Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 30 SB 246/99
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 SB 20/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31. Mai 2000 abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 21. Juli 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09. August 1999 verurteilt, bei dem Kläger ab Juli 1999 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) festzustellen. Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in allen Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der 1953 geborene Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Bei ihm sind wegen der Gesundheitsstörungen "Spastische Beinlähmung mit operierten Spitzklumpfuß, Schwerhörigkeit beiderseits, Fehlstellung und Verschleißleiden der Lendenwirbelsäule" ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Gehbehinderung), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festgestellt (Bescheid vom 02.07.1999).
Den Antrag des Klägers vom Juli 1999, darüber hinaus auch den Nachteilsausgleich "aG" festzustellen, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 ab. Das Sozialgericht Düsseldorf hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 31.05.2000). Der Senat hat die Berufung des Klägers nach Einholung eines Gutachtens von dem Chefarzt des Instituts für Neurologie/Psychiatrie der Kliniken St B in W, Dr. W, nebst ergänzender Stellungnahme (25.09.2000 bzw. 30.10.2000) und nach mündlicher Befragung des Sachverständigen zurückgewiesen (Urteil vom 14.03.2001). Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, dass der Kläger nicht den in den einschlägigen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften (§ 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, Nr. 11 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Straßenverkehrsordnung vom 20.07.1976 (VV)) beispielhaft aufgeführten Gruppen von Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung gleichzustellen sei. Trotz erheblicher Beeinträchtigungen könne er sich nämlich - wenn auch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt - über eine Wegstrecke von 30 Metern ausreichend sicher zu Fuß fortbewegen, um sodann nach einer Gehpause seinen Weg wieder aufzunehmen.
Auf die Revision des Klägers hat das Bundessozialgericht (BSG) das Urteil des Senats aufgehoben und den Rechtsstreit zurückverwiesen (Urteil vom 10.12.2002). In den Entscheidungsgründen heißt es u.a.:
"Die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen jedoch nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich (insbesondere Parkerleichterungen) auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt.
Der Kläger gehört danach zum berechtigten Personenkreis, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Die erste Voraussetzung erfüllt der Kläger, denn nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen vermag er sich nur mit Gehstock und orthopädischen Schuhen und auch dann nur noch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortzubewegen. Ob dies mit entsprechend großen körperlichen Anstrengungen verbunden ist, lässt sich den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen jedoch nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, zumal das LSG bei seiner Beurteilung von anderen rechtlichen Kriterien ausgegangen ist.
Da der erkennende Senat die nach alledem noch erforderliche ergänzende Sachverhaltsaufklärung im Revisionsverfahren nicht nachholen kann (vgl. § 163 SGG), ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Dieses wird davon ausgehen können, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen. Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung dürfte gegeben sein, wenn der Kläger die von ihm nach 30 Metern einzulegende Pause deshalb macht, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann."
Der Kläger trägt vor, die von ihm spätestens nach 30 m einzulegende Pause müsse er deshalb machen, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft sei und neue Kräfte sammeln müsse, bevor er weitergehen könne.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31.05.2000 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 21.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 zu verurteilen, ab Juli 1999 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" ("außergewöhnliche Gehbehinderung") festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, bei der erforderlichen Anstrengung müsse es sich um eine solche handeln, die über die übliche Anstrengung von Personen hinausgehe, die auf das Schwerste in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt seien. Der Kläger müsse nach der Wegstrecke von 30 m völlig erschöpft sein und einen längeren Zeitraum benötigen, um wieder zu Kräften zu kommen, bevor er weitergehe. Ein erhöhter Puls und verstärkten Schwitzen reichten insoweit nicht als Indiz aus. Diese belegten lediglich eine gewisse körperliche Anstrengung, jedoch keine Erschöpfung.
Der Senat hat ein weiteres Gutachten von Dr. W nebst ergänzender Stellungnahme eingeholt (Gutachten vom 02.07.2003, Stellungnahme vom 28.08.2003). Der Sachverständige sieht die vom BSG nunmehr aufgestellten Anforderungen als erfüllt an.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die Akten des SG Düsseldorf, S 30 SB 272/96 und S 30 SB 321/98, Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand mündlicher Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist begründet.
Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 21.07.1999 und 09.08.1999 beschwert. Ausgehend von der - geänderten - Rechtsauffassung des BSG hat er nunmehr Anspruch darauf, dass bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" ab Antrag festgestellt werden. Nach der den Senat bindenden rechtlichen Beurteilung des BSG (§ 170 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) sind diese Voraussetzungen erfüllt, wenn
a) die Gehfähigkeit des Klägers in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und b) er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen.
Zu a)
Die Gehfähigkeit des Klägers ist in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt. Dies folgt daraus, dass das BSG diese Voraussetzung deswegen als gegeben ansieht, weil der Kläger sich nur noch mit Gehstock und orthopädischen Schuhen und auch nur noch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortbewegen kann.
Zu b)
Das BSG hat die zweite Voraussetzung wie folgt präzisiert: Es könne davon ausgegangen werden, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen; die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung dürfte regelmäßig dann gegeben sein, wenn der Kläger die nach 30 Metern einzulegende Pause deshalb mache, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft sei und neue Kräfte sammeln müsse, bevor er weitergehen könne.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger sich nur unter "ebenso großen körperlichen Anstrengungen" fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen. Dies folgt aus den überzeugenden und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dr. W. Der Sachverständige hat dargelegt, dass sich die bis zu einer Sitzpause mögliche maximale Gehstrecke auf 36 Meter bei einer Schrittlänge von 15 und 25 cm mit einem Schritt pro Sekunde beläuft. Für diese Wegstrecke benötigt der Kläger einschließlich zweier Stehpausen von 15 Sekunden infolge erkennbarer körperlicher Erschöpfung insgesamt 2 Minuten und 15 Sekunden. Ein Gesunder kann diese Strecke demgegenüber in 20 Sekunden zurücklegen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen trat während der Steh- und Sitzpausen ein verstärktes Schwitzen auf. Zudem war Pulsfrequenz auf 144/Minute bei einem Ruhepuls von 92/Minuten erhöht.
Auch soweit das BSG postuliert, die Pause müsse infolge Erschöpfung eingelegt werden, ist das der Fall.
Zwar verweist der Sachverständige darauf, dass objektivierbare Gesichtspunkte, die eine Erschöpfung und die Notwendigkeit einer Erholungspause nach ca. 30 m Wegstrecke sicher belegen, auf der Grundlage üblicher klinischer Untersuchungen in der Regel nicht festgestellt werden können; auch sei ein subjektiver Faktor beim Entschluss, eine Steh- bzw. Sitzpause während des Gehens einzulegen, nicht auszuschließen. Objektives Kriterium einer Erschöpfung wären eine völlige Kreislaufdekompensation, eine hochgradige Atemnot oder der Verlust der Steh- und Gehfähigkeit mit Hinstürzen. Zur weiteren Objektivierung des Untersuchungsergebnisses käme ggf. ergänzend eine Laufbandbelastung einschließlich Atem- und Herzfunktionsprüfung während der Belastung in Betracht.
Die von dem Sachverständigen aufgezeigten Probleme, Beeinträchtigungen zu objektivieren, sind aber im Rahmen einer medizinischen Begutachtung kein Einzelfall und erfordern zumindest dann, wenn bereits bei der üblichen klinischen Untersuchung ein schlüssiges und überzeugendes Ergebnis festgestellt werden kann, keine weitergehenden Ermittlungen. Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall, in dem selbst eine Laufbandbelastung einschließlich Atem- und Herzfunktionsprüfung während der Belastung schon insoweit keinen weiteren Aufschluss geben kann, als wissenschaftliche Ergebnisse z.B. aufgrund von Reihenuntersuchungen bei dem in der VV genannten Personenkreis als "objektive" Vergleichswerte nicht zur Verfügung stehen.
Entscheidend ist vorliegend der klinische Gesamteindruck, der sich mit den - in Ermangelung jeglicher entgegenstehender objektiver Gesichtspunkte - zu Grunde zulegenden Angaben des Klägers zu dem Ausmaß seiner Belastung bei der Fortbewegung und den zur sicheren Feststellung ausreichenden medizinischen Befunden deckt.
Unter Berücksichtigung der anamnestischen Daten sowie der deutlich erhöhten Pulsfrequenz trotz zweier Stehpausen ist der Senat mit dem Sachverständigen der Überzeugung, dass der Kläger sich beim Gehen regelmäßig besonders anstrengen muss und er nach spätestens 30 Metern so erschöpft ist, dass er eine Pause machen muss, um Kräfte zu sammeln, bevor er weitergehen kann.
