S 96 AS 25231/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
96
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 96 AS 25231/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
1. Ein anwaltlich nicht vertretener Naturalbeteiligter hat keinen Anspruch auf pauschale Erstattung von Aufwendungen im Widerspruchsverfahren ohne Nachweis konkret angefallener Kosten.
2. Eine direkte Anwendung der Nr. 7002 VV des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (RVG) oder anderer Kostengesetze, wie des Gesetzes über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (JVEG) und des Gerichtskostengesetzes (GKG) kommt nicht in Betracht, weil ein nicht anwaltlich vertretener Naturalbeteiligter nicht deren Anwendungsbereich unterfällt.
3. Für eine analoge Anwendung der Vorschriften des RVG, JVEG und GKG fehlt es sowohl an der Vergleichbarkeit der Sachverhalte als auch an einer planwidrigen Regelungslücke. Eine pauschale Kostenerstattung sieht der Gesetzgeber grundsätzlich nur für Personen vor, denen durch das Tätigwerden in einer nicht sie selbst betreffenden Angelegenheit Kosten entstehen (Rechtsanwälte, Zeugen, Sachverständige, Dolmetscher etc.).
4. Die Kosten für die Anfertigung von Schriftstücken, Telefonkosten etc. zählen bei Naturalbeteiligten grundsätzlich zu den Kosten der allgemeinen Lebensführung.
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten zweier von ihm als Naturalbeteiligten ohne anwaltliche Vertretung geführten Widerspruchsverfahren in Form einer Pauschale von jeweils 20 EUR.

Der Kläger steht beim Beklagten im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). In Leistungsangelegenheiten führte er erfolgreich zwei Widerspruchsverfahren (W 1520/15 und W 3610/15), welche durch Abhilfebescheide vom 2. Juli 2015 und 28. Juli 2015 endeten. In den Bescheiden verpflichtete sich der Beklagte zur Erstattung der im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten, soweit sie notwendig sind und nachgewiesen werden.

Am 30. Juli 2015 beantragte der Kläger die Erstattung der Aufwendungen für die Widerspruchsverfahren in Höhe von pauschal jeweils 20 EUR, was der Beklagte mit Bescheiden vom 3. August 2015 ablehnte. Die hiergegen gerichteten Widersprüche des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. November 2015 mit der Begründung zurück, dass der Kläger als Naturalbeteiligter keine Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV RVG geltend machen könne.

Mit der am 9. Dezember 2015 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren auf Kostenerstattung von insgesamt 40 EUR weiter. Er ist der Ansicht, ihm stehe aus dem Rechtsgedanken des VV 7002 RVG heraus ein Anspruch auf Gewährung einer Kostenpauschale von 20 EUR für jedes Widerspruchsverfahren zu. Durch die Erhebung der Widersprüche seien dem Kläger ohne Zweifel Kosten für zB Papier, Tinte und Porto entstanden, auch wenn er über entsprechende Nachweise nicht verfüge bzw. solche hinsichtlich einzelner Positionen grundsätzlich nicht erbracht werden könnten. Mangels konkreter gesetzlicher Regelung sei eine analoge Anwendung der Nr. 7002 VV RVG zu prüfen. Der hinter dieser Regelung stehende Rechtsgedanke, wonach bis zu einer Pauschale von 20 EUR Nachweise für die tatsächlich entstandenen Kosten nicht erforderlich sind, sei ohne weiteres auf nicht anwaltlich vertretene Beteiligte übertragbar.

Der Kläger beantragt,

die Bescheide des Beklagten vom 3. August 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. November 2015 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger auf dessen Anträge vom 30. Juli 2015 die Kosten in den Widerspruchsverfahren W 1520/15 und W 3610/15 in Höhe von jeweils 20 EUR zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Ansicht, bei sich selbst vertretenden Widerspruchsführern und Klägern könnten keine Pauschalen geltend gemacht, sondern nur die mit Belegen nachgewiesenen Kosten abgerechnet werden.

Entscheidungsgründe:

Über die Klage kann gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind hierzu gemäß § 105 Abs. 1 S. 2 SGG mit Schreiben vom 26. April 2016 gehört worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die vom Kläger erhobene Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 SGG zwar zulässig, jedoch unbegründet. Die Bescheide vom 3. August 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. November 2015 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung einer Kostenpauschale in den Widerspruchsverfahren in Höhe von je 20 EUR.

Zwar hat der Beklagte nach seinen Kostenentscheidungen in den Abhilfebescheiden vom 3. August 2015 die notwendigen Kosten des Widerspruchsverfahrens dem Grunde nach zu erstatten. Jedoch kann der Kläger schon nicht nachweisen, dass und in welcher Höhe ihm notwendige Kosten entstanden sind. Über Nachweise für die geltend gemachten Kosten verfügt der Kläger nach eigenen Angaben nicht (mehr).

Für eine pauschale Erstattung von Aufwendungen ohne Nachweis der konkret angefallenen Kosten mangelt es an einer gesetzlichen Grundlage. Eine pauschale Kostenerstattung nach Nr. 7002 VV des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (RVG) oder auf Grundlage anderer Kostengesetze, wie des Gesetzes über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (JVEG) und des Gerichtskostengesetzes (GKG), kommt nicht in Betracht, da der Kläger nicht deren persönlichen Anwendungsbereich unterfällt.

