L 7 AS 41/16 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 AS 3828/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 41/16 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 43 Abs. 1 SGB I setzt einen Zuständigkeitskonflikt zwischen verschiedenen örtlich zuständigen Trägern voraus.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 7. Dezember 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist das Begehren des Antragstellers, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm aufgrund seines Weiterbewilligungsantrags vom 24. September 2015 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab dem 1. Oktober 2015 zu bewilligen.

Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1 a.a.O., für Vornahmesachen in Abs. 2 a.a.O. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.). Nach § 86b Abs. 4 SGG sind die Anträge nach den Absätzen 1 und 2 schon vor Klageerhebung zulässig.

Hinsichtlich der begehrten vorläufigen Leistungsgewährung kommt allein der Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG in Betracht. Der Erlass einer Regelungsanordnung gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt zunächst die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs voraus. Die Begründetheit des Antrags wiederum hängt vom Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ab (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Eine einstweilige Anordnung darf nur erlassen werden, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Dabei betrifft der Anordnungsanspruch die Frage der Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs, während der Anordnungsgrund nur bei Eilbedürftigkeit zu bejahen ist. Die Anordnungsvoraussetzungen, nämlich der prospektive Hauptsacheerfolg (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund), sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung), wobei im Fall der Bestandskraft eines Bescheides an den Anordnungsgrund besonders strenge Anforderungen zu stellen sind und dieser nur bei einer massiven Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Existenz vorliegen kann (Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rdnr. 29c). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 a.a.O. und vom 17. August 2005 a.a.O.).

Soweit der Antragsteller Leistungen für die Zeit vor Beantragung einstweiligen Rechtsschutzes am 18. November 2015 geltend macht, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund. Eine einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bedarf eines Gegenwartsbezugs im Sinne einer aktuellen Notlage, also einer besonderen Dringlichkeit des Rechtsschutzbegehrens. Einen Ausgleich für Rechtsbeeinträchtigungen in der Vergangenheit herbeizuführen ist grundsätzlich nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes; eine derartige Entscheidung hat vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten bleiben. Das gilt namentlich für Leistungen, die für einen Zeitraum vor dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes begehrt werden (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 86b Rdnr. 35a (m.w.N.)). Denn die Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG dient der Abwendung wesentlicher Nachteile mit dem Ziel, dem Betroffenen die Mittel zur Verfügung zu stellen, die zur Behebung aktueller - noch bestehender - Notlagen notwendig sind (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. etwa Senatsbeschluss vom 28. März 2007 - L 7 AS 1214/07 ER-B - (juris)). Aus dem Gegenwartsbezug der einstweiligen Anordnung folgt, dass dieser vorläufige Rechtsbehelf für bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung zurückliegende Zeiträume nur ausnahmsweise in Betracht kommt; es muss durch die Nichtleistung in der Vergangenheit eine Notlage entstanden sein, die bis in die Gegenwart fortwirkt und den Betroffenen in seiner menschenwürdigen Existenz bedroht. Einen derartigen "Nachholbedarf" hat der Antragsteller nicht dargetan und erst recht nicht glaubhaft gemacht.

Auch für die Zeit ab Antragstellung, somit ab dem 18. November 2015, hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch gegen den Antragsgegner glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II gegen den Antragsgegner setzt voraus, dass dieser örtlich zuständig ist. Nach § 36 Abs. 1 und 2 SGB II ist für die Leistungen nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB II die Agentur für Arbeit zuständig, in deren Bezirk die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Für die Leistungen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II ist der kommunale Träger zuständig, in dessen Gebiet die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) definiert auch für den Bereich des SGB II (vgl. § 37 SGB I) allgemein den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts. Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sind in erster Linie die mit einem zeitlichen Moment verbundenen tatsächlichen Umstände maßgebend. Darüber hinaus können auch subjektive Vorstellungen der Leistungsberechtigten berücksichtigt werden. Eine Person begründet dann den gewöhnlichen Aufenthalt, wenn sie den Willen hat, diesen Ort oder dieses Gebiet bis auf Weiteres (zukunftsoffen), also nicht nur vorübergehend oder besuchsweise, zum Mittelpunkt der Lebensbeziehungen zu machen und diesen Willen auch verwirklicht, wobei immer die tatsächlichen Gegebenheiten maßgeblich sind (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 23. Mai 2012 - B 14 AS 190/11 R - juris). Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben hat der Antragsteller jedenfalls in der Zeit ab November 2015 keinen gewöhnlichen Aufenthalt an seinen bisherigen Wohnort mehr. Denn er hat seine Wohnung in der E. Straße in B. zum 31. Oktober 2015 gekündigt und damit zum Ausdruck gebracht, dass er nicht weiter beabsichtige, dort zu wohnen. Soweit der Antragsteller im Beschwerdeschreiben hierzu vorgetragen hat, er sei nicht ausgezogen, da er derzeit noch Miete zahle und sich seine Wertgegenstände ebenfalls noch in der Wohnung befänden, ist dies unbeachtlich, da er gleichzeitig vorgetragen hat, in der bisherigen Wohnung nicht mehr wohnen zu wollen. Hierbei unbeachtlich ist, dass der bisherige Vermieter noch nicht die Wohnungsgeberbestätigung nach § 19 Bundesmeldegesetz (BMG) ausgestellt hat.

