L 15 RF 34/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
15
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 RF 34/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Kostenbeschluss
Leitsätze
1. Der Bezug von Leistungen nach dem SGB XII steht einer Entschädigung für Verdienstausfall regelmäßig entgegen.
2. Die bloße, aufgrund eines Berufsabschlusses erlangte Möglichkeit zur Einkommenserzielung begründet weder einen tatsächlichen erlittenen Verdienstausfall noch ist eine derartige Möglichkeit entschädigungsrechtlich nach dem JVEG relevant.
Die Entschädigung des Antragstellers für die Wahrnehmung des Termins vor dem Bayer. Landessozialgericht am 21.07.2016 wird auf 38,75 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt eine Entschädigung nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG) wegen der Teilnahme an einem Gerichtstermin.

In dem am Bayer. Landessozialgericht (LSG) unter den Aktenzeichen L 7 AS 633/14 geführten Berufungsverfahren des dortigen Klägers und jetzigen Antragstellers (im Folgenden: Antragsteller) fand am 21.07.2016 eine mündliche Verhandlung statt. Der auf 13.00 Uhr angesetzte Gerichtstermin, zu dem der Antragsteller um 13.13 Uhr erschien, dauerte bis 13.20 Uhr. Das persönliche Erscheinen wurde im Gerichtstermin nachträglich angeordnet

Mit Entschädigungsantrag vom 10.10.2016 beantragte der Antragsteller, der ab dem Jahr 2005 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) erhalten hatte und im Anschluss daran seit Dezember 2009 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bezieht, die Entschädigung wegen seines Erscheinens beim Gerichtstermin vom 21.07.2016. Er gab an, zu Hause um 11.15 Uhr weggefahren und um 15.30 Uhr wieder zurück gewesen zu sein. Er begehrte eine Entschädigung für Zeitversäumnis und machte als Fahrtkosten ein Bayern-Ticket für 23,- EUR geltend.

Die Kostenbeamtin des Bayer. LSG gewährte eine Entschädigung in Form einer Barauszahlung in Höhe von insgesamt 38,75 EUR (15,75 EUR für Zeitversäumnis für die vom Antragsteller angegebene Abwesenheitszeit, 23,- EUR für Fahrtkosten).

Dagegen hat sich der Antragsteller mit Eingang am 19.10.2016 beim LSG gewandt und den Stundensatz von 3,50 EUR gerügt. Tatsächlich sei er "Dipl.-Betriebswirt und Wirtschaftsjurist". Diesbezüglich gebe es "Tarife". Auch sei eine "selbständige Tätigkeit im Bereich Investment-Erarbeitung eines renditestarken Fonds gegeben."

Der Senat hat die Akten des Hauptsacheverfahrens beigezogen.

II.

Die Festsetzung der Entschädigung erfolgt gemäß § 4 Abs. 1 JVEG durch gerichtlichen Beschluss, wenn wie hier der Berechtigte mit einem am 19.10.2016 beim LSG eingegangenen Schreiben sinngemäß die gerichtliche Festsetzung der Entschädigung dadurch beantragt, dass er sich gegen die Höhe der von der Kostenbeamtin festgesetzten Entschädigung wendet.

Die Entschädigung für die Wahrnehmung des Gerichtstermins am 21.07.2016 ist auf 38,75 EUR festzusetzen.

Beteiligte eines gerichtlichen Verfahrens sind gemäß § 191 Sozialgerichtsgesetz (SGG) wie Zeugen zu entschädigen, sofern es sich wie hier um ein gerichtskostenfreies Verfahren im Sinn des § 183 SGG handelt und ihr persönliches Erscheinen zu einem vom Gericht angesetzten Termin angeordnet oder nachträglich vom Gericht der Hauptsache für geboten erachtet worden ist. Die Entschädigung ergibt sich aus dem JVEG. Die Entschädigungstatbestände (für einen Zeugen) sind in § 19 JVEG aufgelistet.

