S 16 SB 190/15

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
16
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 16 SB 190/15
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Einzelfall der Feststellung eines GdB´s von 40 für Diabetes mellitus.
1) Die Klage wird abgewiesen. 2) Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Höhe des bei dem am xx.xx.1962 geborenen Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB). Auf Antrag vom 13.11.2014 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 06.01.2015 bei dem Kläger einen GdB von 40 fest. Auf den am 09.01.2015 eingegangenen Widerspruch des Klägers erging am 25.03.2015 ein zurückweisender Widerspruchsbescheid. Die Behörde erkannte als Beeinträchtigung eine Diabeteserkrankung mit dem genannten Einzel-GdB an. Mit der am 08.04.2015 eingegangenen Klage verfolgt der Kläger das Ziel, einen höheren GdB festgestellt zu erhalten weiter. Er stellt sinngemäß den Antrag,den Beklagten, in Abänderung des Bescheides vom 06.01.2015, in Gestalt des Widerspruchsbescheides des kommunalen Sozialverbandes Sachsen vom 25.03.2015 zu verpflichten, einen GdB von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, Klageabweisung,

da die behördlichen Entscheidungen auch im gegenwärtigen Zeitpunkt die beim Kläger vorhandenen Beeinträchtigungen zutreffend und umfassend festgestellt und gewürdigt hätten. Das Gericht hat weitere Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt. Wegen der Einzelheiten, insbesondere wegen der Inhalte der Befundberichte und der versorgungsmedizinischen Stellungnahmen, wird auf den Akteninhalt einschließlich des Inhaltes der der zur Sachverhaltsaufklärung beigezogenen Verwaltungsakte, insbesondere auf die erwähnten Bescheide und Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe:

1) Eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ist nach erfolgter Anhörung der Parteien zulässig, da der Sachverhalt genügend geklärt ist, insbesondere hat auch das Bundessozialgericht keine Bedenken gegen eine Entscheidung aufgrund von Befunden und/oder versorgungsmedizinischen Stellungnahmen (vergl.: BSG B 9 SB 2/12 R; B 9 SB 3/12 R) und die Sach- und Rechtslage weder in tatsächlicher, noch in rechtlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten bereitet (§ 105 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

