L 2 AS 1741/16 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 58 AS 3552/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 AS 1741/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 23.08.2016 geändert. Der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Antragsgegner wird abgelehnt. Die Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 26.07.2016 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31.12.2016 vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 301,- Euro monatlich nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Beigeladene trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das erst- und zweitinstanzliche Beschwerdeverfahren. Ansonsten haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig und begründet.

Das Sozialgericht hat diesen zu Unrecht dazu verurteilt, der Antragstellerin vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren. Das Bestehen eines Anordnungsanspruchs gegen den Antragsgegner ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht.

Anstelle des Antragsgegners ist die Beigeladene dazu zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit vom 26.07.2016 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31.12.2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 Satz 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Höhe des Regelsatzes von 404,- Euro, abzüglich der von der Antragstellerin bezogenen rumänischen Rente in Höhe von umgerechnet 103,- Euro monatlich, zu gewähren. Einen diesbezüglichen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund gegen die Beigeladene hat die Antragstellerin hinreichend glaubhaft gemacht.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (Anordnungsgrund). Der geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung -ZPO-). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. Bundessozialgericht -BSG-, Beschl. vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01, Rn. 5 bei juris).

Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (Bundesverfassungsgericht -BVerfG-, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 24 f. bei juris). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend berücksichtigt (BVerfG, Beschl. vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 26 bei juris; vgl. auch Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 86b Rn. 29a).

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes besteht kein Anordnungsanspruch der Antragstellerin auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gegenüber dem Antragsgegner. Die Antragstellerin ist nach der in gerichtlichen Eilverfahren in der Regel allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zwar erwerbsfähig und hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 i.V.m. §§ 8 und 9 SGB II, erfüllt die Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II ), sie ist aber nach derzeitigem Erkenntnisstand gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sie ein anderes Aufenthaltsrecht als dasjenige zum Zwecke der Arbeitsuche nicht hinreichend glaubhaft gemacht hat. Dies gilt insbesondere auch für das von ihr behauptete Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU -FreizügG/EU-). Nach dieser Vorschrift haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, ein Recht auf Einreise und Aufenthalt. Ein solcher ständiger rechtmäßiger Aufenthalt ist unter Berücksichtigung der zum jetzigen Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse äußerst fraglich. Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin sich seit ihrer erstmaligen Einreise im Jahre 2011 überhaupt durchgehend in Deutschland aufgehalten hat, geschweige denn, dass es sich um einen rechtmäßigen Aufenthalt handelt. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass sich die Antragstellerin allenfalls zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland befunden hat und es damit gerade an einem materiellen Aufenthaltsrecht fehlt. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist sie deshalb sowohl als Arbeitssuchende als auch, wenn sie keine Arbeit gesucht haben sollte, als wirtschaftlich Inaktive von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Das BSG hat diesbezüglich nunmehr in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, erst Recht auf diejenigen Unionsbürger anzuwenden sei, die sich ohne materielles Aufenthaltsrecht als wirtschaftlich Inaktive in Deutschland aufhalten (vgl. BSG, Urt. vom 03.12.2015 B 4 AS 44/15 R, Rn. 19 ff. bei juris; Urt. vom 16.12.2015 - B 14 AS 15/14, R, Rn. 20 ff. bei juris, Urteile vom 20.01.2016 - B 14 AS 35/15 R, Rn. 24 ff. bei juris, und B 14 AS 15/15 R, Rn. 18 ff. bei juris; Urt. vom 17.02.2016 - B 4 AS 24/14 R, Rn. 14 ff. bei juris; Urt. vom 17.03.2016 - B 4 AS 32/15 R, Rn. 15 ff. bei juris). Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sowie der Erst-Recht-Schluss sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes auch europarechtskonform (vgl. EuGH, Urt. in der Rechtssache "Dano" vom 11.11.2014 - C-333/13, und Urt. in der Rechtssache "Alimanovic" vom 15.09.2015 - C- 67/14).

Auch ein auf § 43 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) gegen den Antragsgegner als den zuerst angegangenen Leistungsträger gestützter Anordnungsanspruch lässt sich zur Überzeugung des erkennenden Senates nicht begründen. Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann nach dieser Vorschrift der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger - hier also der Antragsgegner - vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Er hat gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I Leistungen zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt.