1. Prüfungsumfang im Verfahren der gerichtlichen Festsetzung gemäß § 4 Abs. 1 JVEG

Die gerichtliche Festsetzung gemäß § 4 Abs. 1 JVEG stellt keine Überprüfung der vom Kostenbeamten vorgenommenen Ermittlung der Entschädigung oder Vergütung dar, sondern ist eine davon unabhängige erstmalige Festsetzung. Bei der Festsetzung durch den Kostenbeamten handelt es sich um eine lediglich vorläufige Regelung, die durch den Antrag auf gerichtliche Festsetzung hinfällig wird (vgl. Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 05.11.1968, Az.: RiZ (R) 4/68). Damit wird eine vorherige Berechnung der Beträge im Verwaltungsweg sowohl bei den Einzelpositionen als auch im Gesamtergebnis gegenstandslos. Das Gericht hat daher eine vollumfassende Prüfung des Entschädigungs- oder Vergütungsanspruchs vorzunehmen, ohne auf Einwände gegen die im Verwaltungsweg erfolgte Festsetzung beschränkt zu sein. Die vom Gericht festgesetzte Entschädigung oder Vergütung kann daher auch niedriger ausfallen, als sie zuvor vom Kostenbeamten festgesetzt worden ist; das Verbot der reformatio in peius gilt nicht (h.M., vgl. z.B. Beschluss des Senats vom 08.05.2014, Az.: L 15 SF 42/12; Meyer/Höver/Bach/Oberlack, JVEG, 26. Aufl. 2014, § 4, Rdnr. 12 - m.w.N.).

2. Entschädigung für Verdienstausfall

Dem Antragsteller steht keine Entschädigung für Verdienstausfall gemäß § 22 JVEG zu.

Ein Anspruch auf Entschädigung für Verdienstausfall scheitert nicht schon an der Ausschlussfrist des § 2 Abs. 1 Satz 1 JVEG. Der Antragsteller hat eine Entschädigung für Verdienstausfall erstmals zusammen mit seinem Antrag gemäß § 4 Abs. 1 JVEG und damit kurz vor Ablauf der Ausschlussfrist, die am 21.07.2016 zu laufen begonnen und am 21.10.2016 geendet hat, am 19.10.2016 beim LSG beantragt. Die Voraussetzungen für eine Entschädigung für Verdienstausfall sind aber nicht erfüllt.

In seiner Grundsatzentscheidung vom 04.12.2013, Az.: L 15 SF 226/11, hat sich der Senat umfassend mit der Frage der Entschädigung für Verdienstausfall auseinander gesetzt. Er hat dabei - kurz zusammen gefasst - folgende Kernaussagen getroffen:

* Um das Tatbestandsmerkmal des Verdienstausfalls im Sinn des § 22 JVEG bejahen zu können, bedarf es (nur) des Nachweises, dass überhaupt ein solcher Ausfall entstanden ist, nicht aber in welcher Höhe. * Dieser Nachweis ist im Vollbeweis zu führen, da das JVEG keine Beweiserleichterung enthält. * Dieser Beweismaßstab gilt sowohl bei abhängig beschäftigten als auch bei selbständig tätigen Anspruchstellern. Wegen der bei letzterer Berufsgruppe wesensmäßig vorliegenden Nachweisschwierigkeit ist durch das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden freien Beweiswürdigung gemäß § 128 Abs. 1 SGG aber sicher zu stellen, dass der gesetzlich vorgesehene Anspruch auf Entschädigung für Verdienstausfall nicht faktisch leer läuft. * Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein Verdienstausfall entstanden ist, ist die Beurteilung am Tag des Gerichtstermins, der den Entschädigungsanspruch nach dem JVEG zur Folge hat. Spätere Entwicklungen bleiben bei der Festsetzung der Entschädigung unberücksichtigt. * Zu entschädigen ist gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 JVEG die nach objektiven Maßstäben zu ermittelnde "gesamte Dauer der Heranziehung einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten", nicht mehr wie früher unter Geltung des Gesetzes über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen die "versäumte Arbeitszeit". Die konkret ausgefallene Arbeitszeit ist daher nicht zu ermitteln; eine fiktive Mittagspause kann nicht in Abzug gebracht werden (vgl. auch Beschluss des Senats vom 06.12.2013, Az.: L 15 SF 39/13). * Bei der Höhe des Stundensatzes werden bei Selbständigen regelmäßig deren Angaben zum Stundenverdienst als richtig zugrunde zu legen sein. Dies gilt nur dann nicht, wenn es Gesichtspunkte gibt, die Zweifel an der Richtigkeit der Angaben offensichtlich auf der Hand liegen lassen, wobei die Anforderungen an die Prüfpflicht der Kostenbeamten und Kostenrichter nicht überspannt werden dürfen.

