S 31 AS 47/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 31 AS 47/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Kläger begehren von dem Beklagten die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ein-schließlich Kosten der Unterkunft.

Der am geborene Kläger zu 1) und die am geborene Klägerin zu 2) sind Eheleute. Der am geborene Kläger zu 3) und der am geborene Kläger zu 4) sind die Söhne der Kläger zu 1) und 2) und besuchen die Haupt¬schule. Die Kläger sind rumänische Staatsangehörige. Sie reisten am 30.09.2008 in die Bundes-republik ein. Dem Kläger zu 1) wurde am 24.06.2009 eine Frei¬zügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) erteilt.

Einen Antrag der Kläger auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II lehnte der Beklagte mit bindendem Bescheid vom 01.12.2009 ab. In der Folgezeit lebten die Kläger von Einkünften, die die Kläger zu 1) und 2) durch den Verkauf der Obdachlosenzeitung "Fifty-Fifty" in Düsseldorf erzielten, von dem für die Kläger zu 3) und 4) gezahlten Kindergeld sowie den Leistungen karitativer Einrichtungen (Diakonie, Tafel e.V. Gelsenkirchen).

Mit Bescheid vom 19.10.2010 lehnte der Beklagte den erneuten Antrag der Kläger auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab. Zur Begründung führte er aus, die ge-setzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen lägen nicht vor, weil sie le¬diglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland hätten. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Wider¬spruchsbescheid vom 16.12.2010 als unbegründet zurück.

Die Kläger beantragten bei dem erkennenden Gericht am 17.12.2010 den Erlass einer einstweiligen Anordnung die unter dem Aktenzeichen S 31 AS 2710/10 ER geführt und mit Beschluss vom 09.02.2011 abgelehnt wurde. Zur Begründung führte das Gericht aus, die hiesigen Kläger seien vom Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausgeschlos-sen, weil sie Ausländer mit dem alleinigen Aufenthaltszweck der Arbeitssuche seien. Ein gemeinschaftsrechtliches Freizügigkeitsrecht ergebe sich nicht aus dem Verkauf der Ob-dachlosenzeitung, weil dies keine Tätigkeit sei, deren Ausübung eine Verknüpfung zum Arbeitsmarkt herstelle. Gegen den Beschluss des Sozialgerichts legten die Kläger Be-schwerde beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) ein, welche unter dem Aktenzeichen L 6 AS 356/11 B ER geführt wurde.

Die Kläger haben am 10.01.2011 Klage erhoben, mit welcher sie ihr Begehren weiterver-folgen. Sie sind der Ansicht, ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II bestehe. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greife nicht.

Auf die Beschwerde der Kläger hat das LSG NRW (Aktenzeichen L 6 AS 356/11 B ER) den Beschluss des erkennenden Gerichts geändert und den Beklagten verpflichtet, den Klägern vorläufig bis zur Bestandskraft des angefochtenen Bescheides vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010, längstens bis zum 17.11.2011 Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes unter Berücksichtigung des an den Kläger zu 3) gezahlten Kindergeldes sowie Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu gewähren. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sei nicht abschließend zu klären, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greife. Es bestünden erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar sei. Eine Folgenabwägung falle angesichts der schwierigen und komplexen Rechtsfragen unter Berücksichtigung drohender existenzieller Nachteile zu Gunsten der hiesigen Kläger aus.

Die Kläger haben am 07.11.2011 erneut Leistungen nach dem SGB II beantragt. Der Be-klagte lehnte dies mit Bescheid vom 15.11.2011 mit der Begründung ab, die Vorausset-zungen des Leistungsanspruches seien nicht erfüllt, da die Kläger zu 1) und 2) sich lediglich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhielten. Mit Beschluss vom 15.12.2011 hat das erkennende Gericht den Antrag der Kläger auf Erlass einer einstweili-gen Anordnung (Aktenzeichen S 31 AS 2709/11 ER) abgelehnt. Gegen den Beschluss des Sozialgerichts haben die Kläger Beschwerde beim LSG NRW (Aktenzeichen L 7 AS 37/12 B ER und L 7 AS 38/12 B) eingelegt. Auf die Beschwerde der Kläger hat das LSG NRW den Beschluss des erkennenden Gerichts geändert und den Beklagten verpflichtet, den Klägern vorläufig für die Zeit vom 23.11.2011 bis zum 30.06.2012 die Regelbedarfe nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, ob dem Anspruch der Kläger der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entgegenstehe, könne im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden. Der kategorische Leistungsausschluss begegne unter Berücksichtigung des primären EU-Rechts erheblichen Bedenken. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung sei eine tatsächliche Verbindung der Kläger zu 1) und 2) zum Arbeitsmarkt als glaubhaft gemacht anzusehen. Ein Anordnungsgrund hinsichtlich der Kosten der Unterkunft sei in Ermangelung einer drohenden Wohnungs- und Obdachlosigkeit nicht glaubhaft gemacht.

