L 4 AY 1/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 20 AY 23/10
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AY 1/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 7. August 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) für die Zeiträume vom 1. Mai 2005 bis zum 31. März 2006 und vom 1. Mai 2008 bis zum 11. Juni 2009 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu gewähren sind.

Die am xxxxx 1975 in Serbien geborene Klägerin ist s. Staatsangehörige und gehört der Volksgruppe der R. an. Nach ihren eigenen Angaben reiste sie erstmals im November 1991 ohne Visum nach D. ein. Ein 1992 gestellter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung wurde abgelehnt. 1994 reiste die Klägerin wieder aus. Im Januar 2000 reiste sie zusammen mit ihrem damaligem Ehemann (ebenfalls s. Staatsangehöriger) und den beiden Kindern V. (geboren 1995) und V1 (geboren 1998) erneut und wiederum ohne Visum nach D. ein. Die Familie beantragte eine Aufenthaltserlaubnis. Diese wurde mit Bescheid vom 31. Januar 2000 abgelehnt, zugleich wurde die Ausweisung verfügt. Einer drohenden Abschiebung entging die Familie, indem sie einen Asylantrag stellte. Im Zusammenhang mit diesem Antrag wurden die Klägerin und ihr Ehemann am 1. Juni 2004 getrennt durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) nach § 25 AsylVfG angehört. Im Jahr 2005 wurde der Asylantrag der Klägerin abgelehnt. Die hiergegen erhobene Klage war erfolglos.

Die Klägerin erhielt während des Asylverfahrens und zunächst auch darüber hinaus eine Aufenthaltsgestattung. 2006 wurde die Klägerin von ihrem damaligen Ehemann geschieden. Im Januar 2007 heiratete sie einen deutschen Staatsangehörigen, der in H. lebte. Am 8. Januar 2008 stellte die Klägerin einen Antrag auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem Ehemann. Im Frühjahr 2008 wurde die Aufenthaltsgestattung der Klägerin eingezogen, am 4. April 2008 wurde ihr eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt. Mit Bescheid vom 22. April 2008 wurde der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgestattung abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Hamburg ab (Urteil vom 9.1.2013 – 21 K 1861/08). Ihren eigenen Angaben zufolge lebt die Klägerin seit August 2008 von ihrem neuen Ehemann getrennt.

Bei einer Anhörung durch die Ausländerbehörde am 5. Dezember 2008 erklärte die Klägerin, sie und ihre Kinder hätten s. Pässe. Mit Schreiben vom gleichen Tag forderte die Ausländerbehörde die Klägerin unter Hinweis auf ihre Mitwirkungspflichten nach § 82 Abs. 1 AufenthG auf, sich und ihren Kindern einen gültigen Pass oder einen Passersatz ihres Heimatstaates zu beschaffen. Am 15. Dezember 2008 legte die Klägerin ihren s. Nationalpass, ausgestellt am 28. Juli 2006, sowie Nationalpässe ihrer beiden Kinder, ausgestellt jeweils am 10. Juli 2008, bei der Ausländerbehörde vor, dort wurden sie zur Verwahrung bis zur Ausreise eingezogen.

Die Tochter der Klägerin leidet an einer Tumorerkrankung der rechten Wange, die bis zum Jahr 2011 neunmal operiert wurde. Der behandelnde Arzt Dr. T. bescheinigte der Klägerin am 17. März 2009, dass eine vollständige Entfernung des Tumors nicht möglich und eine adäquate medizinische Versorgung der Erkrankung im Heimatland nicht gewährleistet sei. Infolgedessen wurde eine im Jahr 2009 beabsichtigte Abschiebung durch Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 31. März 2009 (Az. 21 E 3381/08) vorläufig untersagt, befristet bis zur Vorlage einer Mitteilung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über das Nichtvorliegen der Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellte durch Bescheid vom 2. April 2009 fest, dass hinsichtlich der Tochter der Klägerin keine zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse bestünden. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Hamburg durch Urteil vom 15. November 2012 (21 A 449/09) ab. Später erhielt die Tochter der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG.