Soweit der Beklagte dem entgegenhält, bei der erforderlichen Anstrengung müsse es sich um eine solche handeln, die über die "übliche" Anstrengung von Personen hinausgehe, die auf das Schwerste in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt sind, folgt der Senat dem nicht. Der Auffassung des Beklagten liegt zugrunde, dass er meint, die nach 30 Metern einzulegende Pause müsse erforderlich sein, weil der Kläger völlig erschöpft sei und einen längeren Zeitraum benötige, um wieder zu Kräften zu kommen, um weitergehen zu können. Dem steht bereits entgegen, dass diese restrikive Interpretation durch die Ausführungen des BSG nicht gedeckt wird. Hiernach kommt es nur darauf an, dass der Betreffende die nach 30 Metern einzulegende Pause infolge Erschöpfung machen muss, um neue Kräfte zu sammeln. Auf die Intensität der Erschöpfung und die Länge des Erholungszeitraums kommt es grundsätzlich nicht an. Im Übrigen ergibt sich angesichts des Maßstabs "ebenso", dass die Anstrengung (nur) ein vergleichbares Niveau erreichen muss, wie die des in der VV genannten Personenkreises. Auch insoweit ist keine völlige Erschöpfung zu verlangen. Denn eine solche ist regelhaft nur dann anzunehmen, wenn z.B. der Kreislauf des Betreffenden dekompensiert, er unter hochgradiger Atemnnot leidet oder er infolge der Auswirkungen der außergewöhnlichen Anstrengung seine Steh- und Gehfähigkeit verliert. Indessen können die Anspruchsvoraussetzungen auch dann vorliegen, wenn die Anstrengung nicht zu derartigen Extremfolgen führt, da es sich dabei nicht um die üblichen Begleiterscheinungen bei der Fortbewegung der Personen handelt, die in der VV genannt sind. Auch dieser Personenkreis wird versuchen, die Belastung zu reduzieren oder völlig einzustellen, wenn sich derart gravierende Folgen andeuten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Tatbestand:
Der 1953 geborene Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Bei ihm sind wegen der Gesundheitsstörungen "Spastische Beinlähmung mit operierten Spitzklumpfuß, Schwerhörigkeit beiderseits, Fehlstellung und Verschleißleiden der Lendenwirbelsäule" ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Gehbehinderung), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festgestellt (Bescheid vom 02.07.1999).
Den Antrag des Klägers vom Juli 1999, darüber hinaus auch den Nachteilsausgleich "aG" festzustellen, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 ab. Das Sozialgericht Düsseldorf hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 31.05.2000). Der Senat hat die Berufung des Klägers nach Einholung eines Gutachtens von dem Chefarzt des Instituts für Neurologie/Psychiatrie der Kliniken St B in W, Dr. W, nebst ergänzender Stellungnahme (25.09.2000 bzw. 30.10.2000) und nach mündlicher Befragung des Sachverständigen zurückgewiesen (Urteil vom 14.03.2001). Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, dass der Kläger nicht den in den einschlägigen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften (§ 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, Nr. 11 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Straßenverkehrsordnung vom 20.07.1976 (VV)) beispielhaft aufgeführten Gruppen von Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher Gehbehinderung gleichzustellen sei. Trotz erheblicher Beeinträchtigungen könne er sich nämlich - wenn auch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt - über eine Wegstrecke von 30 Metern ausreichend sicher zu Fuß fortbewegen, um sodann nach einer Gehpause seinen Weg wieder aufzunehmen.
Auf die Revision des Klägers hat das Bundessozialgericht (BSG) das Urteil des Senats aufgehoben und den Rechtsstreit zurückverwiesen (Urteil vom 10.12.2002). In den Entscheidungsgründen heißt es u.a.:
"Die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen jedoch nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich (insbesondere Parkerleichterungen) auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt.
Der Kläger gehört danach zum berechtigten Personenkreis, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Die erste Voraussetzung erfüllt der Kläger, denn nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen vermag er sich nur mit Gehstock und orthopädischen Schuhen und auch dann nur noch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortzubewegen. Ob dies mit entsprechend großen körperlichen Anstrengungen verbunden ist, lässt sich den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen jedoch nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, zumal das LSG bei seiner Beurteilung von anderen rechtlichen Kriterien ausgegangen ist.
