L 9 AS 898/15

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Meiningen (FST)
Aktenzeichen
S 19 AS 126/14
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 898/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§ 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II verstößt nicht gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 29. Januar 2015 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen einen eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt.

Nachdem der Kläger – wie bereits einige Male zuvor – den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung (EV) abgelehnt hatte, erließ der Beklagte mit Bescheid vom 18. Oktober 2013 einen die EV ersetzenden Verwaltungsakt für den Zeitraum 18. Oktober 2013 bis 17. April 2014; zum weiteren Inhalt wird auf die Verwaltungsakte Bezug genommen.

Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er habe ein Recht auf soziale Absicherung, das nicht von Bedingungen abhängig gemacht werden dürfe. Die Aufforderung zur Vorlage einer Liste seiner Bewerbungsbemühungen sei zum einen zu unbestimmt und zum anderen schikanös, zumal bisher immer die Vorlage der Bewerbungsschreiben genügt habe. Der Widerspruch blieb ebenso erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2013) wie die sich anschließende Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit zum einen des EV-Ersatzes durch Verwaltungsakt und zum anderen dessen Inhalts (Urteil vom 29. Januar 2015).

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hält die Gesetzeslage für verfassungswidrig. Bewerbungsbemühungen könnten auch nach einer Aufforderung vorgelegt werden.

Der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht vertreten war, beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 29. Januar 2015 aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid vom 18. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Dezember 2013 rechtswidrig war.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für rechtmäßig. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Die Verwaltungsakte des Beklagten lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte entscheiden, obwohl der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, denn in der Ladung ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.

Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Die vom Kläger im Berufungsverfahren aufrecht erhaltene (vgl. die unwidersprochen gebliebenen Hinweise in der Ladung an den Kläger) Fortsetzungsfeststellungsklage ist nach § 131 Abs. 1 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetz (SGG) hier die richtige Klageart. Nach dieser Vorschrift kann mit der Klage die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines zurückgenommenen oder auf andere Weise erledigten Verwaltungsaktes begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Ein solches Fortsetzungsfeststellungsinteresse kann unter dem Gesichtspunkt der Präjudizialität und der Wiederholungsgefahr bestehen. Wiederholungsgefahr ist anzunehmen, wenn die hinreichend bestimmte (konkrete) Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergeht. Die Wiederholungsgefahr ist vorliegend zu bejahen, denn der Verlauf des Verfahrens zeigt, dass der Beklagte wiederholt versucht hat, den Kläger in Eingliederungsmaßnahmen einzubeziehen. Es besteht daher eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit, dass auch in der nachfolgenden Zeit weitere Maßnahmen zu erwarten sind (vgl. BSG, Urteil vom 14. Februar 2013 – B 14 AS 195/11 R -). Der Bescheid vom 18. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Dezember 2013 ist rechtmäßig. Der Beklagte hat über Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gegenüber dem Kläger zu Recht durch Verwaltungsakt entschieden. Zwar legt § 15 Abs. 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zunächst fest, die Agentur für Arbeit solle im Einvernehmen mit dem kommunalen Träger mit jedem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen die für seine Eingliederung erforderlichen Leistungen vereinbaren. § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II bestimmt dann jedoch: Kommt eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, sollen die in Satz 2 aufgeführten Regelungen einer Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt erfolgen. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, denn der Kläger hat den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung ohne triftigen Grund abgelehnt. Zwar ist dies hinsichtlich des Bescheids vom 18. Oktober 2013 nicht unmittelbar in den Verwaltungsakten dokumentiert. Nach dem Vermerk zum Gespräch vom 29. Mai 2012 hatte der Kläger jedoch damals angegeben, die EV könne gleich per Verwaltungsakt ergehen, da er sie sowieso nicht unterschreibe, weil dies gegen die Menschenrechte und die persönliche Freiheit verstoße. Dass der Kläger dies auch im vorliegenden Fall nicht anders handhaben wollte, hat er durch sein Verhalten zu verstehen gegeben, so dass der Beklagte auf dieser Grundlage davon ausgehen durfte, dass eine EV nicht zustande kommen würde. In einem solchen Fall steht dem Grundsicherungsträger nur die Handlungsform Verwaltungsakt zur Verfügung (vgl. BSG, Urteil vom 14. Februar 2013 – B 14 AS 195/11 R -). Ein triftiger Grund, den Abschluss der EV zu verweigern, lag hier nicht vor. Weder bestehen verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II vorgesehene Möglichkeit, einen die EV ersetzenden Verwaltungsakt zu erlassen, noch widerspricht der Inhalt des Bescheids den Anforderungen des § 15 SGB II. Die Regelung des § 15 Abs. 1 S. 6 SGB II ist nicht verfassungswidrig (vgl. auch LSG Hamburg, Urteil vom 15. November 2012, L 4 AS 73/12), insbesondere verstößt sie nicht gegen Art. 1 Grundgesetz (GG). Zu Recht hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz nicht die Gewährung voraussetzungsloser Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gewährt und sich dafür auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezogen (BVerfG, Urteil vom 07. Juli 2010, 1 BvR 2556/09). Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet keinen von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängigen Anspruch auf Sicherung eines Leistungsniveaus, das durchweg einen gewissen finanziellen Spielraum zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet (vgl. Berlit in LPK-SGB II; 5. Auflage 2013, § 31, Rn. 13). Nach § 1 Abs. 1 SGB II soll die Grundsicherung für Arbeitsuchende Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Nach § 1 Abs. 2 Satz1 SGB II soll sie die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. Nach § 1 Abs. 3 SGB II umfasst die Grundsicherung für Arbeitsuchende Leistungen zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II müssen erwerbsfähige Leistungsberechtigte alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Eine erwerbsfähige leistungsberechtigte Person muss aktiv an allen Maßnahmen zu ihrer Eingliederung in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II i. V. m. § 15 SGB II). Kommt eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, sollen die andernfalls einvernehmlichen Regelungen durch Verwaltungsakt erfolgen (§ 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II). Mit dieser Konzeption hält sich der Gesetzgeber im Rahmen seines ihm offen stehenden Gestaltungsspielraums; durch die Möglichkeit, die EV durch Verwaltungsakt zu ersetzen, wird die Menschenwürde nicht verletzt. Vielmehr dient sie gerade den Zielen des SGB II, durch Eingliederungsleistungen von Grundsicherungsleistungen unabhängig zu werden und unabhängig von staatlichen Maßgaben ein Leben führen zu können, das der Würde des Menschen entspricht. Auch die Eigenverantwortung als Person ist Teil der Art. 1 Abs. 1 GG zugrunde liegenden Vorstellung vom Menschen (vgl. BSG, Urteil vom 9. März 2016 - B 14 AS 20/15 R -, nach BSG-Medieninformation Nr. 7/16). Der Inhalt des die EV ersetzenden Verwaltungsakts steht mit § 15 SGB II noch in Einklang. Insbesondere ist der Bescheid nicht zu unbestimmt, zumal der Kläger in der Folge eine entsprechende Liste (vgl. Bl. 45 Verwaltungsakte "C:Dokumente und EinstellungenUserDesktopZeugsAmtsscheißBewerb
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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