2) Die zulässige Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist nicht begründet, da die Behörde in den angefochtenen Bescheiden zutreffend die beim Kläger vorhandenen Behinderungen festgestellt und den GdB zutreffend ermittelt hat, so dass der Kläger nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Gegenstand des Verfahrens sind die im Antrag des Klägers genannten Bescheide. Das Begehren des Klägers ergibt sich aus der Klagebegründung vom 14.04.2015. Rechtsgrundlage für die Feststellung von Behinderungen und des Grades der Behinderung ist § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB-IX). Gem. § 69 SGB-IX hat die Behörde auf einen entsprechenden Antrag des Behinderten das Vorliegen einer Behinderung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB-IX und den Grad der Behinderung – nach Zehnergraden abgestuft und nur soweit ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt – in einem Bescheid festzustellen. Gemäß § 2 Abs. 1 S.1 SGB-IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Bei der Bewertung des GdB sind nach § 69 Abs. 3 SGB-IX die Auswirkungen sämtlicher Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zu betrachten. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen wird ein Grad der Behinderung nur für den Gesamtzustand der Behinderung festgestellt, nicht aber für die jeweiligen einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen (vergl.: BSG RVs 15/95). Gem. § 69 Abs. 4 SGB-IX stellt die Behörde zudem fest, ob die notwendigen Voraussetzungen zur Vergabe etwaiger Nachteilsausgleiche (Merkzeichen) vorliegen. Dabei gilt der Grundsatz der sogenannten objektiven Beweislast (LSG Chemnitz - L 6 SB 11/04), d. h. wenn sich nicht mit Sicherheit, d. h. zweifelsfrei feststellen lässt, dass die genannten Voraussetzungen vorhanden sind, ist der Antrag abzulehnen. Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verteidigung am 10.12.2008 die Versorgungsmedizinverordnung – VersMedV - (BGBl. I S. 2412) mit deren Anlage zu § 2 - "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG), zuletzt geändert durch die "Fünften Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizinverordnung" vom 11.10.2012, auf der Grundlage des § 30 Abs. 17 BVG mit Wirkung zum 01.01.2009 erlassen. Die darin aufgeführten GdB-Werte beruhen auf neuesten medizinischen Erkenntnissen. Sie sollen einen Anhalt zur Ermittlung des GdB und zur Auslegung des § 2 SGB IX bilden. Die VMG dienen somit der gleichmäßigen Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Schwerbehindertenrechts wie dies zuvor die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" (AHP) – getan haben. Die VMG haben, wie schon die AHP, den Charakter eines antizipierten Sachverständigengutachtens (BSG B 9 SB 3/09 R). Beim Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen ist zu berücksichtigen, dass zwar Einzelgrade anzugeben sind, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB für alle Funktionseinschränkungen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen und auch andere Rechenmethoden für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet sind. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen untereinander (VMG, A. 3). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad bedingt und dann im Hinblick auf alle weitern Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichteren Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VMG, A. 3d.ee). Bei Einzel-GdB´s von 20 im unteren Bereich ist es in der Regel nicht gerechtfertigt, eine Erhöhung des GdB´s vorzunehmen (LSG Essen, L 6 SB 187/09, LSG Halle L 7 SB 106/07). Stehen zwei einzelne Leiden beziehungslos nebeneinander, ohne dass sie sich durch Wechselwirkungen verstärken, etwa eine Wirbelsäulenerkrankung und eine chronische Bronchitis, ist bei der Bildung des Gesamt-GdB, ausgehend vom höchsten Einzel-GdB, keine Erhöhung über diesen Einzel-GdB hinaus gerechtfertigt (LSG Berlin-Brandenburg, L 13 SB 85/08). Bei der Bildung des Gesamt-GdB´s ist ferner zu berücksichtigen, dass bei mehreren geringen Einzel-GdB´s ein Gesamt-GdB von 50 beispielsweise nur dann angenommen werden kann, wenn die Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich ist wie etwa beim Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel, bei einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, bei Herz-Kreislaufschäden oder Einschränkungen der Lungenfunktion mit nachgewiesener Leistungsbeeinträchtigung bereits bei leichter Belastung, oder bei Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung (vergl.: Schleswig-Holsteinisches LSG L 2 SB 5/08). Das Gericht weist an dieser Stelle klarstellend ausdrücklich darauf hin, dass es im Schwerbehindertenrecht nicht um die Feststellung von Erkrankungen geht, sondern ausschließlich um die objektivierte, d. h. nachgewiesene - nicht subjektiv empfundene - Feststellung von Beeinträchtigungen in der Lebensführung. Die Grundsätze nach denen im Schwerbehindertenrecht die Anerkennung der Höhe des GdB´s erfolgt sind zudem mit den Grundsätzen nach denen beispielsweise im Renten- oder Unfallrecht die Höhe einer Erwerbsminderung (MdE) festzustellen ist, nicht vergleichbar. Verwertbar sind allerdings die in entsprechenden Verfahren möglicherweise getroffenen medizinischen Tatsachenfeststellungen. Das Gericht weist auch darauf hin, dass es um die Feststellung von Beeinträchtigungen in einer das alterstypische Ausmaß übersteigender Höhe geht (§ 2 Abs. 1 SGB-IX), d. h., altersbedingte Leistungseinschränkungen sind bei der Bemessung des GdB´s grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Ebenso wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es auf Einschränkungen des Freizeitvergnügens oder der gefühlten Lebensqualität im Schwerbehindertenrecht überhaupt nicht ankommt, ebenso nicht auf Erschwernisse im Berufsalltag. Bewertet werden im Schwerbehindertenrecht ausschließlich die objektiv feststellbaren Funktionseinschränkungen der Glieder oder Organe und deren funktionelle Auswirkungen. Mögliche bereits jetzt abzusehende Verschlechterungen des Gesundheitszustandes bleiben demnach unberücksichtigt, solange sie sich nicht realisiert haben. Auch sei darauf hingewiesen, dass es sich bei der Bestimmung der Einzel- und des Gesamt-GdB´s um eine juristische und nicht um eine medizinische Frage handelt die dem Gericht obliegt (vergl. z. B.: BSG B 9 SB 35/10 B; B 9 SB 2/12 R; B 9 SB 2/13 R). Die Anwendung dieser Grundsätze auf den hier zur Entscheidung anstehenden Einzelfall ergibt, dass die behördlichen Entscheidungen zutreffend waren. Voranzustellen ist, dass der Kläger lediglich seine Diabeteserkrankung als Beeinträchtigung angibt und auch als behandelnde Ärztin nur seine Diabetologin angibt. Hinwiese auf weitere möglicherweise relevante und zu Beeinträchtigungen führen könnende Erkrankungen sind den Befunden, einschließlich des ausführlichen Reha-Berichts der F. Klinik nicht zu entnehmen.

