S 18 P 123/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 18 P 123/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 01.06.2013 bis zum 03.02.2016 die Kosten für ein Hausnotrufsystem in Höhe von 30 Prozent nach Maßgabe der zwischen ihnen bestehenden vertraglichen Bestimmungen zu erstatten. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die anteilige Kostenübernahme für ein Hausnotrufsystem.

Die 1928 geborene Klägerin ist privat pflegepflichtversichert mit einem Erstattungsanteil von 30 % der Aufwendungen neben einem Beihilfeanspruch von 70 %. Die private Pflegepflichtversicherung wird über die Postbeamtenkrankenkasse (im Folgenden: Beklagte) durchgeführt.

Die Klägerin lebte zunächst allein in einer Mietwohnung in einer Wohnanlage mit altengerechten Wohnungen. Ein Pflegedienst war lediglich für eine dreimal tägliche Medikamentengabe eingesetzt.

Am 17.08.2013 wurde die Klägerin im Auftrag der Beklagten durch die Firma N begutachtet. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin die Pflegestufe 0 vorliegt. Es bestünde ein Grundpflegebedarf von 3 Minuten täglich. Die Klägerin könne allein aufstehen und gehen. Sie erhalte einmal in der Woche eine Teilhilfe beim Duschen aufgrund von Schwindelanfällen. Das Waschen von Rücken, Beinen und Haaren werde übernommen, ansonsten würde sich die Klägerin allein waschen. Einfachste Anweisungen könne die Klägerin umsetzen, ihr Alter, Geburtsjahr sowie das aktuelle Jahr kannte sie nicht und sei auch nicht in der Lage gewesen, sich drei Worte zu merken. Es liege eine demenzielle Entwicklung bei ihr vor. Ein Hausnotrufsystem könne nicht empfohlen werden, da die Klägerin hiermit nicht umgehen könne.

Am 20.09.2013 erfolgte eine Leistungszusage der Beklagten für Leistungen der Pflegestufe 0 in Höhe von 30 % der Leistungen ausgehend von Pflegegeld von 120,00 EUR und zusätzlichen Betreuungsleistungen von bis zu 100,00 EUR ab Juni 2013.

Die Versorgung mit einem Hausnotrufsystem als Hilfsmittel lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 24.09.2013 ab.

Hiergegen wandte sich die Tochter der Klägerin als Bevollmächtigte. Sie teilte mit, dass die Klägerin allein lebe und durch das Hausnotrufsystem eine selbständigere Lebensführung möglich sei. Bei der Begutachtung sie lediglich gefragt worden, ob ein solches System vorhanden sei.

Mit Schreiben vom 30.10.2013 teilte die Beklagte mit, dass es bei der getroffenen Entscheidung verbleibe.

Hiergegen hat die Klägerin am 27.11.2013 Klage erhoben. Im Rahmen eines Erörterungstermins im Juli 2014 hat die Klägerin angegeben, dass sie sich morgens selbst wasche und anziehe sowie sich mittags etwas zu essen koche. Einkäufe würde sie zusammen mit ihrer Tochter erledigen. Diese übernehme auch Bankgeschäfte und derartige Angelegenheiten. Im Rahmen eines weiteren Gutachtens vom 15.09.2014 hat die Firma N festgestellt, dass bei der Klägerin ein Grundpflegebedarf von nunmehr 63 Minuten und eine Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufe 1 seit Juli 2014 bestehen. Die Alltagskompetenz sei in erhöhtem Maße eingeschränkt. Die Klägerin leide an einer mittelgradig ausgeprägten Demenz. Sie sei zu allen Qualitäten mangelhaft orientiert. In der Wohnung finde sie sich noch zu Recht. Auf Nachfrage habe die Klägerin zum Hausnotrufsystem angegeben, dass sie damit Hilfe holen könne. Dies sei jedoch fraglich. Bei einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz sei die Versorgung mit einem Hausnotruf grundsätzlich ausgeschlossen. Der Hausarzt der Klägerin hat in einem Befundbericht aus August 2015 mitgeteilt, dass er die Fähigkeit zur Nutzung eines Hausnotrufsystems bei der Klägerin nicht beurteilen könne, da überwiegend die Tochter zu Besprechungen alleine erscheint. Zum 04.02.2016 hat die Klägerin die eigene Wohnung verlassen und zog in ein Pflegeheim. Seit Dezember 2015 hat die Beklagte Leistungen nach der Pflegestufe 2 gewährt.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass sie einen Anspruch auf die Übernahme der Kosten des Hausnotrufsystems habe. Es seien seit Juni 2013 Kosten von monatlich 36,72 EUR angefallen. Das Notrufsystem sei für ein eigenständiges Leben nötig. Aus dem letzten Gutachten ergebe sich, dass sie wisse, wofür das System da sei. Am 16.12.2015 habe sie nach einem Sturz das Notrufsystem verwendet. Nach einem Sturz am 06.01.2016 habe sie es nicht verwenden können, da sie auf den Armen verschränkt vor dem Bett lag.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für das Hausnotrufsystem seit Juni 2013 anteilig entsprechend der vertraglichen Bestimmungen zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass die Ablehnung zu Recht erfolgte. Zur Abwehr von Leistungsansprüchen sei sie nach Rechtsprechung des BSG im Rahmen der gewillkürten Prozessstandschaft berechtigt ohne selbst Versicherer zu sein. Das Hausnotrufsystem sei im Fall der Klägerin nicht notwendig. Sie sei aufgrund ihres Gesundheitszustandes und der festgestellten eingeschränkten Alltagskompetenz nicht in der Lage, das System adäquat zu bedienen. Die Feststellungen des Gutachtens würden gem. § 84 VVG Bindungswirkung entfalten.