Im Zeitraum vom 1. Januar 2001 bis zum 31. März 2006 gewährte die Beklagte der Klägerin Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Vom 1. April 2006 bis zum 30. April 2008 erhielt die Klägerin sog. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG, vom 1. Mai 2008 bis zum 31. Juli 2009 wiederum Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.

Am 30. April 2009 beantragte die - damals unvertretene – Klägerin für sich und ihre Familie "Sozialhilfe nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz". Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 28. Juli 2009 mit der Begründung ab, es lägen keine humanitären oder persönlichen Gründe für den Aufenthalt der Klägerin und ihrer Kinder vor. Der geplanten Abschiebung habe sie sich durch mehrfache Asylantragstellungen entzogen. Dies werde als rechtsmissbräuchlich angesehen. Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. Juli 2009 hat die Klägerin nicht erhoben.

Mit Schreiben vom 11. Juni 2009 stellte die Klägerin, nunmehr vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X für sich "und zwei Kinder" und machte Schadenersatz und die "Nachzahlung von einbehaltenen Leistungen" geltend. Die Familie erhalte bereits seit über drei Jahren und damit länger als vorgesehen Leistungen nach § 3 AsylbLG. Der Grund, weshalb die Klägerin seit langer Zeit geduldet werde und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden könnten, liege in der Tumorerkrankung ihres Kindes und sei nicht von ihr zu vertreten. Es werde deshalb um Überweisung des Differenzbetrags zwischen den sog. Grund- und den sog. Analogleistungen gebeten.

Mit Bescheid vom 24. August 2009 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Nach gründlicher Aktenprüfung sei festgestellt worden, dass die Klägerin und ihre Kinder 48 Monate lang Grundleistungen bezogen hätten. Diese Grundleistungen seien beibehalten worden, weil die Ausländerbehörde mitgeteilt habe, dass die Klägerin sich der Abschiebung entzogen habe, indem sie ihrer dortigen Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei. Sollte die Klägerin der Ansicht sein, dass kein Mangel an Mitwirkung bei der Ausländerbehörde gegeben sei oder dass keine anderen Gründe für eine Ablehnung von Analogleistungen vorlägen, müsse sie sich zwecks Klärung an die Ausländerbehörde wenden und deren Entscheidung dann dem Sozialamt mitteilen. Eine Nachzahlung von Sozialhilfe in Höhe der Differenz zwischen Grund- und Analogleistungen sei nicht möglich. Der Antrag werde bis auf Widerruf bis zum 24. September 2009 als erledigt angesehen.

Am 11. September 2009 legte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen die "Weigerung, eine Nachzahlung zu leisten" ein. Nicht die Klägerin habe sich der Abschiebung entzogen, sondern die Ausländerbehörde habe keine Abschiebung in Erwägung gezogen. Sie hätte die Klägerin ohne Probleme abschieben können, da sie nach dem Abkommen zwischen der B. und S.-M. entsprechende Dokumente erhalten hätte, habe wegen der Tumorerkrankung des Kindes aber darauf verzichtet. Die Leistungsbehörde habe den Rechtsmissbrauch der Klägerin darzulegen und zu beweisen.