Darüber hinaus liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Antragsteller auch bereits seit längerem nicht mehr an seinem bisherigen Wohnort aufgehalten hat. Hierfür sprechen die im Verfahren vor dem SG vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für Zeiten ab Mai 2015, die von Ärzten in P. und H. ausgestellt worden sind. Auch zu einer persönlichen Vorsprache beim Antragsgegner am 3. Dezember 2015 ist der Antragsteller aus P. angereist, wie seinem Antrag auf Übernahme der Fahrtkosten entnommen werden kann. Sowohl P. als auch H. liegen nicht im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners.

Auch nach seinem eigenen Vortrag hält sich der Antragsteller zwischenzeitlich nicht mehr an seinem bisherigen Wohnort, sondern bei Freunden in P. bzw. H. auf. So hat er in der Beschwerdeschrift vom 2. Januar 2016 als Anschrift T. in H. angegeben.

Dahin gestellt bleiben kann, ob der Kläger an seinem derzeitigen Aufenthaltsort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, da er jedenfalls am bisherigen Wohnsitz keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr hat. Denn nach § 36 Satz 4 SGB II ist, wenn ein gewöhnlicher Aufenthaltsort nicht festgestellt werden kann, der Träger nach diesem Buch örtlich zuständig, in dessen Bereich sich die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält.

Es ist schließlich derzeit auch kein Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 43 Abs. 1 SGB I glaubhaft gemacht. Besteht danach ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang nach pflichtgemäßen Ermessen bestimmt. Er hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags. Ein Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 43 SGB I setzt nämlich voraus, dass ein Zuständigkeitskonflikt zwischen verschiedenen örtlich zuständigen Trägern besteht. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn der Antragsteller sein Begehren auf einen bestimmten Träger der Grundsicherung bzw. eine gemeinsame Einrichtung beschränkt und behauptet, in dessen bzw. deren Bezirk seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu haben. Kann die Richtigkeit dieser Behauptung nicht festgestellt werden, geht dies zu Lasten des Antragstellers, mit der Folge, dass die beantragten Leistungen wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit der angegangenen Stelle abzulehnen sind (Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Juni 2010 - L 6 AS 872/10 B - juris; Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, Stand 11. Januar 2016, § 36 Rdnr. 28). Erforderlich ist demnach ein Zuständigkeitskonflikt zwischen verschiedenen Stellen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antragsteller an seinen nunmehrigen Aufenthaltsort Leistungen nach dem SGB II beantragt hat. Dies hat er weder vorgetragen noch sind sonst Anhaltspunkte hierfür ersichtlich. Ein Anspruch gegen den Antragsgegner ist auch nicht unter Zugrundelegung von § 2 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) glaubhaft gemacht. Hat danach die örtliche Zuständigkeit gewechselt, muss die bisher zuständige Behörde die Leistungen noch solange erbringen, bis sie von der nunmehr zuständigen Behörde fortgesetzt werden. Diese Regelung setzt jedoch einen laufenden Leistungsbezug voraus. Sie findet Anwendung bei abgeschlossenem Verwaltungsverfahren, in dem bereits über die Leistungsgewährung entschieden wurde (Engelmann in von Wulffen, SGB X, § 2 Rdnr. 13). Sie ist dagegen - wie vorliegend - nicht anwendbar, wenn über Leistungen in einem neuen Bewilligungszeitraum zu entscheiden ist und gerade im Streit steht, ob die angegangene Behörde noch örtlich zuständig ist.

Schließlich steht einem Leistungsanspruch die Regelung des § 7 Abs. 4a SGB II entgegen. Danach erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte keine Leistungen, wenn sie sich ohne Zustimmung des zuständigen Trägers nach diesem Buch außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufhalten und deshalb nicht für die Eingliederung in Arbeit zur Verfügung stehen. Diese Regelung ist vorliegend einschlägig, da der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, dass er sich im zeit- und ortsnahen Bereich des Antragsgegners aufgehalten hat bzw. aufhält. Im zeit- und ortsnahen Bereich hält sich nach der insoweit noch heranzuziehenden Erreichbarkeitsanordnung (vgl. Thie in LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 7 Rdnr. 6) auf, wer in der Lage ist, unverzüglich Mitteilungen eines Leistungsträgers persönlich zur Kenntnis zu nehmen, den Leistungsträger aufzusuchen, mit einem möglichen Arbeitgeber oder Träger einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme in Verbindung zu treten und bei Bedarf persönlich mit diesem zusammentreffen und eine vorgeschlagene Arbeit anzunehmen oder an einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme teilzunehmen. Danach muss der erwerbsfähige Leistungsberechtigte sicherstellen, dass ihn der Leistungsträger persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Diese Voraussetzungen sind beim Antragsteller nicht erfüllt, da er von seinem derzeitigen Aufenthaltsort, sei er in H. oder P., nicht mit den ihm zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln den Antragsgegner ohne unzumutbaren Aufwand, d.h. in weniger als 75 Minuten einfache Fahrstrecke (vgl. hierzu LSG Bayern, Urteil vom 16. Januar 2013 - L 11 AS 583/10 - juris), erreichen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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