Die Beteiligten haben schriftsätzlich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer durfte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klage richtet sich zulässig gegen die Postbeamtenkrankenkasse als Beklagte. Zwar ist diese selbst nicht materiell Verpflichtete als private Pflegepflichtversicherung, sondern führt lediglich aufgrund vertraglicher Vereinbarungen mit Versicherungsunternehmen für ihre Mitglieder, zu denen auch die Klägerin zählt, die private Pflegepflichtversicherung durch. In diesem Verhältnis ist sie im Rahmen einer gewillkürten Prozessstandschaft berechtigt, vermeintlich unbegründete Leistungsbegehren abzuwehren (im Einzelnen BSG, Urteil vom 30.03.2000, B 3 P 21/99 R).

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage gem. § 54 Abs. 5 SGG statthaft, da die Beklagte im Rahmen der Durchführung der privaten Pflegepflichtversicherung keine Verwaltungsakte erlässt und es daher weder einer zusätzlichen Anfechtungsklage noch eines Vorverfahrens oder einer Klagefrist bedarf. Nach der endgültigen Leistungsablehnung konnte Rechtsschutz nur durch Beschreitung des Klageweges erlangt werden

Die Klage ist auch begründet. Die Ablehnung der Leistungsgewährung ist rechtswidrig, da die Klägerin einen Anspruch auf die begehrte Leistung der Kostenerstattung für das Hausnotrufsystem hat.

Der Anspruch folgt aus dem § 192 Abs. 6 VVG i.V.m. den vertraglichen Vereinbarungen. Gem. § 4 Abs. 7 MB/PPV 2013 hat die Klägerin Anspruch auf den Ersatz der Aufwendungen für Pflegehilfsmittel, wenn und soweit diese die Pflege erleichtert oder ihr eine selbständigere Lebensführung ermöglicht und die Versorgung notwendig ist. Gem. Ziffer 4. des Tarif PV werden die im Hilfemittelverzeichnis der privaten Pflegepflichtversicherung aufgeführten Hilfsmittel erstattet.