Eine behördeninterne Nachfrage des zuständigen Fachamts der Beklagten wurde vom Einwohnerzentralamt der Beklagten dahingehend beantwortet, dass die Klägerin ohne Pass eingereist und Pässe erst mit Aussicht auf die "AE" beschafft worden sei. Um ein Passersatzpapier hätten sich die Klägerin und ihre Kinder nie bemüht. Ein Pass sei am 28. Juli 2006 ausgestellt und erst am 15. Dezember 2008 vorgelegt worden. Die Klägerin und ihre Kinder hätten einen Asylantrag erst gestellt, als die Abschiebung unmittelbar bevor gestanden habe. Sie hätten es durch Passlosigkeit selbst verschuldete, dass sie nicht ausreisen bzw. abgeschoben werden konnten. Humanitäre oder persönliche Gründe für den Aufenthalt lägen nicht vor. In einer weiteren Mitteilung des Einwohner-Zentralamtes der Beklagten vom 19. Februar 2010 heißt es, der Klägerin drohe aufgrund des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 31. März 2009 derzeit keine Abschiebung. Eine Mitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gem. § 71 Abs. 5 S. 2 AsylVfG, aus der sich ergebe, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot für die Tochter der Klägerin nicht vorliegen, solle am 2. April 2009 ergangen sein, allerdings sei gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Klage erhoben worden. Eine Ausreise sei von der Klägerin zumindest bis zum 2. April 2009 nicht zu verlangen gewesen. Eine Abschiebung drohe derzeit nicht, auch in Hinblick auf mehrere beim Verwaltungsgericht anhängige Klagen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2010 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 24. August 2009 zurück. Die Klägerin habe keinen Anspruch darauf, dass ihr ab dem 1. Januar 2005 Sozialleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nachgezahlt und die entgegenstehenden bestandskräftigen Bewilligungsbescheide zurückgenommen werden. Der Klägerin seien im maßgeblichen Zeitraum bereits zu hohe Leistungen gewährt worden, nämlich solche nach § 3 bzw. § 2 AsylbLG. Tatsächlich hätte die Klägerin gem. § 1a Nr. 1 AsylbLG bzw. § 23 Abs. 3 SGB XII nur Anspruch auf unabweisbar gebotene Leistungen gehabt, denn sie sei eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen. Sie und ihr Ehemann hätten bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtline ausdrücklich bekräftigt, dass die Erlangung gesicherter Lebensverhältnisse und die Krankenbehandlung die Einreise motiviert hätten. Die Klägerin habe tatsächlich Leistungen nach § 3 bzw. § 2 AsylbLG erhalten, das sei mehr als die unabweisbar gebotenen Leistungen. Folglich habe die Klägerin zu Unrecht zu hohe Leistungen erhalten.

Die Verfügung, den Widerspruchsbescheid an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu senden, wurde am 16. Februar 2010 mit Paraphe der Sachbearbeiterin der Beklagten unterzeichnet.

Mit Bescheid vom 18. Februar 2010 bewilligte die Beklagte der Klägerin für März 2010 nur noch Leistungen nach § 1a Nr. 1 AsylbLG, den Kindern der Klägerin hingegen ungeminderte Leistungen. Mit Bescheid vom 22. April 2010 wurden für Mai 2010 auch die Leistungen für die Kinder der Klägerin abgesenkt mit der Begründung, die Kinder seien mit den Eltern eingereist, um Sozialhilfe zu beziehen. Der am 17. März 2010 erhobene Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 18. Februar 2010 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 1. Oktober 2010 zurückgewiesen. Die hiergegen vor dem Sozialgericht Hamburg unter dem Aktenzeichen S 20 AY 93/10 erhobene Klage nahm die Klägerin im Juni 2011 ohne Begründung zurück.