Für die Anwendbarkeit des § 43 SGB I muss zunächst ein Anspruch auf Sozialleistungen iSd § 11 SGB I dem Grunde und der Höhe nach bestehen (Gutzler, in: Beck scher Online-Kommentar Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 42. Edition, Stand: 31.07.2016, § 43 SGB I, Rn. 4). Ein Leistungsanspruch nach dem SGB II ist im Falle der Antragstellerin, wie ausgeführt, nicht ersichtlich. In Betracht kommt allenfalls ein Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel SGB XII. Zwar geht das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitssuchende zuständigen Senate in Abstimmung mit dem für das Sozialhilferecht zuständigen 8. Senat davon aus, dass arbeitsuchende EU-Ausländer und auch solche Personen, die nicht einmal über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche verfügen und deshalb von dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen sind, einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben, wenn sie sich mehr als sechs Monate in Deutschland aufhalten. Dieser Anspruch soll sich aus einer entsprechenden Auslegung von §§ 21 Satz 1, 23 Abs. 1 Satz 3 bzw. § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII ergeben (vgl. BSG, Urteile vom 03.12.2015 - B 4 AS 59/13 R, Rn. 18 ff. m.w.N., B 4 AS 44/15 R, Rn. 39 ff.; Urteile vom 16.12.2015 - B 14 AS 15/14 R, Rn. 38 ff., B 14 AS 18/14 R, Rn. 36 ff., B 14 AS 33/14 R, Rn. 35 ff., Urteile vom 20.01.2016 - B 14 AS 15/15 R, Rn. 21 ff., B 14 AS 35/15 R, Rn. 32 ff., Urt. vom 17.02.2016 - B 4 AS 24/14 R, Rn. 18, zit. nach juris, sowie Urt. vom 17.03.2016 - B 4 AS 32/15 R, Rn. 22). Die Antragstellerin hält sich mehr als sechs Monate in Deutschland auf. Ihr wären daher nach der Rechtsprechung des BSG Sozialhilfeleistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zu gewähren, wobei das dort eingeräumte Ermessen auf Null reduziert sein soll, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, trotz des Zeitablaufs von einer Ermessensreduzierung abzusehen (s.o.). Insoweit wird in einem Hauptsacheverfahren dem Umstand nachzugehen sein, wie sich das Zusammenleben der Antragstellerin zumindest mit ihrer Tochter und ihrem Enkelkind in wirtschaftlicher Hinsicht im Einzelnen gestaltet. Folgt man jedoch dieser Rechtsprechung nicht - mittlerweile gibt es in der obergerichtlichen Rechtsprechung Entscheidungen, die mit beachtlichen Gründen im Widerspruch zu den genannten Entscheidungen des BSG stehen (vergleiche u.a. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. vom 22.1.2016 - L 29 AS 20/16 B ER, Rn. 24 ff.; LSG Rheinland- Pfalz, Beschl. vom 11.2.2016 - L 3 AS 668/15 B ER, Rn. 27 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER, Rn. 36 ff, 52; LSG Nordrhein-Westfalen -NRW-, Beschl. vom 07.03.2016 - L 12 SO 79/16 B ER, Rn. 27 ff, 36; LSG NRW, Beschl. vom 23.05.2016 - L 20 SO 139/16 B ER, Rn. 32 ff.; LSG NRW, Beschl. vom 25.05.2016 - L 9 SO 210/16 B ER, Rn. 9 ff.; aA aber LSG NRW, Beschl. vom 24.3.2016 - L 19 AS 289/16 B ER, Rn. 27 f., zit. nach juris) -, so fehlt es bereits an einem Leistungsanspruch der Antragstellerin sowohl nach dem SGB II als auch nach dem SGB XII.