Die beim Kläger festgestellte Diabeteserkrankung führt "nur" zur Feststellung eines GdB´s von 40.

Das Bundessozialgericht hat in der bereits erwähnten Entscheidung B 9 SB 2/13R u. a. folgendes ausgeführt, wobei der im Versorgungsrecht verwendete Begriff des Grades der Schädigung (GdS) dem GdB im Schwerbehindertenrecht entspricht: "Die danach allein maßgebende Rechtsgrundlage hat folgenden Wortlaut:

15.1 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus).

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0. Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20. Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40.

Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50. Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.

Was den entscheidungserheblichen Lebenssachverhalt angeht, bleibt es demgegenüber dabei, dass der tatsächliche Verlauf der Funktionsstörungen infolge des Diabetes mellitus im gesamten Zeitraum seit dem 4.10.2001 zu berücksichtigen ist. Denn die Verpflichtungsklage des Klägers ist nicht nur in die Zukunft gerichtet, sondern erstreckt sich auch auf die Feststellung eines (höheren) GdB für die Vergangenheit. Dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ist indes mit (noch) hinreichender Klarheit zu entnehmen, dass insofern keine wesentlichen Veränderungen eingetreten sind. Die tatsächlichen Feststellungen zu den eingetretenen Teilhabebeeinträchtigungen beziehen sich auf den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum.

Für die hier streitige Feststellung eines GdB von (mindestens) 50 enthält Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV drei Beurteilungskriterien: täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte. Diese Kriterien sind nach Auffassung des Senats nicht jeweils gesondert für sich genommen starr anzuwenden; vielmehr sollen sie eine sachgerechte Beurteilung des Gesamtzustands erleichtern (so schon BSG Urteil vom 25.10.2012 - B 9 SB 2/12 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 16 RdNr 34).

Das LSG hat die beiden erstgenannten, auf den Therapieaufwand bezogenen Beurteilungskriterien als erfüllt angesehen. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts einzuwenden. Zu Recht geht das Berufungsurteil weiter davon aus, dass dies allein nicht ausreicht, um den GdB mit (mindestens) 50 festzustellen. Vielmehr muss die betreffende Person durch Auswirkungen des Diabetes mellitus auch insgesamt gesehen erheblich in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sein. Der Senat hat bereits in mehreren Entscheidungen ausführlich dargelegt und begründet, dass und warum es sich hierbei trotz des insoweit missverständlichen Wortlauts des letzten Teilsatzes von Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV um eine zusätzlich zu erfüllende Anforderung handelt (zuletzt im Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - Juris RdNr 39 ff mwN; siehe auch Urteil vom 25.10.2012 - B 9 SB 2/12 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 16 RdNr 37 ff mit insoweit zustimmender Anm Wendtland, SGb 2013, 647, 653 f). Das kommt bereits durch die Verwendung des Wortes "und" deutlich zum Ausdruck. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber, der ausdrücklich an die vorausgegangene Senatsrechtsprechung angeknüpft hat (siehe BR-Drucks 285/10 S 3), davon ausgegangen ist, dass bei einem entsprechenden Therapieaufwand immer eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung vorliegt. Zudem ist für die Beurteilung des GdB bei Diabetes mellitus auch die jeweilige Stoffwechsellage bedeutsam (vgl Teil B Nr 15.1 Abs 3 AnlVersMedV; grundlegend BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 40). Der darin zum Ausdruck kommende Therapieerfolg kann aber nur im Rahmen der Prüfung des dritten Merkmals (gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung) berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund hat das LSG ohne durchgreifenden Rechtsfehler verneint, dass der Kläger durch erhebliche Einschnitte gravierend in seiner Lebensführung beeinträchtigt ist. Bei der insoweit erforderlichen am Einzelfall orientierten Beurteilung, die alle die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinflussenden Umstände berücksichtigt, lässt sich bei dem Kläger auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die der Senat mangels entsprechender Verfahrensrügen gebunden ist (§ 163 SGG), keine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung konstatieren.