Vorliegend ermöglicht die Ausstattung mit einem Hausnotrufsystem als Hilfsmittel der Pflegepflichtversicherung eine selbständigere Lebensführung der Klägerin sowie dient der Pflegeerleichterung und ist auch notwendig. Bei einem Hausnotrufsystem handelt es sich um ein im Hilfsmittelverzeichnis der privaten Pflegepflichtversicherung aufgeführtes Hilfsmittel (dort unter Ziffer 3.1 Stand 02/2013). Der Klägerin wird durch die Bereitstellung des Hausnotrufsystems ein erhöhter persönlicher Freiraum geschaffen. Denn es ist ihr hierdurch möglich gewesen, weiterhin in ihrer Mietwohnung zu leben. Dass die Klägerin in der Wohnung trotz ihrer Demenz noch zum Teil eigenständig leben konnte, wurde auch durch die Gutachten festgehalten. Auch hat die Klägerin im Termin im Juli 2014 erläutert, dass sie bestimmte pflegerische Vorgänge noch selbst erledigt. Weiterhin wird durch das Hausnotrufsystem die Pflege durch die Tochter als Pflegeperson erleichtert, da aufgrund der Möglichkeit, über das Notrufsystem Hilfe zu rufen, ihre Anwesenheitszeiten als Pflegeperson zur bloßen Beaufsichtigung reduziert werden könne. Schließlich ist das Notrufsystem auch notwendig. Dem stehen zunächst nicht die Feststellungen aus den von der Beklagten veranlassten Gutachten entgegen. Gutachten von Sachverständigen, die von einem privaten Unternehmen zur Ermittlung des Pflegebedarfs in der privaten Pflegeversicherung in Auftrag gegeben werden, sind für die Sozialgerichte nicht verbindlich. Die im VVG festgelegte Bindung wird für die private Pflegeversicherung durch Vorschriften des SGB XI verdrängt (BSG, Urteil vom 22.04.2015, B 3 P 8/13 R). Die Gutachten, die auf Veranlassung der Beklagten eingeholt werden, sind entsprechend ihrer Überzeugungskraft im sozialgerichtlichen Verfahren jedoch normal verwertbar. Nach diesen Grundsätzen überzeugen die Schlussfolgerungen der Gutachten nicht dahingehend, dass das Notrufsystem von der Klägerin nicht bedient werden kann und daher im Ergebnis nicht notwendig sei. Die Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung liegt dann vor, wenn das angestrebte Ziel durch den Einsatz des Hilfsmittels erreicht werden kann und die Zielerreichung nicht auf einem anderen Weg erfüllt werden kann (vgl. Richter in: LPK-SGB XI, 4. A. 2014, § 40 Rn. 12). Feststellungen aus denen sich nachvollziehbar ergibt, dass die Klägerin ab Juni 2013 nicht in der Lage gewesen wäre den Hausnotruf als Hilfsmittel zielführend zu nutzen, ergeben sich aus dem Gutachten aus August 2013 nicht. Im Hinblick auf den Umstand, dass zu diesem Zeitpunkt ausweislich des Gutachtens der Pflegedienst nur dreimal täglich für die Medikamentengabe erforderlich war und die Pflegeperson nur einen geringfügigen Teil der Grundpflege einmal in der Woche übernehmen musste, lässt sich der Schluss ziehen, dass die Klägerin in der Lage war, sich noch überwiegend in ihrer Wohnung selbst zu versorgen. Insofern erweist sich das Notrufsystem als zielführendes Hilfsmittel für eine selbständigere Lebensführung und einer Erleichterung der Pflege. Denn durch das Bestehen der Notrufmöglichkeit war die Klägerin erhöht in die Lage versetzt, weiterhin alleine zu wohnen und die Pflegeperson musste zunächst nicht mehrfach täglich für Beaufsichtigungs- und Kontrollaufgaben tätig werden. Auch aus dem Gutachten aus September 2014 lässt sich der Schluss, dass eine Versorgung nicht notwendig gewesen ist, nicht ziehen. Trotz der festgestellten mangelhaften Orientierung war die Klägerin weiterhin in der Lage, sich in der eigenen Wohnung zurecht zu finden. Auch hat sie auf Nachfrage angeben können, dass sie mit dem Hilfsmittel in der Lage sei, Hilfe zu holen. Sofern nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass die Klägerin nicht zur Verwendung des Hilfsmittels in der Lage ist, kann nicht geschlussfolgert werden, dass die Notwendigkeit der Versorgung nicht besteht. Anhaltspunkte für die fehlende Notwendigkeit aufgrund einer Erreichung der mit dem Hilfsmittel erstrebten Ziele auf andere Weise sind nicht erkennbar.

Da die Klägerin lediglich eine Absicherung im Rahmen der privaten Pflegeversicherung für den nicht von ihrem Beihilfeanspruch von 70 % abgedeckten Anteil von 30 % hat, besteht ein Anspruch in entsprechender prozentualer Höhe der Kosten des Hausnotrufes von 30 % der Kosten nach den geltenden vertraglichen Bestimmungen.

Hinsichtlich der Dauer des Anspruches ist dieser ab der Geltendmachung ab Juni 2013 bis zum Auszug auf der mit dem System ausgestatteten Wohnung zum 03.02.2016 gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Die Berufung ist kraft Gesetz zulässig, da Leistungsansprüche für mehr als ein Jahr im Streit stehen (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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