S 5 AY 13/16 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 5 AY 13/16 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Asylbewerbern sind auch dann existenzsichernde Leistungen in vollem Um-fang zu gewähren, wenn sie in einem anderen EU-Staat internationalen Schutz genießen, ihr weiterer Aufenthalt in der Bundesrepublik aber faktisch geduldet wird.
I. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 05.10.2016 gegen den Bescheid vom 20.09.2016 wird angeordnet. II. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller dem Grunde nach zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren ungekürzte Leistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).

Die Antragstellerin zu 1. (geb. am xx.xx.1977) und ihre beiden Söhne, die Antragsteller zu 2. und 3. (geboren am xx.xx.2000 bzw. am xx.xx.2002) sind russische Staatsangehörige. Sie reisten aus der Russischen Föderation in das Bundesgebiet ein und beantragten am 20.12.2012, ihnen Asyl zu gewähren. Im Februar 2013 wurden sie dem Antragsgegner zugewiesen. Der Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 06.06.2013 als unzulässig abgelehnt, nachdem von dort festgestellt worden war, dass den Antragstellern subsidiärer Schutz in Polen gewährt worden war. Die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 2. wurden daraufhin am 05.04.2016 nach Polen abgeschoben. Der Antragsteller zu 3. war von der Polizei nicht angetroffen worden. Die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 2. reisten am 22.04.2016 wieder in die Bundesrepublik ein und bezogen mit dem Antragsteller zu 3. vom Antragsgegner zunächst sogenannte Grundleistungen nach § 3 AsylbLG (Bescheid vom 12.05.2016). Ihnen wurde eine Duldung bis zum 03.01.2017 ausgestellt.

Am 26.08.2016 hörte der Antragsgegner die Antragsteller an. Er beabsichtige, den Antragstellern ab dem 01.10.2016 Leistungen lediglich nach § 1 a AsylbLG zu gewähren, da diese bereits über subsidiären Schutz in Polen verfügten. Wie angekündigt erging schließlich der Bescheid vom 20.09.2016. Der Antragsgegner bewilligte den Antragstellern vom 01.10.2016 an gekürzte Leistungen gem. § 1 a Abs. 4 AsylbLG in Höhe von insgesamt 1.001,53 EUR für Oktober 2016, 1.005,10 EUR für November 2016 und 1.037,09 EUR für Dezember 2016. Die Einschränkung der Leistungen befristete er auf 6 Monate.

Dagegen haben die Antragsteller Widerspruch eingelegt am 05.10.2016. § 1 a Abs. 4 AsylbLG sei verfassungswidrig. Da die Antragsteller vor dem 20.07.2015 Asyl beantragt hätten, dürften ihre Anträge nicht unter Hinweis auf subsidiären Schutz in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union abgelehnt werden. Das Absenken der Leistungen unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum aus migrationspolitischen Gründen sei ausgeschlossen (Bezug auf Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).

Daneben haben sich die Antragsteller ebenfalls am 05.10.2016 an das Sozialgericht Leipzig gewandt und Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemacht.

Sie beantragen sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 05.10.2016 gegen den Bescheid vom 20.09.2016 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er hält den angefochtenen Bescheid für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 20.09.2016 bestehen.

Nach § 86 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt gem. § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Ein solcher Fall liegt hier vor, da § 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG i.d.F. vom 31.07.2016 (BGBl. I, 1939) vorsieht, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit welchem eine Einschränkung des Leistungsanspruchs nach § 1 a AsylbLG festgestellt wird, keine aufschiebende Wirkung haben.

Der Antrag der Antragsteller ist vor diesem Hintergrund sachdienlich gem. § 123 SGG dahin auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gem. § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG begehren. Der Antrag ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 20.09.2016 bestehen.