Den gegen den Bescheid vom 15.11.2011 eingelegten Widerspruch hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2011 als unbegründet zurückgewiesen. Die hiergegen bei dem erkennenden Gericht eingelegte Klage wird unter dem Aktenzeichen S 31 AS 2852/11 geführt. Mit Zustimmung der Beteiligten ist das Ruhen des Verfahrens bis zum Abschluss des hiesigen Verfahrens angeordnet worden.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010 zu verurteilen, ihnen Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 11.10.2010 bis 07.11.2011 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält an seiner Auffassung im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren fest.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird zum Einen auf den Inhalt der Gerichtsakte in diesem Verfahren sowie in dem Verfahren mit den Az. S 31 AS 2710/10 ER (nachfolgend: LSG NRW L 6 AS 356/11 B ER) und S 31 AS 2709/11 ER (nachfolgend LSG NRW L 6 AS 356/11 B ER) sowie zum Anderen auf den Inhalt der von dem Beklagten beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen. Diese haben der Kammer bei ihrer Entscheidung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Die Kläger sind durch den Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 16.12.2010 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG, denn der Bescheid ist rechtmäßig. Zu Recht hat der Beklagte den Antrag der Kläger auf Leis-tungen nach dem SGB II abgelehnt.

Der streitgegenständliche Zeitraum ist zunächst zur Überzeugung der Kammer auf die Zeit vom 11.10.2010 bis 07.11.2011 beschränkt.

Da Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nur auf Antrag und nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht werden (§ 37 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGB II i.d.F. vom 24.12.2003) kommt eine Leistungsgewährung vor dem 11.10.2010 bereits aus diesem Grunde nicht in Betracht. Zudem endet der streitgegenständliche Zeitraum am 07.11.2011. Zwar erstreckt sich grundsätzlich bei einer vollständigen Ablehnung von Leistungen der streitige Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (BSG, Urteil vom 01.06.2010, Az.: B 4 AS 64/09 R m.w.N; BSG, Urteil vom 20.08.2009, Az.: B 14 AS 45/08 R). Das gilt allerdings dann nicht, wenn über den Anspruch der Kläger auf ihr Betreiben hin ab einem bestimmten Zeitraum erneut entschieden worden ist (BSG, Urteil vom 31.10.2007, Az.: B 14/11b AS 59/06 R; BSG, Urteil vom 30.08.2010, B 4 AS 70/09 R). Mit Bescheid vom 15.11.2011 hat der Beklagte den Leistungsantrag der Kläger abgelehnt.

Im streitgegenständlichen Zeitraum konnte die Kammer zunächst offenlassen, ob die Kläger gegenüber dem Beklagten grundsätzlich nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 19 SGB II anspruchsberechtigt sind. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig (Nr. 3) sind, sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4).

Die Kammer musste insbesondere nicht darüber entscheiden, ob der gewöhnliche Auf-enthalt nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB II die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes voraus-setzt (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010, Az.: B 14 AS 23/10 R, m.w.N.). Die Kammer konnte ebenfalls offenlassen, ob die Kläger erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II sind.

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II findet zur Überzeugung der Kammer Anwendung, da sich die Kläger zu 1) und 2) lediglich auf ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche und die Kläger zu 3) und 4) sich damit nur auf ein von ihnen abgeleitetes Aufenthaltsrecht berufen können. Denn nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus dem Zwecke der Arbeitsuche ergibt, und deren Familienangehörige von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