An diesen Grundsätzen hat sich auch im hier zu entscheidenden Fall die Beantwortung der Frage zu orientieren, ob und wenn ja in welcher Höhe dem Antragsteller eine Entschädigung für Verdienstausfall zu gewähren ist.

Bei Würdigung sämtlicher Umstände ist der Nachweis, dass durch den Gerichtstermin überhaupt ein Verdienstausfall entstanden ist, nicht geführt.

Bei der Überzeugungsbildung, ob ein Verdienstausfall an sich, d.h. unabhängig von der konkreten Höhe, eingetreten ist, dürfen die Anforderungen an die Prüfpflicht der Kostenbeamten und Kostenrichter nicht nur im Sinn der Praktikabilität und Verwaltungsökonomie (Leitgedanke der Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Grundsatzbeschlüsse vom 14.05.2012, Az.: L 15 SF 276/10 B E, vom 18.05.2012, Az.: L 15 SF 104/11, vom 22.06.2012, Az.: L 15 SF 136/11, vom 30.07.2012, Az.: L 15 SF 439/11, vom 08.04.2013, Az.: L 15 SF 305/10, vom 08.10.2013, Az.: L 15 SF 157/12 B, vom 04.12.2013, Az.: L 15 SF 226/11, vom 17.12.2013, Az.: L 15 SF 275/13, vom 08.05.2014, Az.: L 15 SF 42/12, vom 03.06.2014, Az.: L 15 SF 402/13 E, vom 03.11.2014, Az.: L 15 SF 254/12, vom 04.11.2014, Az.: L 15 SF 198/14, vom 14.01.2015, Az.: L 15 SF 239/12 B, vom 10.03.2015, Az.: L 15 RF 5/15, vom 11.05.2015, Az.: L 15 RF 14/15, vom 08.06.2015, Az.: L 15 SF 255/14 E, vom 04.01.2016, Az.: L 15 SF 171/13 E, vom 08.03.2016, Az.: L 15 SF 209/15, vom 14.03.2016, Az.: L 15 RF 2/16, vom 08.04.2016, Az.: L 15 SF 81/15, und vom 27.07.2016, Az.: L 15 RF 9/16), sondern insbesondere auch um zu vermeiden, dass die gesetzliche Regelung des § 22 JVEG für Selbständige ins Leere läuft, nicht überspannt werden (vgl. Beschluss des Senats vom 04.12.2013, Az.: L 15 SF 226/11). Gleichwohl können unbelegte Angaben zu einer selbständigen Tätigkeit und einem behaupteten Verdienstausfall nicht völlig ungeprüft oder ohne Plausibilitätsprüfung einer Entschädigung zugrunde gelegt werden. Vielmehr muss - im Rahmen der niederschwelligen Prüfpflichten - nachgewiesen sein, dass die selbständige Tätigkeit von einer gewissen Nachhaltigkeit und Regelmäßigkeit ist (vgl. Landgericht - LG - Stendal, Beschluss vom 20.11.2008, Az.: 23 O 515/07). Denn wenn ein Selbständiger nur mit deutlich reduziertem zeitlichem Einsatz seiner Tätigkeit nachgeht, wird er oft in der Lage sein, sich die Arbeitszeit frei einzuteilen. Daraus ergibt sich die durchaus nicht fernliegende Möglichkeit, dass er durch den Gerichtstermin überhaupt keinen Verdienstausfall erleidet, weil er die von ihm im Rahmen der beruflichen Tätigkeit zu erbringenden Arbeiten an einem anderen Tag erledigen kann und wegen des Gerichtstermins überhaupt keinen Auftrag ablehnen muss (vgl. Beschluss des Senats vom 08.04.2015, Az.: L 15 SF 387/13; LG Rostock, Beschluss vom 15.11.2002, Az.: 2 T 23/01). Diese nicht fernliegende Möglichkeit, dass durch den Gerichtstermin überhaupt kein Verdienstausfall eingetreten ist, steht dem im Vollbeweis zu erbringenden Nachweis eines Verdienstausfalls entgegen. Denn Vollbeweis bedeutet, dass die zu beweisende Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein muss (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderliche Tatsache mit absoluter Gewissheit feststeht. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsache zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 1/92).