Die Antragsteller sind unstreitig dem Grunde nach leistungsberechtigt gem. § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG, da sie eine Duldung nach § 60 a des Aufenthaltsgesetzes besitzen. Daher haben sie grundsätzlich Anspruch auf Leistungen nach § 3 AsylbLG. Abweichend davon sieht § 1 a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG vor, dass geduldeten Leistungsberechtigten – wie den Antragstellern – lediglich gekürzte Leistungen nach § 1 a Abs. 2 AyslbLG zu gewähren sind, sofern bereits ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat internationalen Schutz oder aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt hat, sofern der internationale Schutz oder das aus anderen Gründen gewährte Aufenthaltsrecht fortbesteht.

Ob die Voraussetzungen dieser Regelung vorliegen, ist derzeit noch offen. Denn der Antragsgegner hat bisher weder ausgeführt noch durch die entsprechenden Dokumente nachgewiesen, dass sich Polen nach wie vor dazu verpflichtet sieht, den Antragstellern internationalen Schutz und ein damit verbundenes Aufenthaltsrecht einzuräumen. Entsprechende Ermittlungen lassen sich durch das Gericht nicht im Rahmen eines Eilverfahrens führen.

Darüber hinaus bestehen zumindest Zweifel daran, ob die Anspruchseinschränkung nach § 1 a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG verfassungsgemäß ist. Insbesondere wäre im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens zu prüfen, ob die Annahme des Gesetzgebers, dass Leistungsberechtigten, welchen in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat internationaler Schutz oder aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist, bei dort fortbestehendem Aufenthaltsrecht tatsächlich regelhaft ein niedrigerer Bedarf in Deutschland entsteht im Vergleich zu den Leistungsbeziehern nach § 3 AsylbLG.

Die Frage ist aufzuwerfen, da sich der Anspruch eines jeden Menschen auf die Sicherung seines Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz ergibt (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11; Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.). Auf die Möglichkeit der Heimkehr des Ausländers in sein Herkunftsland kommt es bei dieser Betrachtung nicht an. Diese Möglichkeit ist im Hinblick auf die Ausgestaltung des genannten Grundrechts als Menschenrecht schon verfassungsrechtlich jedenfalls solange unbeachtlich, wie der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland von den zuständigen Behörden faktisch geduldet wird (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R).

Dagegen sprechen auch nicht die Argumente in den Entscheidungen der Gerichte, die sich der Auslegung des BSG zu § 23 SGB XII nicht anzuschließen vermögen. So hat das LSG Niedersachsen- Bremen in seinen Beschlüssen vom 22.02.2016 und vom 17.03.2016 (Az.: L 9 AS 1335/15 B ER und L 9 AS 1580/15 B ER) ausgeführt, dass aus der Menschenwürde nicht abgeleitet werden könne, dass ein Gemeinwesen ausnahmslos jeden Aufenthalt durch laufende Leistungen zu alimentieren habe. Schließlich stehe es den Betroffenen frei, in ihr Heimatland zurückzukehren. Die Verfassungsmäßigkeit der Leistungsausschlüsse nach SGB II und SGB XII könne nicht davon abhängen, dass die Ausländerbehörden ein Verwaltungsverfahren einleiteten und versuchten festzustellen, dass ein Recht auf Aufenthalt nicht bestehe, da in der Folge Ansprüche nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG entstehen könnten und der Aufenthalt dann wieder zu alimentieren sei. Das LSG Hamburg geht davon aus, dass bei möglicher und zumutbarer Rückkehr in das Heimatland regelmäßig nur die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthalts in Betracht zu ziehen sei (Beschluss vom 15.10.2015 – L 4 AS 403/15 B ER). Denn schließlich bestehe ein Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem Herkunftsland, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.02.2016 – L 3 AS 668/15 B ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 13.10.2015 – L 16 AS 612/15 ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 – L 1 AS 2338/15 ER-B).