Am 19. März 2010 hat die Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 24. August 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 15. Februar 2010 erhoben. Zur Begründung hat sie zunächst – durch ihren Prozessbevollmächtigten – ausgeführt, es habe aufgrund der lebensbedrohlichen Erkrankung des Kindes ein übergesetzlicher Notstand vorgelegen. § 1a AsylbLG sei daher nicht anwendbar. Sie und ihr damaliger Ehemann hätten bei der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgesagt, sie seien im Wesentlichen eingereist, weil sie hier auf eine Behandlung des kranken Kindes gehofft hätten. Nach Vorhalt des Sozialgerichts, dass die Klägerin und ihr Ehemann bei der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 1. Juni 2004 ausgesagt hätten, die Krankheit sei ihnen in der Heimat nicht bekannt gewesen, hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten vorgetragen, wenn sie von der schweren Tumorerkrankung ihres Kindes erst nach der Einreise in die B. erfahren habe, könne die Absicht, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, nicht das prägende Motiv ihrer Einreise gewesen sein. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 7. August 2014 hat der Bevollmächtigte der Klägerin angegeben, es sei der Klägerin bei der Einreise nach D. um die Behandlung ihrer Tochter gegangen. Im ehemaligen J. sei der Zugang zum Gesundheitssystem für R. eingeschränkt gewesen. Im Übrigen hätte eine Abschiebung nach Ex-J. auch ohne Pässe erfolgen können. Die Nichtvorlage der Pässe sei also kein Abschiebehindernis gewesen. Wegen der Kinder der Klägerin sei eine Abschiebung aber ohnehin nicht zulässig gewesen.

Die Beklagte hat die Entscheidung im Widerspruchsbescheid verteidigt und weiter vorgetragen, die Klage sei zunächst nur als Verpflichtungsklage erhoben und der Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2010 nicht angefochten worden. Soweit die Klägerin später auch eine Anfechtungsklage formuliert habe, handele es sich um eine Klagerweiterung, die unzulässig sei und der sie, die Beklagte, nicht zustimme.

Am 3. Dezember 2012 ist der Klägerin erneut eine Duldung erteilt worden, die ihr erstmals zugleich eine Beschäftigung erlaubt hat. Seit Februar 2013 geht sie einer Tätigkeit als Reinigungskraft nach.

Mit Urteil vom 7. August 2014 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben, den Bescheid vom 24. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Februar 2010 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin unter Abänderung der für die Zeiträume vom 1. Mai 2005 bis zum 31. März 2006 und vom 1. Mai 2008 bis zum 11. Juni 2009 ergangenen Leistungsbescheide für die genannten Zeiträume Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 2 AsylbLG i. V. m. § 27a SGB XII unter Anrechnung der bereits erhaltenen Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, es liege keine Klagerweiterung vor. Die Klage sei von vornherein auch auf eine Anfechtung des Widerspruchsbescheids gerichtet gewesen. Streitgegenstand seien allerdings nur Leistungen für die Zeit bis zum Überprüfungsantrag vom 11. Juni 2009 und nur Leistungen für die Klägerin selbst, nicht auch solche für ihre Kinder. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Abänderung der Leistungsbewilligungen für die streitgegenständlichen Zeiträume. Ihr seien zu Unrecht nur Grundleistungen nach § 3 AsylbLG gewährt worden, obwohl sie einen Anspruch auf sog. Analogleistungen nach § 2 AsylbLG gehabt habe. Die Klägerin habe die Vorbezugszeit von 48 Monaten erfüllt. Die Auffassung der Beklagten, die Klägerin sei eingereist, um Sozialhilfe abzuschöpfen und ihr hätten deshalb nur abgesenkte Leistungen zugestanden, sei schon deshalb nicht maßgeblich, weil die im streitgegenständlichen Zeitraum ergangenen Leistungsbescheide nicht zurückgenommen worden seien. Es sei zudem nicht erwiesen, dass die Klägerin eingereist sei, um Sozialhilfe zu erlangen. Aus dem Protokoll der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ergebe sich die Vermutung, dass sie auch wegen der erwünschten medizinischen Versorgung ihrer Tochter eingereist sei. Dieses Motiv sei nicht identisch mit der Absicht, Sozialhilfe zu erlangen. Ein Anspruch auf Analogleistungen sei auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin die Dauer ihres Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst habe. Zunächst sei es nicht rechtsmissbräuchlich, einen Asylantrag zu stellen. Eine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts durch Nichtvorlage ihres Passes sei nicht nachgewiesen.