Allerdings teilt der Senat nicht die Auffassung des LSG, eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung iS von Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV komme aus Rechtsgründen nur in Betracht, wenn die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führenden erheblichen Einschnitte mindestens zwei verschiedene Lebensbereiche betreffen. Dagegen spricht schon der Wortlaut der genannten Norm, der eine solche differenzierende Betrachtungsweise nicht nahelegt. Auch in der Begründung der Neufassung wird lediglich beispielhaft auf verschiedene Bereiche hingewiesen (Planung des Tagesablaufs, Gestaltung der Freizeit, Zubereitung der Mahlzeiten, Berufsausübung und Mobilität; vgl BR-Drucks 285/10 S 3). Schließlich gebietet auch die Vereinbarkeit der Regelung mit höherrangigem Recht ein weiteres Verständnis, das eine Gesamtbetrachtung der Teilhabebeeinträchtigung ermöglicht. Denn schon die gesetzliche Vorschrift, die die Maßstäbe für die Feststellung des GdB enthält (vgl den Verweis in § 69 Abs 1 S 5 SGB IX aF), gibt vor, dass die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen "in allen Lebensbereichen" zu ermitteln und zu berücksichtigen sind (§ 30 Abs 1 BVG). Auch der in § 2 Abs 1 S 1 SGB IX definierte Begriff der Behinderung setzt nur voraus, dass die "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" in irgendeiner Form beeinträchtigt ist - ohne dass nach einzelnen Bereichen differenziert würde. Dies entspricht der Finalität des modernen Behinderungsbegriffs (vgl dazu BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 20, 30 ff; Wendtland, SGb 2010, 373, 378). Schließlich hält der Senat den Lösungsansatz des LSG auch nicht für praktikabel, weil keine rechtlichen Maßstäbe für die Abgrenzung von "Lebensbereichen" existieren. Dem Gebot der Rechtssicherheit wäre nur Genüge getan, wenn sich nach abstrakten, vorhersehbaren Kriterien bestimmen ließe, ob etwa die oben aus der Verordnungsbegründung zitierten Aktivitäten jeweils eigene Lebensbereiche darstellen oder nicht. Dazu verhält sich das Berufungsurteil nicht; es stellt der Berufsausübung nur noch den Oberbegriff "Freizeit- bzw. Mobilitätsbereich" gegenüber. Bei der demnach anzustellenden Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche lässt sich eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung nur unter strengen Voraussetzungen bejahen (aA wohl Wendtland, SGb 2013, 647, 654). Das zeigt sich schon an der Formulierung der Vorschrift, die eine für einen Normtext seltene Häufung einschränkender Merkmale enthält (erheblich, gravierend, ausgeprägt). In diesem Zusammenhang hat der Beklagte zu Recht auf die Systematik der Regelung der Teil B Nr 15.1 AnlVersMedV hingewiesen, die diese Wortwahl erklärt. Dem Verordnungsgeber ging es ersichtlich darum, mit jedem Absatz eine Steigerung der Anforderungen zu verdeutlichen (der auf der Rechtsfolgenseite jeweils ein höherer GdB gegenübersteht). Weiterhin lässt sich aus dem oben dargestellten Zusammenspiel der drei Beurteilungskriterien der Teil B Nr 15.1 Abs 4 AnlVersMedV ableiten, dass die mit der dort vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte nicht geeignet sind, eine zusätzliche ("und") gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. Berücksichtigungsfähig ist daher nur ein dieses hohe Maß noch übersteigender, besonderer Therapieaufwand. Daneben kann - wie oben ausgeführt - ein unzureichender Therapieerfolg die Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung rechtfertigen. Schließlich sind auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten." Unter Beachtung dieser Grundsätze ist beim Kläger kein GdB von mehr als 40 festzustellen. Fest steht, aufgrund des Befundberichtes, des weiteren Akteninhalts und des Vortrages des Klägers, dass dieser an Diabetes mellitus leidet.

Er führt eine Insulintherapie mit den häufig verordneten Medikamenten Humalog und Levemir durch. Bei Humalog handelt es sich, wie dem Gericht aus den im Internet abrufbaren Produktinformationen und aus einer Anzahl von ähnlichen Verfahren bekannt ist, um ein schnell wirkendes Insulin, dass in der Regel vor Mahlzeiten eingenommen wird, während es sich bei Levemir um ein sogenanntes Basisinsulin handelt, dass eine Wirkdauer von bis zu 12 Stunden hat.

Nach den Angaben des behandelnden Diabetologen, sowie des Klägers in seiner Klagebegründung, sowie dem Reha-Bericht muss sich der Kläger fünf bis siebenmal täglich Insulin injizieren, wobei er die Dosis mindestens viermal selbständig variieren muss. Der Kläger trägt dazu ergänzend vor, dass er die Zeiten der Injektion des Basisinsulins einhalten müsse. Nach den Angaben der Diabetologin seien die Dosierungen manchmal schwierig, da der Kläger intensiv Sport betreibe.