Diese Ansichten vermögen nicht zu überzeugen. Es trifft zwar zu, dass es der politischen Verantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers im Rahmen seiner insoweit grundsätzlichen freien Entscheidung obliegt zu bestimmen, welche Sozialleistungen in welcher Höhe gewährt werden und die dazu notwendigen Wertungen vorzunehmen (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11.02.2016 – L 3 AS 668/15 B ER). Allerdings hat sich der Gesetzgeber bei seiner Wertung wiederum im Rahmen des Grundgesetzes zu halten und demgemäß den Anspruch auf die Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1, Art 20 GG zu beachten (Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG). Dabei handelt es sich um ein Menschenrecht, welches deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Insofern muss ein Leistungsanspruch eingeräumt werden (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11).

Bei der Bestimmung der Höhe der derart gebotenen Leistungen verfügt der Gesetzgeber über einen Gestaltungsspielraum; er hat diese Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe der Betroffenen auszurichten (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/20, 1 BvL 2/11). Will der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen, so darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur insofern möglich, als deren Bedarf von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig und transparent anhand des tatsächlichen Bedarfs belegt werden kann. Die menschenwürdige Existenz einschließlich des soziokulturellen Minimums muss ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden. Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder –perspektive rechtfertigt es nicht, den Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Migrationspolitische Erwägungen können eine geringere Bemessung der Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge nicht rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Vor diesem Hintergrund dürfte der von den oben genannten Landessozialgerichten ausgemachte (einfachgesetzliche) "Nachrang" des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber den Herkunftsländern der Betroffenen verfassungsrechtlich nicht haltbar sein.

Maßgeblich ist daher – vor dem Hintergrund der zitierten abstrakten Rechtsätze der herangezogenen Urteile des BVerfG - worauf das BSG ausdrücklich hingewiesen hat: der tatsächliche Aufenthalt des jeweiligen Ausländers in Deutschland und der Umstand, dass sein Aufenthalt von den dafür zuständigen Ausländerbehörden (faktisch) geduldet wird. Es ist Aufgabe der Ausländerbehörden, den Aufenthaltsstatus zu prüfen, gegebenenfalls aufenthaltsbeendende Maßnahmen in Betracht zu ziehen und durchzusetzen.

Für seine gegenteilige Auffassung hat das LSG Niedersachsen-Bremen in den zitierten Entscheidungen ausgeführt, dass dies nicht angehen könne; dies vor allem mit Blick auf die dann mögliche "Alimentierung" betroffener Ausländer nach dem AsylbLG. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat in seinem Beschluss vom 07.03.2016 (L 12 SO 79/16 B) ausländerrechtliche Maßnahmen im Rahmen der Ermessensbetätigung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII für unerheblich erachtet. Der Betroffene wisse auch ohne eine solche Verfügung um die Möglichkeit seiner Ausreise, welche als Akt der Selbsthilfe zu verstehen sei.

Die Kammer geht mit dem LSG Nordrhein-Westfalen in der genannten Entscheidung davon aus, dass die Leistungsträger nach dem SGB II und SGB XII keine rechtlichen Möglichkeiten haben, die Ausländerbehörden zu den von ihnen für sinnvoll erachteten Maßnahmen zu veranlassen. Die Träger der Sozialhilfe sind jedoch ebenfalls nicht dazu berechtigt, die Ausreise von Ausländern in ihr Heimatland, in einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einen Drittstaat dadurch herbeizuführen, dass deren menschenwürdiges Existenzminimum in Deutschland nicht mehr gesichert wird. Dieses ist unabhängig von der Aufenthaltsdauer zu sichern (s.o.). Die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen zur Beendigung des Aufenthalts haben die Ausländerbehörden zu treffen. Bis dahin ist das menschenwürdige Existenzminimum zu gewährleisten. Mit Blick auf die Urteile des BVerfG haben die Antragsteller einstweilen Anspruch auf ungekürzte Leistungen nach § 3 AsylbLG.

Die Sache ist eilbedürftig, da das Existenzminimum der Antragsteller nicht gesichert ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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