Das Urteil ist der Beklagten am 5. Januar 2015 zugestellt worden. Am 9. Januar 2015 hat sie Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihren Vortrag aus dem Widerspruchsbescheid. Zweck der Einreise nach D. sei es gewesen, die Tochter mit Mitteln der Sozialhilfe krankenbehandeln zu lassen. Die Klägerin habe bis zum 28. Februar 2015 durchgehend Leistungen nach dem AsylbLG bezogen. Sie sei selbst auf die Beklagte zugekommen und habe auf Leistungen ab März 2015 verzichtet.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburgs vom 7. August 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin trägt vor, sie sei mit der Absicht eingereist, ihren Lebensunterhalt in D. durch Erwerbstätigkeit zu bestreiten. In ihrer Heimat habe sie gehört, dass in D. auch Flüchtlinge aus dem ehemaligen J. gut verdienen könnten. Die Regelung, dass Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten erst nach langjährigem Aufenthalt eine Arbeitserlaubnis erhalten können, habe sie nicht gekannt.

Mit Schriftsatz vom 17. Juni 2016 hat der Senat die Klägerin darauf hingewiesen, dass Voraussetzung für einen Nachzahlungsanspruch eine ununterbrochene Bedürftigkeit sei, und sie aufgefordert, binnen einer Frist von vier Wochen mitzuteilen, ob sie seit dem Ende des Bezugs von Leistungen nach dem AsylbLG, also seit März 2015, andere Leistungen beziehe bzw. Nachweise über ihre lückenlose Bedürftigkeit bis aktuell vorzulegen. Darauf hat die Klägerin nicht geantwortet. In der mündlichen Verhandlung am 1. September 2016 hat sie diesbezüglich vorgetragen, sie beziehe seit März 2015 keine öffentlichen Leistungen mehr. Sie verdiene ca. 700,- Euro monatlich und werde im Übrigen von Verwandten unterstützt. Für ihre Unterkunft habe sie monatliche Kosten in Höhe von ca. 700,-. Nachweise über ihre Einkünfte und ihre Unterkunftskosten hat sie nicht vorgelegt.

Der Senat hat die Leistungsakte des Beklagten, die Ausländerakte der Klägerin, die Prozessakten des Verwaltungsgerichts Hamburg zu den Aktenzeichen 21 K 1861/08 (3 Bf 22/13.Z), 21 K 8/10 (3 Bf 14/14.Z), 15 A 962/05 und 21 A 449/09 sowie die Prozessakte des Sozialgerichts Hamburg zum Aktenzeichen S 20 AY 93/10 beigezogen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogene Akten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Die Berufung ist auch begründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der von der Beklagten abgelehnte Überprüfungsantrag der Klägerin mit dem Ziel einer rückwirkenden Gewährung höherer Leistungen für die Zeiträume vom 1. Mai 2005 bis zum 31. März 2006 und vom 1. Mai 2008 bis zum 11. Juni 2009. Richtige Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungs- bzw. Leistungsklage. Zu Recht ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin von Anfang an nicht nur eine Verpflichtungs-, sondern auch eine Anfechtungsklage erhoben hat. Zwar ist in dem ursprünglichen Klagantrag in der Tat nur eine Verpflichtung beantragt, doch konnte dieser bei verständiger Auslegung unter Berücksichtigung des vorangegangenen Geschehens nur so verstanden werden, dass damit zugleich auch der den Überprüfungsantrag ablehnende Bescheid vom 24. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Februar 2010 angefochten werden sollte.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rücknahme der die Zeiträume vom 1. Mai 2005 bis zum 31. März 2006 und vom 1. Mai 2008 bis zum 11. Juni 2009 betreffenden Bewilligungsentscheidungen und auf Gewährung höherer Leistungen nach dem AsylbLG.

