S 8 AS 312/16 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 AS 312/16 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Keine vorläufige Leistungseinstellung gerechtfertigt bei offener Bedürftigkeitsprüfung
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verurteilt, den Antragstellerinnen die mit Bescheid vom 17. Dezember 2015 bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit einem monatlichen Abzug von 40 EUR weiterhin zu erbringen.
2. Im Übrigen wird der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt.
3. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen zu erstatten.

Gründe:

I. Die Antragstellerinnen (Ast) begehren im Wege der einstweiligen Anordnung weiterhin laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II).

Die 1982 geborene Antragstellerin zu 1 (Ast 1) wohnt zusammen mit ihrer 2010 geborenen Tochter, der Antragstellerin zu 2 (Ast 2). Beide sind deutsche Staatsangehörige und beziehen seit längerem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Antragsgegner (Ag). Zuletzt wurden den Ast mit Bescheid vom 17. Dezember 2015 Leistungen für die Zeit vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2016 in Höhe von 912,40 EUR für April und von 919 EUR für Mai und Juni 2016 bewilligt. Dabei wurde für die Ast 1 ein Mehrbedarf für Alleinerziehende sowie bei der Ast 2 Kindergeld von 190 EUR monatlich und Unterhaltsvorschussleistungen von 145 EUR monatlich berücksichtigt.

Mitte März teilte die Ast 1 dem Ag mit, dass ihr 1987 geborener Ehemann, ein US-amerikanischer Staatsangehöriger und Vater der Ast 2, der Mitglied der amerikanischen Streitkräfte (gewesen) sein soll, bei ihnen eingezogen sei.

Die Ast wurden sodann vom Ag aufgefordert, ab April 2016 einen Weiterbewilligungsantrag zu stellen. Außerdem wurde ihnen mitgeteilt, dass die Leistungen ab April 2016 vorläufig eingestellt werden. Bei einer Vorsprache am 22. März 2016 sind vom Ag zudem verschiedenen Unterlagen zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen angefordert worden, die noch nicht vorgelegt wurden.

Ebenfalls am 22. März 2016 hat sich die Ast 1 an das Sozialgericht Augsburg gewandt und für sich und die Ast 2 einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Ursprünglich seien ihnen Leistungen bis Juni 2016 bewilligt worden. Diese seien nun entzogen worden. Die Entscheidung über die Weiterbewilligung der Leistungen solle vier bis sechs Wochen dauern. Sie habe kein Geld und keine finanziellen Reserven und müsse den Lebensunterhalt für sich und ihren Mann bestreiten. Zudem sei die Miete fällig.

Für die Antragstellerin wird beantragt (sinngemäß):

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen.

Für den Antragsgegner wird beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die angeforderten Unterlagen seien zur Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Ehemanns der Ast 1 notwendig und lägen bisher nicht vor. Ohne die Unterlagen könne keine Entscheidung bezüglich eines Leistungsanspruchs ab April 2016 getroffen werden.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

II.

Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren der Ast nach einstweiliger Weiterzahlung der bereits bewilligten Leistungen. Für den Ehemann der Ast 1 ist kein Antrag gestellt worden, weder ausdrücklich noch so, dass dies aus dem Vorbringen zu schließen wäre. Dass die mit Bescheid vom 17. Dezember 2015 bis einschließlich Juni 2016 bewilligten Leistungen so weiter erbracht werden sollen, entnimmt das Gericht der Antragsbegründung, zumal dieses Begehren auch interessengerecht ist.

Der so verstandene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.

Zugunsten der Ast geht das Gericht davon aus, dass für die Ast 2 wirksam einstweiliger Rechtsschutz beantragt werden konnte. Im Hinblick auf die Regelung des § 1629 Abs. 1 Satz 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nimmt das Gericht an, dass - jedenfalls für das vorliegende Verfahren - die Ast 1 ihre Tochter alleine vertreten kann.

Ferner handelt es sich nicht um einen Fall des § 86b Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), also einen Fall, in dem Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben und in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft wäre. Die vorläufige Zahlungseinstellung nach § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II, § 331 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III) stellt keinen Verwaltungsakt im Sinn des § 31 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) dar. Denn dabei wird gerade kein Bescheid erteilt und der Betroffene kann sich gegen die einstweilige Zahlungseinstellung mittels isolierter Leistungsklage wenden (vgl. BayLSG, Beschluss vom 15. Juli 2015, L 11 AS 353/15 B ER).