So steht den Klägern zu 1) und 2) insbesondere kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmer zu. Arbeitnehmer ist nämlich nur derjenige, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt und zwar mit Ausnahme derjenigen Arbeit-nehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig unterge-ordnet und unwesentlich darstellt (BSG, Urteil vom 19.10.2010, Az.: B 14 AS 23/10 R; LSG NRW, Beschluss vom 28.06.2011, Az.: L 19 AS 317/11 B ER, m.w.N.). Zur Überzeu-gung der Kammer fehlt es bereits an einem Arbeitsverhältnis, welches zusätzlich die Eingebundenheit in einen Organisationsprozess in nicht nur geringfügigem Umfang vo-raussetzt (LSG NRW, Beschluss vom 28.06.2011, Az.: L 19 AS 317/11 B ER; Hessisches LSG, Beschluss vom 14.10.2009, Az.: L 7 AS 166/09 B ER). So waren die Kläger zu 1) und 2) hinsichtlich des Verkaufes des Straßenmagazins "Fifty-Fifty" nicht als Arbeitnehmer des vertreibenden Verlagsunternehmens tätig. Ein Arbeitsvertrag wurde nicht abgeschlossen. Bei der Verteilung und dem Verkauf des Straßenmagazins waren sie nicht weisungsabhängig bzw. eingegliedert in den Organisationsprozess des Verlagsunternehmens.

Zudem können sie auch kein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU als nie-dergelassene selbständige Erwerbstätige herleiten. Die Kammer ist der Überzeugung, dass es sich bei der Verteilung der Obdachlosenzeitung generell nicht um eine selbstän-dige Tätigkeit i.S.d. FreizügG/EU handelt. Auch wenn das Gemeinschaftsrecht den Begriff einer Erwerbstätigkeit weit fasst, da in den einzelnen Mitgliedsstaaten Berufsbilder und –bezeichnungen erheblich voneinander abweichen können, sind nur solche einbezogen, welche eine Teilhabe am Wirtschaftsleben begründen. Dabei hat die Erwerbstätigkeit auf einem wirtschaftlichen Güteraustausch zu beruhen (Hessisches LSG, Beschluss vom 14.10.2009, Az.: L 7 AS 166/09 B ER; SG Gelsenkirchen, Urteil vom 24.09.2012, Az.: S 10 AS 417/11). Zur Überzeugung der Kammer fehlt es gerade an einem solchen wirtschaftlichen Güteraustausch. Bei der Verteilung von Obdachlosenzeitungen steht der karitative Zweck sowohl für den Verlag als auch für die Passanten im Vordergrund. Das Angebot der Zeitung ist darauf gerichtet, unterschwellig die Spendenbereitschaft zu wecken (so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 14.10.2009, Az.: L 7 AS 166/09 B ER; SG Gelsenkirchen, Urteil vom 24.09.2012, Az.: S 10 AS 417/11). Vor diesem Hintergrund kann die Kammer keine Selbständigkeit im Sinne des Gesetzes erkennen.

Die Kläger haben darüber hinaus kein Recht nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 des FreizügG/EU. Sie können als nicht erwerbstätige Unionsbürger gerade nicht den dort geforderten Krankenversicherungsschutz sowie ausreichende Existenzmittel sicherstellen. Den Klägern steht auch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4 a FreizügG/EU zu, da sie die entsprechenden Aufenthaltszeiträume nicht erfüllen.

Die Kläger zu 1) und 2) können sich jedoch nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 FreizügG/EU auf ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche berufen. Durch die Antragstellung auf Leistungen nach dem SGB II haben sich die Kläger dem Arbeitsmarkt und den Vermittlungsbemü-hungen des Beklagten zur Verfügung gestellt. Die Kläger zu 3) und 4) können sich daher auf ein davon abgeleitetes Aufenthaltsrecht berufen.

Dem insoweit eingreifenden Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II steht kein Anspruch der Kläger auf Teilhabe aus europarechtlichen Erwägungen entge-gen (vgl. SG Gelsenkirchen, Urteil vom 24.09.2012, Az.: S 10 AS 417/11).

Zunächst können sich die Kläger nicht auf das Gleichbehandlungsgebot nach Artikel 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11.12.1953 (Bundesgesetzblatt II, 1956, 564 – EFA -) berufen. Die Kläger sind rumänische Staatsangehörige. Rumänien ist dem Ab-kommen nicht als Vertragsstaat beigetreten.

Ferner können sich die Kläger nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Artikels 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [VO (EG) Nr. 883/2004] beziehen. Zwar ist die Verordnung vor dem streitgegenständlichen Zeitraum, nämlich am 01.05.2010, durch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Par-lamentes und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durch-führung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, in Kraft getreten, jedoch findet Artikel 4 der VO (EG) Nr. 883/2004 vorliegend keine Anwendung. Nach Artikel 4 der VO (EG) Nr. 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, soweit in ihr nichts anderes bestimmt ist, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Das SGB II ist allerdings gerade keine Rechtsvorschrift i.S.d. Artikel 4 der VO (EG) Nr. 883/2004. Denn das Gleichbehandlungsgebot bezieht sich lediglich auf solche Leistun-gen, die in Artikel 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 und nicht auch auf solche, die – wie das SGB II – in Artikel 3 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 883/2004 geregelt sind (ebenso: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012, Az.: L 3 AS 250/12 B ER; SG Berlin, Beschluss vom 14.05.2012, Az.: S 124 AS 7164/12 ER; andere Ansicht: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.02.2012, Az.: L 20 AS 2347/11 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.09.2011, Az.: L 14 AS 1148/11 B ER; LSG Hessen, Beschluss vom 14.07.2011, Az.: L 7 AS 107/11 B ER).