Der HbA1c-Wert sei mäßig schwankend und liege bei ca. 5,8. Der Zustand des Klägers sei im Wesentlichen unverändert. Zu (vom Kläger) mitgeteilten oder ärztlich dokumentierten Hypoglykämien sei es bislang nicht gekommen, auch wegen der intensiven Befassung des Klägers mit der Erkrankung.

Auch der Kläger trägt nichts zu Hypoglykämien vor, wegen derer eine Fremdhilfe erforderlich gewesen sei.

Der vom Kläger übersandte Ausdruck des Diabetikertagebuchs für die Monate Februar bis Juni 2015 - der Kläger hat nicht vorgetragen, dass sich die Werte verändert haben – sind täglich sieben Messungen zu entnehmen, nämlich jeweils vor und nach den Mahlzeiten und seine abendliche Spätmessung. Auch die selbständige Ermittlung der Brot- (BE) und Kohlenhydrateinheiten (KE), sowie die Anpassung der Injektionen sind dokumentiert. Lediglich zwischen dem 30.03. und dem 05.04.2015 sind "nur" fünf tägliche Messungen dokumentiert, was jedoch für nicht entscheidungserheblich ist.

Es sind insgesamt 989 Messungen erfasst. Von diesen ergaben 23 Messungen Werte von über 8,0 HbA1c, davon 5 Messungen Werte von über 10 HbA1c.

Im Hinblick auf Hypoglykämien weist das Gericht darauf hin, dass man darunter eine Absenkung der Blutglukose-Konzentration unter den physiologischen Normwert von 60 mg/dl oder 3,3 mmol/l versteht, wobei allerdings kein allgemeiner Grenzwert zur Hypoglykämie anzunehmen ist. Nach Pschyrembel Klinisches Wörterbuch (259. Auflg.) wird bei Erwachsenen ein Grenzwert von 2,8 mmol/l angenommen. Messungen mit Erreichen bzw. Unterschreitung dieses Grenzwertes erfolgten am 30.05.2015 mit 2,1 mmol/l, am 31.05.2015 und am 21.06.2015 mit 2,8 mmol/l.

Eine Fremd-, insbesondere (Not-) ärztliche Hilfehilfe war aber, wie dargelegt, nicht erforderlich, so dass das Kriterium einer schweren Hypoglykämie nicht erfüllt ist, denn solche sind nur, wie der amtlichen Begrünung zur zweiten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 14. Juli 2010 (BGBl. 2010, 928) zu entnehmen ist, Hypoglykämien die invasive, d. h. ärztliche Maßnahmen erfordert haben. Soweit der Kläger vorträgt, er müsse seine Freizeitaktivitäten und den Tagesablauf nach den Mahlzeiten planen sind dies zwar Erschwernisse, jedoch sind solche Erschwernisse vom jeweiligen GdB erfasst, wie sich aus den Ausführungen des Bundessozialgerichts ergibt, das besonders einschneidende Beeinträchtigungen verlangt um einen GdB von mehr als 40 festzustellen, wie sich aus den zitierten Passagen der Entscheidung ergibt. Eine weniger strenger Auslegung würde auch den Grundsätzen der VMG widersprechen, wenn man bedenkt, dass bei Amputation eines Beines im Unterschenkel bei Funktionstüchtigkeit des Gelenke und des Stumpfes, sowie bei Amputation einer Hand auch "nur" ein GdB von 50 festzustellen ist.

Erschwernisse, die einen höheren GdB als 40 ergeben könnten wären zum Beispiel eine aus therapeutischen Gründen erforderliche, das übliche Ausmaß einer Freizeit- oder aus Gründen der Fitness nicht unwesentlich übersteigende sportlichen Betätigung, oder die dauerhafte medizinische Erforderlichkeit von regelmäßigen und wiederholten Messungen des Blutzuckergehalts während der Nacht, so dass eine ungestörte Nachtruhe nicht möglich wäre (vergl.: SG Chemnitz S 34 SB 333/09). Derartig schwerwiegende Einschränkungen sind weder ersichtlich, auch im beruflichen Bereich nicht, noch vorgetragen. Es verbleibt daher beim GdB von 40.

3) Die Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit der außergerichtlichen notwendigen Kosten folgt aus § 193 SGG. Die Entscheidung ergeht unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstandes im Zeitpunkt der Entscheidung nach billigem Ermessen, ohne dass das Gericht an die Anträge der Parteien gebunden ist (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflg., § 193 Anm. 13).

Da der Kläger in der Sache unterlegen ist, entspricht es der Billigkeit, dass er seine notwendigen außergerichtlichen Kosten selbst trägt
Rechtskraft
Aus
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