Als Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Rücknahme bzw. Abänderung der Leistungsbescheide für die streitgegenständlichen Zeiträume kommt allein § 44 Abs. 1 SGB X in Betracht, der nach § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG auch auf Leistungsbescheide nach dem AsylbLG Anwendung findet. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen (hier: Leistungen nach dem AsylbLG) zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der erkennende Senat anschließt, scheidet eine Nachzahlung von Leistungen nach dem AsylbLG aus, wenn die Bedürftigkeit inzwischen vorübergehend oder auf Dauer entfallen ist (vgl. BSG, Urteil vom 9.6.2011 – B 8 AY 1/10 R unter Berufung auf das Urteil vom 29.9.2009 – B 8 SO 16/08 R; Urteil vom 20.12.2012 – B 7 AY 4/11 R und Urteil vom 26.6.2013 – B 7 AY 3/12 R). Denn unter Berücksichtigung des § 44 Abs. 4 SGB X ("nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs", hier des AsylbLG) muss den Besonderheiten des jeweiligen Leistungsrechts Rechnung getragen und berücksichtigt werden, dass die Leistungen nach dem AsylbLG ebenso wie die Sozialhilfe nur der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dienen. Infolgedessen sind sie für zurückliegende Zeiten nur dann zu erbringen, wenn die Leistungen ihren Zweck noch erfüllen könnten, was nur der Fall ist, wenn die Bedürftigkeit ununterbrochen fortbesteht. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der ununterbrochen fortbestehenden Bedürftigkeit ist derjenige der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (vgl. BSG, Urteil vom 9.6.2011 – B 8 AY 1/10 R und Urteil vom 29.9.2009 – B 8 SO 16/08 R). Die Frage, ob die Bedürftigkeit der Klägerin durchgehend vorgelegen hat, ist – abhängig vom Aufenthaltsstatus der Klägerin – nach dem SGB II, SGB XII oder AsylbLG zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 20.12.2012 – B 7 AY 4/11 R).

Die Bedürftigkeit der Klägerin ist ab März 2015 entfallen und zwar unabhängig davon, über welchen Aufenthaltsstatus sie zum damaligen Zeitpunkt verfügte bzw. bis heute verfügt und aus welchem Gesetz sich deshalb der Maßstab für die Bedürftigkeitsprüfung ergibt. Denn sowohl nach dem AsylbLG als auch nach dem SGB XII und dem SGB II ist Voraussetzung für die Hilfebedürftigkeit, dass die betroffene Person ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht auseichend aus eigenen Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen oder Vermögen bestreiten kann (§ 7 Abs. 1 AsylbLG, § 19 Abs. 1 und Abs. 2 SGB XII, § 9 Abs. 1 SGB II). Gegen die Hilfebedürftigkeit der Klägerin spricht bereits, dass sie sich zum März 2015 selbst aus dem Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG abgemeldet hat und seitdem auch keine anderen öffentlichen Leistungen bezogen hat bzw. bezieht, solche also offensichtlich nicht benötigt (hat). Letztlich entscheidend ist, dass die Klägerin ihren eigenen Angaben zufolge ihren Lebensunterhalt aus Einkommen gedeckt hat und deckt, nämlich einerseits aus Erwerbseinkünften und andererseits aus Unterstützungsleistungen ihrer Verwandten. Angesichts dieser Angaben ist der Senat nicht veranlasst, von Amts wegen die genaue Höhe des Bedarfs und des Einkommens zu ermitteln, zumal die Klägerin trotz entsprechender schriftlicher Aufforderung auch keine Nachweise bezüglich ihrer Bedürftigkeit seit März 2015 erbracht und weder Unterlagen zu ihrem Einkommen noch zu ihren Unterkunftskosten vorgelegt hat.

Sind mangels durchgehender Bedürftigkeit der Klägerin vom Beklagten Leistungen rückwirkend nicht zu erbringen, so besteht unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der bestandskräftig gewordenen Bewilligungsentscheidungen für die streitgegenständlichen Zeiträume kein Anspruch auf Rücknahme dieser Bewilligungsentscheidungen nach § 44 Abs. 1 SGB X (vgl. BSG, Urteil vom 29.9.2009 – B 8 SO 16/08 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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