Der Begriff der Rechtsvorschrift wird nämlich in Artikel 1 lit. l) der VO (EG) Nr. 883/2004 definiert. So bezeichnet für die Zwecke der Verordnung der Ausdruck "Rechtsvorschrift" für jeden Mitgliedsstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durch-führungsvorschriften in Bezug auf die in Artikel 3 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 ge-nannten Zweige der sozialen Sicherheit. In Artikel 3 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 sind jedoch lediglich folgende Zweige der sozialen Sicherheit aufgeführt, nämlich Leistungen bei Krankheit, Mutterschutz und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft, Invalidität, Alter, Leistungen an Hinterbliebene bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Sterbegeld, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsleistungen und Familienleistungen. Die vorliegend begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind damit keinem der abschließend aufgezählten Zweige der sozialen Sicherheit zuzuordnen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um besondere beitragsunabhängige Geldleistungen nach Artikel 3 Abs. 3 i.V.m. Artikel 70 der VO (EG) Nr. 883/2004. Von Artikel 70 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 sind Geldleistungen betroffen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereiches, ihrer Ziele und/oder Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Abs. 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen. Weiterhin müssen die Leistungen die weiteren Voraussetzungen des Artikel 70 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 883/2004 erfüllen und in Anhang X verzeichnet sein. Das ist beim SGB II der Fall, da es einerseits an ein in Artikel 3 Abs. 1 genanntes spezifisches Risiko, nämlich die Arbeitslosigkeit nach Artikel 3 Abs. 1 lit. h), anknüpft und zudem bedarfsabhängig gewährt wird. Zudem ist das SGB II in Anhang X als besondere beitragsunabhängige Geldleistung aufgenommen worden.

Nach Ansicht der Kammer können die Kläger sich auch nicht auf ein primärrechtliches Diskriminierungsverbot nach den Artikeln 18, 21 und 45 der konsolidierten Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, umbenannt durch den Vertrag von Lissabon zum 01.12.2009, vorher: Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – EG-Vertrag -) berufen.

Nach Artikel 18 Abs. 1 AEUV ist unbeschadet der Regelung der Verträge in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Nach Artikel 21 Abs. 1 AEUV haben Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und den Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten und nach Artikel 45 Abs. 1 AEUV ist innerhalb der Union die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Dabei umfasst sie die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen sowie u.a. auf das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen.

Die Kammer konnte offenlassen, ob sich aus diesen primärrechtlichen Diskriminierungs-verboten grundsätzlich ein Anspruch eines zum Zwecke der Arbeitsuche aufenthaltsbe-rechtigten EU-Ausländer auf Gleichbehandlung ergibt. Zudem konnte die Kammer dahinstehen lassen, ob ein ggf. vorliegender Eingriff durch die Schranke des Artikels 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, gedeckt ist.