Sofern das Sozialgericht Frankfurt am Main durch den nicht-richterlichen Beschluss der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vom 11. März 2014, S 24 AS 1074/10, einem anwaltlich nicht vertretenen Beteiligten für seine Auslagen eine Pauschale nach Nr. 7002 VV RVG zubilligt, kann dem nicht gefolgt werden. Der Beschluss setzt sich über den Anwendungsbereich des RVG ohne überzeugende Begründung hinweg. Die Begründung, die Gewährung einer Pauschale für Porto-, Fax- und Telefonkosten in Höhe von 20 EUR sei ebenso für Kläger "angemessen", entbehrt einer gesetzlichen Grundlage.

Eine analoge Anwendung von Nr. 7002 VV RVG für anwaltlich nicht vertretene Naturalbeteiligte kommt nicht in Betracht. Die entsprechende Anwendung einer Norm, die für einen bestimmten Tatbestand eine gesetzliche Regelung enthält, auf einen gesetzlich nicht geregelten Tatbestand, kommt zum einen nur in Betracht, wenn beide Tatbestände vergleichbar und deshalb rechtlich gleich zu bewerten sind. Zum anderen erfordert eine Analogie eine planwidrige Regelungslücke, die nur vorliegt, wenn die in Rede stehende Regelungssituation vom Gesetzgeber nicht gesehen wurde oder wegen späterer Veränderungen der Umstände nicht gesehen werden konnte. Beide Voraussetzungen liegen nicht vor.

Es fehlt bereits an einer Vergleichbarkeit der Sachverhalte. Nr. 7002 VV RVG gewährt eine pauschale Kostenerstattung für Rechtsanwälte, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit für ihren Mandanten tätig werden. Der tätige Rechtsanwalt erbringt Rechtsdienstleistungen nicht in eigener Angelegenheit, sondern entgeltlich für einen Dritten. Die regelmäßig im Rahmen seiner Tätigkeit für seine Mandanten anfallenden Kosten für Papier, Tinte, Druckerpatrone, Telefon, Einsatz von Kanzleimitarbeiter und -technik etc. lassen sich als solche kostenmäßig nicht für jeden einzelnen seiner Aufträge aufschlüsseln bzw. in Form eines konkreten Kostenbetrages einem einzelnen Auftrag zuordnen. Erhielte der Rechtsanwalt für diese nicht konkret erfassbaren und Einzelaufträgen zuordenbaren Kosten keine pauschale Erstattung, so bedeutete dies, dass er Kosten, die in ihrer Gesamtheit ausschließlich durch seine beruflichen Tätigkeiten für Dritte veranlasst sind, selbst zu tragen hätte. Dem soll Nr. 7002 VV RVG begegnen.

Ein hiermit vergleichbarer Sachverhalt liegt bei einem sich selbst vertretenden Kläger/Widerspruchsführer indes nicht vor. Die Kosten für die Anfertigung von Schriftstücken, Telefonkosten etc. zählen bei Naturalbeteiligten grundsätzlich zu den Kosten der allgemeinen Lebensführung. In der Regel entfällt von diesen Kosten nur ein kaum quantifizierbarer Anteil auf die Kosten, die für die Prozess-/Widerspruchsführung aufgewandt werden müssen. Die Tragung dieser geringfügigen und nicht konkretisierbaren Kosten erfolgt im Gegensatz zur anwaltlichen Tätigkeit zudem im eigenen Interesse.

Darüber hinaus mangelt es an einer planwidrigen Regelungslücke.
Eine pauschale Kostenerstattung sieht der Gesetzgeber grundsätzlich nur für Personen vor, denen durch das Tätigwerden in einer nicht sie selbst betreffenden Angelegenheit Kosten entstehen (Rechtsanwälte, Zeugen, Sachverständige, Dolmetscher etc.). Soweit der Gesetzgeber in bestimmten Fällen eine Vergleichbarkeit dieser Tatbestände mit der Situation eines in eigener Angelegenheit tätig werdenden Naturalbeteiligten annimmt, hat er die Geltung der Regelungen für den Naturalbeteiligten für diese Fälle ausdrücklich angeordnet. So werden beispielsweise nach § 191 SGG Beteiligten, deren persönliches Erscheinen zum Verhandlungstermin angeordnet ist, bare Auslagen und Zeitverlust wie einem Zeugen vergütet. Dieser Vergütungsanspruch erfasst u.a. Fahrtkostenersatz, der bei Benutzung eines Kraftfahrzeuges auf eine pauschale Vergütung pro gefahrenem Kilometer gerichtet ist (§ 5 JVEG), die pauschale Aufwandsentschädigung nach § 6 JVEG sowie die Pauschale für Anfertigungen von Kopien und Ausdrucken nach § 7 Abs. 2 JVEG. Die ausdrückliche Anordnung der entsprechenden Anwendung der Zeugenvergütungsregelungen des JVEG gemäß § 191 SGG für Beteiligte zeigt, dass der Gesetzgeber sich bewusst ist, dass grundsätzlich eine pauschale Kostenerstattung für den Beteiligten nicht in Betracht kommt und daher ausnahmsweise die ausdrückliche gesetzliche Anordnung der Regelungen in diesem Fall angezeigt ist. Verzichtet er gleichwohl in den übrigen Fällen auf eine Regelung zur pauschalen Auslagenerstattung für Naturalbeteiligte, so ist dies keine Regelungslücke, sondern eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang der Hauptsache.

Gründe für eine Zulassung der Berufung nach § 144 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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