§ 43 ist zudem grundsätzlich nicht auf Ansprüche anwendbar, bei denen die Leistungsgewährung im Ermessen des Leistungsträgers steht (Wagner, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, § 43 SGB I, Rn. 24 m.w.N.; aA Seewald, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 91. Ergänzungslieferung -EL-, Stand: März 2016, § 43 SGB I, Rn. 7 f.), denn diese Ansprüche entstehen nach § 40 Abs. 2 SGB I erst mit der Entscheidung der Behörde. Das BSG hat hinsichtlich des Anspruchs nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zwar in den dort entschiedenen Fällen eine Ermessensreduzierung auf Null angenommen, wenn sich das Aufenthaltsrechts des Ausländers verfestigt habe, was regelmäßig nach sechs Monaten der Fall sein soll, es hat aber auch ausgeführt, dass trotz dieses Zeitablaufs ausnahmsweise von einer Ermessensreduzierung abzusehen sei, wenn besondere Umstände vorlägen, die darauf schließen ließen, dass er nicht auf Dauer im Ausland verweilen werde oder wenn die Ausländerbehörde bereits konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthaltes eingeleitet habe (vgl. hierzu BSG, Urt. vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15, Rn. 58; Urt. vom 14.01.2016 - B 14 AS 35/15 R, Rn. 45, zit. nach juris). In einem anderen Verfahren hat es dementsprechend weitere Feststellungen dazu für erforderlich gehalten, ob die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen (BSG, Urt. vom 16.12.2015 - B 14 AS 33/14 R, Rn. 37 bei juris). Hieraus folgt, dass auch nach Auffassung des BSG nicht in allen Fallkonstellationen zwingend von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen ist, sondern auch bei einem mehr als sechs monatigen Aufenthalt im Einzelfall die Ausübung von Ermessen erforderlich sein kann. Zum Teil wird eine Verfestigung des Aufenthaltsrechts nach sechs Monaten des Aufenthalts ohnehin abgelehnt, da sich das Aufenthaltsrecht bei nicht rechtmäßigem Aufenthalt nicht einfach durch Zeitablauf verfestigen könne; EU-Ausländern sei zumutbar, in ihr Heimatland zurückzukehren und sich damit selbst zu helfen (LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. vom 07.07.2016 - L 9 SO 12/16 B ER, Rn. 31 ff. bei juris). Da ein Leistungsanspruch nach dem SGB XII "dem Grunde nach" noch nicht unstreitig feststeht, fehlt es zur Überzeugung des Senates bereits insoweit an der Anwendbarkeit von § 43 SGB I (Wagner, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, § 43, Rn. 23).

Gegen eine Anwendbarkeit von § 43 SGB I spricht weiter, dass die Norm über ihren Wortlaut hinaus weiter voraussetzt, dass über die Frage, wer den bestehenden Anspruch als Leistungsträger erfüllen müsse, ein Streit im Sinne eines negativen Kompetenzkonfliktes besteht (Gutzler, in: Beck scher Online-Kommentar Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 42. Edition, Stand: 31.07.2016, § 43 SGB I, Rn. 6; Baier, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 91. EL, Stand: März 2016, § 43 SGB I, Rn. 7; Seewald, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 90. EL, Stand: Juni 2016, § 43 SGB I, Rn. 10). Danach müssten mindestens zwei Leistungsträger, in deren Leistungsbereich die begehrte Leistung fällt, eine Zuständigkeit ablehnen (vgl. schon BSG, Urt. vom 27.04.1989 - 9/9a RV 44/87, Rn. 14 bei juris). Dabei genügt im Hinblick auf den Zweck der Regelung, eine möglichst schnelle Leistung zu ermöglichen, auch die vorläufige Verneinung der Zuständigkeit, die nicht durch Verwaltungsakt erfolgen muss (vgl. Mrozynski, SGB I, 5. Aufl. 2014, § 43, Rn. 10). Der im Beschwerdeverfahren beigeladene örtliche Träger der Sozialhilfe ist jedoch zuvor gar nicht mit möglichen Leistungsansprüchen der Antragstellerin befasst gewesen, ist diesen, da er der oben zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu einem Leistungsanspruch von wirtschaftlich inaktiven EU-Ausländern nicht folgt, schriftsätzlich nunmehr sogar ausdrücklich entgegen getreten. Damit liegen auch unter diesem Aspekt die Voraussetzungen für eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistungserbringung nach § 43 SGB I entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht vor.