Da der erkennende Senat die nach alledem noch erforderliche ergänzende Sachverhaltsaufklärung im Revisionsverfahren nicht nachholen kann (vgl. § 163 SGG), ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Dieses wird davon ausgehen können, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen. Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung dürfte gegeben sein, wenn der Kläger die von ihm nach 30 Metern einzulegende Pause deshalb macht, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann."
Der Kläger trägt vor, die von ihm spätestens nach 30 m einzulegende Pause müsse er deshalb machen, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft sei und neue Kräfte sammeln müsse, bevor er weitergehen könne.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31.05.2000 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 21.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.1999 zu verurteilen, ab Juli 1999 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" ("außergewöhnliche Gehbehinderung") festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, bei der erforderlichen Anstrengung müsse es sich um eine solche handeln, die über die übliche Anstrengung von Personen hinausgehe, die auf das Schwerste in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt seien. Der Kläger müsse nach der Wegstrecke von 30 m völlig erschöpft sein und einen längeren Zeitraum benötigen, um wieder zu Kräften zu kommen, bevor er weitergehe. Ein erhöhter Puls und verstärkten Schwitzen reichten insoweit nicht als Indiz aus. Diese belegten lediglich eine gewisse körperliche Anstrengung, jedoch keine Erschöpfung.
Der Senat hat ein weiteres Gutachten von Dr. W nebst ergänzender Stellungnahme eingeholt (Gutachten vom 02.07.2003, Stellungnahme vom 28.08.2003). Der Sachverständige sieht die vom BSG nunmehr aufgestellten Anforderungen als erfüllt an.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die Akten des SG Düsseldorf, S 30 SB 272/96 und S 30 SB 321/98, Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand mündlicher Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist begründet.
Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 21.07.1999 und 09.08.1999 beschwert. Ausgehend von der - geänderten - Rechtsauffassung des BSG hat er nunmehr Anspruch darauf, dass bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" ab Antrag festgestellt werden. Nach der den Senat bindenden rechtlichen Beurteilung des BSG (§ 170 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) sind diese Voraussetzungen erfüllt, wenn
a) die Gehfähigkeit des Klägers in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und b) er sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen.
Zu a)
Die Gehfähigkeit des Klägers ist in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt. Dies folgt daraus, dass das BSG diese Voraussetzung deswegen als gegeben ansieht, weil der Kläger sich nur noch mit Gehstock und orthopädischen Schuhen und auch nur noch schleppend, watschelnd, kleinschrittig und deutlich verlangsamt fortbewegen kann.
Zu b)
Das BSG hat die zweite Voraussetzung wie folgt präzisiert: Es könne davon ausgegangen werden, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen; die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung dürfte regelmäßig dann gegeben sein, wenn der Kläger die nach 30 Metern einzulegende Pause deshalb mache, weil er bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft sei und neue Kräfte sammeln müsse, bevor er weitergehen könne.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger sich nur unter "ebenso großen körperlichen Anstrengungen" fortbewegen kann, wie die in der VV genannten Personen. Dies folgt aus den überzeugenden und schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dr. W. Der Sachverständige hat dargelegt, dass sich die bis zu einer Sitzpause mögliche maximale Gehstrecke auf 36 Meter bei einer Schrittlänge von 15 und 25 cm mit einem Schritt pro Sekunde beläuft. Für diese Wegstrecke benötigt der Kläger einschließlich zweier Stehpausen von 15 Sekunden infolge erkennbarer körperlicher Erschöpfung insgesamt 2 Minuten und 15 Sekunden. Ein Gesunder kann diese Strecke demgegenüber in 20 Sekunden zurücklegen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen trat während der Steh- und Sitzpausen ein verstärktes Schwitzen auf. Zudem war Pulsfrequenz auf 144/Minute bei einem Ruhepuls von 92/Minuten erhöht.
Auch soweit das BSG postuliert, die Pause müsse infolge Erschöpfung eingelegt werden, ist das der Fall.