Kann nur von einer nicht regelmäßig oder nur mit zeitlich reduziertem Aufwand ausgeübten selbständigen Tätigkeit ausgegangen werden, wird daher ein Anspruch auf Entschädigung für Verdienstausfall regelmäßig scheitern (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 28.07.1998, Az.: L 19 RJ 257/95.Ko; Beschlüsse des Senats vom 02.07.2012, Az.: L 15 SF 12/12, und vom 22.10.2015, Az.: L 15 RF 24/15). Daraus folgt beispielsweise, dass eine Entschädigung für Verdienstausfall ausgeschlossen sein dürfte, wenn Leistungen nach dem SGB II bezogen werden, da der Bezug von Leistungen nach dem SGB II - von seltenen Ausnahmefällen abgesehen - Beleg für die fehlende Regelmäßigkeit und Nachhaltigkeit der selbständigen Tätigkeit ist; dies gilt jedenfalls bei Leistungsbezug nach dem SGB II in Höhe des Regelsatzes (vgl. Beschlüsse des Senats vom 08.04.2015, Az.: L 15 SF 387/13, vom 16.04.2015, Az.: L 15 SF 330/14, und vom 01.03.2016, Az.: L 15 RF 28/15).

Im vorliegenden Fall steht der Annahme eines im Vollbeweis nachgewiesenen Verdienstausfalls entgegen, dass der Antragsteller seit dem Jahr 2005 Leistungen nach dem SGB II und im Anschluss daran seit Dezember 2009 Leistungen nach dem SGB XII bezieht. Von einer selbstständigen Tätigkeit in einem Umfang, der über den einer nur unregelmäßigen oder mit zeitlich erheblich reduziertem Aufwand ausgeübten Tätigkeit hinausgeht, kann daher nicht ausgegangen werden. Anderenfalls wäre der Leistungsbezug des Klägers nach dem SGB XII nicht zu erklären. Sofern der Antragsteller zur Begründung seines Antrags geltend, dass er "Dipl.-Betriebswirt und Wirtschaftsjurist" sei und es dafür entsprechende "Tarife" gebe, ist darauf hinzuweisen, dass mit der Erlangung von beruflichen Abschlüssen oder früheren Tätigkeiten genauso wie mit durchschnittlichen Berufseinkommen für bestimmte Berufsgruppen ein Verdienstausfall nicht begründet werden kann. Die bloße, aufgrund eines Berufsabschlusses erlangte Möglichkeit zur Einkommenserzielung begründet weder einen tatsächlich erlittenen Verdienstausfall noch ist eine derartige Möglichkeit entschädigungsrechtlich nach dem JVEG relevant. Weitergehende Hinweise zur behaupteten selbstständigen Tätigkeit im Bereich einer "Investment-Erarbeitung" hat der Antragsteller nicht vorgelegt, zumal daraus offensichtlich kein relevantes Einkommen bezogen wird; anderenfalls würden Leistungen nach dem SGB XII nicht gewährt.

Eine Entschädigung für Verdienstausfall steht dem Antragsteller daher nicht zu.

3. Entschädigung für Zeitversäumnis

Es steht dem Antragsteller aber eine Entschädigung für Zeitversäumnis im Sinn des § 20 JVEG für die von ihm mit 4,25 Stunden angegebene und objektiv erforderliche, gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 JVEG auf 4,5 Stunden aufgerundete Abwesenheitszeit zu. Bei einem gemäß § 20 JVEG zugrunde zu legenden Stundensatz von 3,50 EUR ergibt sich eine Entschädigung in Höhe von 15,75 EUR.

4. Fahrtkostenersatz

Es sind Fahrtkosten gemäß § 5 Abs. 1 JVEG für das vom Antragsteller erworbene Bayern-Ticket in Höhe von 23,- EUR zu ersetzen.

Dem Antragsteller steht daher für sein Erscheinen beim Gerichtstermin am 21.07.2016 eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 38,75 EUR zu.

Das LSG hat über die Festsetzung der Entschädigung gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 JVEG als Einzelrichter zu entscheiden gehabt.

Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG). Sie ergeht kosten- und gebührenfrei (§ 4 Abs. 8 JVEG).
Rechtskraft
Aus
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