Der Senat hat aber auch insoweit deutliche Bedenken gegen dessen Anwendbarkeit in Fallkonstellationen der vorliegenden Art, als § 43 SGB I auf der Rechtsfolgenseite grundsätzlich die Ausübung von Ermessen seitens des zuerst angegangenen Leistungsträgers voraussetzt, es sei denn, der potentiell Leistungsberechtigte habe ausdrücklich Leistungen nach § 43 SGB I beantragt. Einen entsprechenden Antrag hat die Antragstellerin nicht gestellt; dieser ist wegen der völlig anderen Zielrichtung auch nicht in dem Leistungsantrag nach dem SGB II enthalten (vgl. Gutzler, in: Beck scher Online-Kommentar Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 42. Edition, Stand: 31.07.2016, § 43 SGB I, Rn. 3 m.w.N.; Seewald, in: Kasseler Kommentar zum Sozialrecht, § 43 SGB I, Rn. 6 m.w.N.; aA LSG NRW, Beschl. vom 02.06.2016 - L 7 AS 955/16 B, Rn. 14 bei juris). Auch das Bundessozialgericht (stRspr; vgl zuletzt BSG, Urt. vom 29.04.2015 B 4 AS 31/14 R, Rn. 23 bei juris m.w.N.; im offensichtlichen Widerspruch zu ihrer oben zitierten Entscheidung: LSG NRW, Beschl. vom 21.07.2016 L 7 AS 1045/16 B ER, Rn. 16 bei juris) sieht vorläufig bewilligte Leistungen als aliud gegenüber endgültigen Leistungen an, deren Bewilligung es auch keine Bindungswirkung für die endgültige Leistung zumisst, mithin gerade nicht als in der Beantragung endgültiger Leistungen enthaltenes Minus. Auch wenn man eine Antragstellung nach § 43 Abs. 1 SGB I während des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens für nachholbar hielte (so Baier, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, 91. EL, Stand: März 2016, § 43 SGB I, Rn. 10), ist eine solche jedoch auch insoweit nicht erfolgt. Insbesondere lässt sich die angeregte Beiladung des örtlichen Trägers der Sozialhilfe nicht als Antragstellung im Sinne von § 43 Abs. 1 SGB I verstehen, zielt doch die Beiladung gerade nicht auf eine Verpflichtung des zuerst angegangenen Sozialleistungsträgers zur Erbringung vorläufiger Leistungen ab. Mangels Antragstellung steht die Erbringung von Leistungen durch den Antragsgegner als erstangegangenem Leistungsträger daher in dessen Ermessen, so dass sich der Umfang der gerichtlichen Überprüfung nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG richtet. Dass sich der Entscheidungsspielraum der Behörde hinsichtlich des Ob und des Wie hier im Wege der sog. Ermessensreduzierung auf Null auf eine vorläufige Leistungserbringung in dem vom Sozialgericht ausgesprochenen Umfang verdichtet haben sollte, ist nicht erkennbar. Vielmehr spricht aus Sicht des erkennenden Senates dagegen, dass der Antragstellerin keinerlei Nachteile entstehen, wenn sie nach Ablehnung ihres Leistungsantrages nach dem SGB II an den örtlichen Träger der Sozialhilfe verwiesen wird. Hinsichtlich der nach § 18 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erforderlichen Kenntnis des Sozialhilfeträgers ist auf die Kenntnis des Jobcenters zu verweisen (BSG, Urt. vom 20.01.2016 - B 14 AS 35/15 R, Rn. 33 bei juris mwN). Die zur Prüfung des Bestehens eines Leistungsanspruchs nach beiden Systemen notwendigen Unterlagen sind bereits dem Jobcenter vorzulegen gewesen und stehen damit ohne weiteren Aufwand zur Verfügung. Zudem unterscheiden sich die Vorschriften, die Grund und Höhe eines Leistungsanspruch normieren, im SGB II und XII in wesentlicher Hinsicht und können - obwohl beide staatliche Fürsorgeleistungen zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums darstellen - auch der Höhe nach zu differierenden Leistungen bzw. sogar zum Verneinen eines Leistungsanspruchs nach dem einen oder anderen Leistungssystem führen: Entsprechend den unterschiedlichen Zielsetzungen beider Gesetze unterscheiden sich die Regelungen des SGB II und des SGB XII beispielsweise deutlich bei der Frage, in welcher Höhe Einkommen oder Vermögen, vgl. §§ 11 ff. SGB II, 82 SGB XII, 12 SGB II, 90 SGB XII, anzurechnen ist, ganz wesentlich. Im SGB XII sind Absetzbeträge für Erwerbstätige über § 82 Abs. 3 anders gestaltet als im SGB II, vgl. § 11b Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 SGB II. Bei der Vermögensanrechnung bestehen ebenfalls deutliche Unterschiede, vgl. §§ 12 SGB II und 90 SGB XII. Die Absetzbeträge nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 SGB II sind deutlich großzügiger gestaltet als im SGB XII. Während ein angemessenes Kraftfahrzeug nach § 12 Abs. 3 Nr. 2 SGB II geschützt ist, besteht ein solcher Schutz im SGB XII im Regelfall nicht. Bei der Berechnung von Leistungen an eine Bedarfsgemeinschaft im SGB II ist das Einkommen eines Mitgliedes der Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II nach der sog. horizontalen Berechnungsweise anzurechnen, bei einer Einstandsgemeinschaft nach § 19 Abs. 3 und 4 SGB XII gilt die vertikale Berechnungsweise. Weitreichende Unterschiede gibt es weiter bei der Aufrechnung, § 43 SGB II bzw. § 26 SGB XII, oder bei Sanktionen, vgl. §§ 31 ff. SGB II, 39a SGB XII.

