. 2 Nr. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres gilt dies aber nicht für eine vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente. Auch nach Vollendung des 63. Lebensjahres muss eine Rente ausnahmsweise dann nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden, wenn dies eine "Unbilligkeit" auf Grundlage von § 13 Abs. 2 SGB II der mit Wirkung ab dem 01.01.2008 erlassenen Unbilligkeitsverordnung darstellt. Nach der gesetzlichen Konzeption stellt die Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente den Grundsatz und die fehlende Pflicht bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres bzw. bei Unbilligkeit die Ausnahme dar (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15 R).

Die Voraussetzungen der Pflicht zur vorzeitigen Rentenantragstellung sind vorliegend erfüllt. Der Antragsteller hat am 21.05.2012 (also nach dem 01.01.2008) das 58. Lebensjahr und am 21.05.2015 das 63. Lebensjahr vollendet. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist gescheitert. Nach derzeitiger Aktenlage liegt kein Fall von §§ 2 - 5 Unbilligkeitsverordnung vor. Dies wird auch vom Antragsteller nicht geltend gemacht.

Die Aufforderung eines Leistungsberechtigten zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente nach §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II steht im Ermessen des Leistungsträgers. Der Antragsgegner hat das ihm eingeräumte Ermessen erkannt und ermessensfehlerfrei ausgeübt. Bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung hat ein Gericht nur zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (BSG Urteile vom Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15 R und vom 09.11.2010 - B 2 U 10/10 R - SozR 4-2700 § 76 Nr 2 m.w.N.). Ein Ermessensnichtgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung liegt hier nicht vor. Ebenso ist kein Ermessenfehlgebrauch erkennbar. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt der Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn sie nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Ein Ermessensmissbrauch ist nicht ersichtlich. Auch liegt kein Abwägungsdefizit vor. Nach der Konzeption des § 12a SGB II entspricht es dem pflichtgemäßen Ermessen des Leistungsträgers, im Regelfall von der Ermächtigung zur Aufforderung zur Antragstellung Gebrauch zu machen. Relevante Ermessensgesichtspunkte können deshalb nur solche sein, die einen atypischen Fall begründen, in dem vom gesetzlichen Regelfall der Aufforderung zur Antragstellung zur Durchsetzung der Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen abzusehen ist. Es kommen nur besondere Härten im Einzelfall in Betracht, die keinen Unbilligkeitstatbestand i.S.d. Unbilligkeitsverordnung begründen, aber die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente aufgrund außergewöhnlicher Umstände als unzumutbar erscheinen lassen (BSG, Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15). Allein die Tatsache, dass der Bezug einer vorzeitigen Altersrente mit dauerhaften Rentenabschlägen verbunden ist und der Rentenabschlag ggfls. eine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII verursachen kann, begründet keine besondere Härte (BSG, Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15). Andere Umstände, die einen Fall der besonderen Härte begründen könnten, sind nach Aktenlage nicht ersichtlich und vom Antragsteller auch nicht vorgetragen worden. Der Antragsteller hat weder im Verwaltungsverfahren noch im Widerspruchsverfahren Gesichtspunkte vorgetragen, die gegen die Verpflichtung zur Antragstellung sprechen.

Die Regelungen des § 12a SGB II und der Unbilligkeitsverordnung sind verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt. Die Rechtsverfolgung bietet aus den obigen Gründen keine hinreichende Erfolgsaussicht i.S.v. § 73a Abs. 1 S. 1 SGG, 114 ZPO.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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