Zwar verweist der Sachverständige darauf, dass objektivierbare Gesichtspunkte, die eine Erschöpfung und die Notwendigkeit einer Erholungspause nach ca. 30 m Wegstrecke sicher belegen, auf der Grundlage üblicher klinischer Untersuchungen in der Regel nicht festgestellt werden können; auch sei ein subjektiver Faktor beim Entschluss, eine Steh- bzw. Sitzpause während des Gehens einzulegen, nicht auszuschließen. Objektives Kriterium einer Erschöpfung wären eine völlige Kreislaufdekompensation, eine hochgradige Atemnot oder der Verlust der Steh- und Gehfähigkeit mit Hinstürzen. Zur weiteren Objektivierung des Untersuchungsergebnisses käme ggf. ergänzend eine Laufbandbelastung einschließlich Atem- und Herzfunktionsprüfung während der Belastung in Betracht.
Die von dem Sachverständigen aufgezeigten Probleme, Beeinträchtigungen zu objektivieren, sind aber im Rahmen einer medizinischen Begutachtung kein Einzelfall und erfordern zumindest dann, wenn bereits bei der üblichen klinischen Untersuchung ein schlüssiges und überzeugendes Ergebnis festgestellt werden kann, keine weitergehenden Ermittlungen. Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall, in dem selbst eine Laufbandbelastung einschließlich Atem- und Herzfunktionsprüfung während der Belastung schon insoweit keinen weiteren Aufschluss geben kann, als wissenschaftliche Ergebnisse z.B. aufgrund von Reihenuntersuchungen bei dem in der VV genannten Personenkreis als "objektive" Vergleichswerte nicht zur Verfügung stehen.
Entscheidend ist vorliegend der klinische Gesamteindruck, der sich mit den - in Ermangelung jeglicher entgegenstehender objektiver Gesichtspunkte - zu Grunde zulegenden Angaben des Klägers zu dem Ausmaß seiner Belastung bei der Fortbewegung und den zur sicheren Feststellung ausreichenden medizinischen Befunden deckt.
Unter Berücksichtigung der anamnestischen Daten sowie der deutlich erhöhten Pulsfrequenz trotz zweier Stehpausen ist der Senat mit dem Sachverständigen der Überzeugung, dass der Kläger sich beim Gehen regelmäßig besonders anstrengen muss und er nach spätestens 30 Metern so erschöpft ist, dass er eine Pause machen muss, um Kräfte zu sammeln, bevor er weitergehen kann.
Soweit der Beklagte dem entgegenhält, bei der erforderlichen Anstrengung müsse es sich um eine solche handeln, die über die "übliche" Anstrengung von Personen hinausgehe, die auf das Schwerste in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt sind, folgt der Senat dem nicht. Der Auffassung des Beklagten liegt zugrunde, dass er meint, die nach 30 Metern einzulegende Pause müsse erforderlich sein, weil der Kläger völlig erschöpft sei und einen längeren Zeitraum benötige, um wieder zu Kräften zu kommen, um weitergehen zu können. Dem steht bereits entgegen, dass diese restrikive Interpretation durch die Ausführungen des BSG nicht gedeckt wird. Hiernach kommt es nur darauf an, dass der Betreffende die nach 30 Metern einzulegende Pause infolge Erschöpfung machen muss, um neue Kräfte zu sammeln. Auf die Intensität der Erschöpfung und die Länge des Erholungszeitraums kommt es grundsätzlich nicht an. Im Übrigen ergibt sich angesichts des Maßstabs "ebenso", dass die Anstrengung (nur) ein vergleichbares Niveau erreichen muss, wie die des in der VV genannten Personenkreises. Auch insoweit ist keine völlige Erschöpfung zu verlangen. Denn eine solche ist regelhaft nur dann anzunehmen, wenn z.B. der Kreislauf des Betreffenden dekompensiert, er unter hochgradiger Atemnnot leidet oder er infolge der Auswirkungen der außergewöhnlichen Anstrengung seine Steh- und Gehfähigkeit verliert. Indessen können die Anspruchsvoraussetzungen auch dann vorliegen, wenn die Anstrengung nicht zu derartigen Extremfolgen führt, da es sich dabei nicht um die üblichen Begleiterscheinungen bei der Fortbewegung der Personen handelt, die in der VV genannt sind. Auch dieser Personenkreis wird versuchen, die Belastung zu reduzieren oder völlig einzustellen, wenn sich derart gravierende Folgen andeuten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
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