Der Antrag hat in der Sache zum größten Teil Erfolg.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der Antragsteller das Bestehen eines zu sichernden Anspruchs, den sogenannten Anordnungsanspruch, sowie die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den sogenannten Anordnungsgrund, glaubhaft macht, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 der Zivilprozessordnung (ZPO). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist somit, dass dem Antragsteller ohne eine entsprechende Regelung schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage ist. Eine solche Eilbedürftigkeit liegt nur dann vor, wenn dem Antragsteller ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann (Anordnungsgrund) und wenn ihm aufgrund der glaubhaft gemachten Tatsachen bei summarischer Prüfung der Rechtslage ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Handlung bzw. Unterlassung zusteht (Anordnungsanspruch). Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, sondern es besteht zwischen ihnen eine Wechselbeziehung in dem Sinne, dass sich die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit und Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) verringern und umgekehrt. Denn Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (vgl. HessLSG, Beschluss vom 27. März 2009, L 3 U 271/08 B ER).

Nach diesen Maßstäben liegen Anordnungsanspruch und -grund vor und es ist eine einstweilige Regelung gerechtfertigt.

Ein Anordnungsanspruch ergibt sich aus der Leistungsbewilligung an die Ast mit Bescheid vom 17. Dezember 2015. Diese reicht noch bis Juni 2016 und ist nicht aufgehoben oder abgeändert worden.

Für das Gericht ist es wenigstens offen, eher fraglich, ob die Voraussetzungen für die vom Ag vorgenommene einstweilige Zahlungseinstellung gegeben sind. Derzeit ist es lediglich so, dass unklar ist, ob und über welches Einkommen und Vermögen der Ehemann des Ast 1 verfügt. Eine noch offene Situation stellt aber keine Tatsachen dar, welche zu einem geringeren Leistungsanspruch führen. Es ist eben noch nicht nachgewiesen oder zumindest wahrscheinlich, dass die Bedürftigkeit der Ast im Sinn des SGB II ganz oder zum Teil entfallen ist. Das wird vielmehr weiter zu ermitteln sein. Dass die Ast 2 bislang Unterhaltsvorschussleistungen bezogen hat, kann auch so gedeutet werden, dass ihr Vater unterhaltsrechtlich nicht leistungsfähig war. Das wiederum würde gegen relevante Mittel zur Verringerung der Bedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft sprechen.

Im Rahmen des summarischen Verfahrens ist weiter nicht anzunehmen, dass Leistungen an die Ast aufgrund von Art. 13 Abs. 1 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen (NATO-TrStatZAbk, Gesetz vom 18. August 1961, BGBl. II, S. 1183) ausgeschlossen sind. Zum einen geht das Gericht davon aus, dass der Ehemann der Ast 1 seit der Übersiedlung nach Deutschland nicht mehr Mitglied der amerikanischen Streitkräfte ist. Zum anderen hat der Ag den Ast als Angehörigen auch bislang trotzdem Leistungen bewilligt.

Der Anordnungsgrund ist ebenfalls zu bejahen, da es sich um existenzsichernde Leistungen handelt und den Ast außer dem Kindergeld und - soweit noch geleistet - dem Unterhaltsvorschuss aktuell keine Einnahmen zur Verfügung stehen.

Sein Regelungsermessen gemäß § 86b Abs. 2 SGG übt das Gericht dahin aus, dass der Ag verurteilt wird, die mit Bescheid vom 17. Dezember 2015 bewilligten Leistungen vorläufig weiterhin zu erbringen. Allerdings erscheint ein Abschlag von 40 EUR monatlich angezeigt, weil nach dem Einzug des Ehemanns der Ast 1 die Unterkunftskosten nunmehr zu dritteln sind. Der Wegfall des Mehrbedarfs für Alleinerziehende wird durch den zu erwartenden Wegfall der Unterhaltsvorschussleistungen aufgewogen. Ein weiterer Abschlag ist nicht angezeigt, weil zumindest nach dem Vortrag der Ast 1 diese auch für ihren Mann aufkommen muss.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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