Der erkennende Senat vermag sich deshalb der Auffassung des 7. Senates des Landessozialgerichts NRW, der - in der Regel ohne weitere Prüfung, welcher Träger sich nach summarischer Prüfung in Eilverfahren als leistungsnäher aufdrängt - die Anwendbarkeit des § 43 SGB I in den oben genannten Fallkonstellationen bejaht (vgl. z.B. Beschl. vom 02.06.2016 - L 7 AS 955/16 B, Rn. 15 ff. bei juris), nicht anschließen. Er ist vielmehr der Auffassung, dass auch im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens derjenige Sozialleistungsträger zu verpflichten ist, dessen Zuständigkeit nach summarischer Prüfung überwiegend wahrscheinlich ist. Dies ist hier vorliegend aber die Beigeladene. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen sich eine mögliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers nicht aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen, wie bei der aus Rumänien stammenden Antragstellerin, sondern - wie hier - aus § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ergeben kann, weil der Ausländer nicht unter den Anwendungsbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens fällt.

Die Antragstellerin hat gegenüber dem Beigeladenen einen Anordnungsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in Form des Regelbedarfs nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII glaubhaft gemacht. Ausgehend von der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG, Urteile vom 03.12.2015 - B 4 AS 59/13 R, Rn. 18 ff. m.w.N., B 4 AS 44/15 R, Rn. 39 ff.; Urteile vom 16.12.2015 - B 14 AS 15/14 R, Rn. 38 ff., B 14 AS 18/14 R, Rn. 36 ff., B 14 AS 33/14 R, Rn. 35 ff., Urteile vom 20.01.2016 - B 14 AS 15/15 R, Rn. 21 ff., B 14 AS 35/15 R, Rn. 32 ff., Urt. vom 17.02.2016, B 4 AS 24/14 R, Rn. 18 sowie Urt. vom 17.03.2016 - B 4 AS 32/15 R, Rn. 22, zit. nach juris) stünde ihr nach summarischer Prüfung ein Leistungsanspruch zu, insbesondere hält sich die Antragstellerin mehr als sechs Monate in Deutschland auf. Die gegen diese Rechtsprechung des BSG ausgesprochenen Bedenken hält der Senat zwar durchaus für nachvollziehbar, geht aber davon aus, dass diese Bedenken zumindest im einstweiligen Rechtsschutzverfahren angesichts der eindeutigen höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG nicht dazu führen können, einen Anordnungsanspruch zu verneinen, der im Hauptsacheverfahren nach jetzigem Rechtsstand erfolgreich erstritten werden kann (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. vom 13.04.2016 - L 15 SO 53/16 B ER, Rn. 24 bei juris). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Senat über die Beschwerde im einstweiligen Verfahren auch bei einer Abweichung von der Rechtsprechung des BSG abschließend entscheidet, während er im Hauptsacheverfahren die Revision zulassen müsste und damit dem BSG die Möglichkeit geben würde, die Entscheidung zu korrigieren. Diese prozessuale Lage gebietet es - unabhängig von der Rechtsauffassung des Senates in einem Hauptsacheverfahren -, der Antragstellerin auch unter dem Gesichtspunkt der Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren existenzsichernde Leistungen zuzusprechen (ebenso LSG NRW, Beschl. vom 22.03.2016 - L 7 AS 354/16 B ER, Rn. 10 ff.; Beschl. vom 23.5.2016 L 20 SO 139/16 B ER, Rn. 52, Beschl. vom 25.05.2016 - L 9 SO 210/16 B ER, Rn. 9, Beschl. vom 21.04.2016 - L 6 AS 389/16 B ER, Rn. 25 ff., zit. nach juris).

Da die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, dass sie über keine existenzsichernden Leistungen verfügt, ist auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ihr sind daher die begehrten Regelleistungen abzüglich der Einkünfte aus der rumänischen Rente zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Der Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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