Zur Überzeugung der Kammer ist nämlich jedenfalls für rumänische Staatsbürger der Schutzbereich der genannten primärrechtlichen Diskriminierungsverbote nicht eröffnet. Dieser wurde nämlich im Rahmen der Beitrittsverträge eingeschränkt. Nach Artikel 1 Abs. 3 des Vertrages zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien sowie Rumänien über den Beitritt der Republik Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union vom 21.06.2005 (Amtsblatt der Europäischen Union L 157/11) sind die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme in dem diesem Vertrag beigefügten Protokoll festgelegt. Die Bestimmungen des Protokolls sind Bestandteil des Vertrages. Nach dem Protokoll über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union vom 21.06.2005 (Amtsblatt der Europäischen Union L 157/29) gelten die in den Anhängen VI und VII aufgeführten Maßnahmen im Bezug auf Bulgarien und Rumänien unter den in jenen Anhängen festgelegten Bedingungen. Nach Anhang VII Ziffer 1 vom 21.06.2005 (Amtsblatt der Europäischen Union L 157/138) wird die Freizügigkeit nur vorbehaltlich der Nummern 2-14 gewährleistet und damit können die Mitgliedstaaten abweichend von den Artikeln 1 bis 6 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft den Zugang rumänischer Staatsbürger zu ihrem Arbeitsmarkt regeln (Ziffer 2 Anhang VII vom 21.06.2005). Damit können die Mitgliedsstaaten bis zum Ende eines Übergangszeitraumes von längstens sieben Jahren nach dem Tag des Beitritts arbeitsmarktbeschränkende Maßnahmen anwenden. Der Vertrag über den Beitritt zur Europäischen Union sieht dabei eine dreiphasige Übergangsfrist vor, der streitgegenständliche Zeitraum liegt in der zweiten Phase, die bis zum 31.12.2011 andauerte und durch Bekanntmachung vom 17.12.2008 (Bundesanzeiger Nr. 198 vom 31.12.2008) durch die Bundesrepublik Deutschland abgerufen worden ist (vgl. insgesamt: LSG NRW, Beschlüsse vom 18.11.2011, Az.: L 7 AS 614/11 B ER und L 7 AS 615/11 B ER, LSG NRW, Beschluss vom 22.06.2012, Az ... L 19 AS 845/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.02.2012, Az.: L 20 AS 2347/11 B ER).

Daraus folgt, dass die Alt-Mitgliedsstaaten insbesondere nationale Maßnahmen erlassen können, um den Zugang rumänischer Staatsangehöriger zu ihrem Arbeitsmarkt zu regeln. Von dieser Möglichkeit hat Deutschland Gebrauch gemacht mit der Folge, dass § 13 FreizügG/EU i.V.m. § 284 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – i.V.m. § 39 Aufenthaltsgesetz Anwendung findet. Danach bedürfen die Kläger als rumänische Staatsangehörige auch weiterhin einer Arbeitserlaubnis EU bzw. Arbeitsberechtigung/EU nach § 284 SGB III, die nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 39 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz, d.h. insbesondere in Abhängigkeit vom Vorhandensein von vorberechtigte Arbeitnehmer (§ 39 Abs. 2 Satz 1 b Aufenthaltsgesetz) erteilt werden kann. Die Kläger verfügten im streitgegenständlichen Zeitraum nicht über eine entsprechende Arbeitsgenehmigung.

Damit greifen zu Lasten der Kläger die durch die Bundesrepublik Deutschland aufgerufenen Beschränkungen, die zur Sicherung der Situation auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und zum Schutze vor der Belastung mit zusätzlichen Sozialabgaben (LSG NRW, Beschluss vom 28.06.2011, Az.: L 19 AS 317/11 B ER) durch die Alt-Mitgliedsstaaten im Rahmen der Beitrittsverträge festgelegt worden sind. Die Kammer hat auch keine Zweifel daran, dass neu hinzutretenden Vertragsstaaten mit ihrer Zustimmung entsprechende Begrenzungen auferlegt werden können.

Zudem ist die Kammer der Auffassung, dass auch kein Anspruch aus Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (Artikel 20 Abs. 1, 28, Abs. 1 GG) her-geleitet werden kann. Dies würde gerade zu einer Umgehung der von der Rechtsordnung und nach den Grundsätzen des Beitrittsvertrages der Europäischen Union vorgesehenen Einschränkungen führen (ähnlich: LSG NRW, Beschluss vom 28.06.2011, Az.: L 19 AS 317/11 B ER; Beschluss vom 22.06.2012, Az.: L 19 AS 845/12 B ER). Aus Artikel 1 Abs. 1 GG lässt sich daher nur die Verpflichtung zur Gewährung solcher Leistungen herleiten, die notwendig sind, um den Klägern, sofern sie darüber nicht verfügen, eine Rückkehr in ihr Heimatland zu ermöglichen (LSG NRW, Beschluss vom 16.02.2007, Az.: L 19 B 13/07 AS ER). Diese stehen allerdings nicht im Streit.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54, 45130 Essen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem

Sozialgericht Gelsenkirchen, Ahstraße 22, 45879 Gelsenkirchen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss bis zum Ablauf der Frist bei einem der vorgenannten Gerichte eingegangen sein. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass einem Beteiligten auf seinen Antrag für das Verfahren vor dem Landessozialgericht unter bestimmten Voraussetzungen Prozesskostenhilfe bewilligt werden kann.

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Revision zum Bundessozialgericht unter Über-gehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die Einlegung der Revision und die Zustimmung des Gegners gelten als Verzicht auf die Berufung, wenn das Sozialgericht die Revision zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
Saved