L 21 AS 229/17 B ER und L 21 AS 230/ 17 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 33 AS 161/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 21 AS 229/17 B ER und L 21 AS 230/ 17 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Hält sich ein Ausländer außerhalb des Bundeslandes auf, in dem er nach der gesetzlichen Verpflichtung des § 12a Abs. 1 AufenthG seinen Aufenthalt nehmen muss, begründet die Sonderregelung des § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II eine von der allgemeinen Regelung des § 36 Abs. 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit nur dann, wenn dem Ausländer eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage gemäß § 12a Abs. 2 oder Abs. 3 AufenthG erteilt worden ist oder wird.
Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 31.01.2017 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs für die Zeit vom 17.01.2017 bis zum 31.05.2017 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragstellers zurückgewiesen. Dem Antragsteller wird für die Durchführung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen sowie für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin T aus H bewilligt. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen zu 2/3 zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Der Antragsteller ist am 00.00.1984 geboren und syrischer Staatsangehöriger. Am 15.10.2015 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Bescheid vom 06.01.2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Antragsteller nach § 3 Asylgesetz (AsylG) als Flüchtling an und bescheinigte - unter Hinweis auf § 25 Abs. 2 Satz 1 Fall 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) - ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen. Das BAMF bescheinigte dem Antragsteller ferner, dass er bis zur endgültigen Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eine Erwerbstätigkeit ausüben darf. Der Landkreis O bestätigte dem Antragsteller am 23.02.2016, dass er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragt hat. Der Antragsteller war gemäß § 12a Abs. 1 AufenthG verpflichtet, seinen Wohnsitz im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zu nehmen. Eine konkrete Wohnsitzauflage gemäß § 12a Abs. 2 oder 3 AufenthG wurde dem Antragsteller nicht auferlegt.

Der Antragsteller mietete zum 16.06.2016 eine Wohnung in H an, in der er seitdem wohnt. Seit dem 12.08.2016 ist er in H registriert. Die dem Antragsteller durch das jobcenter O bis dahin gewährten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) hob dieses für die Zeit ab dem 01.07.2016 wegen des Umzuges des Antragstellers ("Umzug und dadurch Wechsel der Zuständigkeit") auf (Bescheid vom 15.06.2016).

Der Antragsgegner bewilligte dem Antragsteller mit Bescheiden vom 02.08.2016 für die Zeit vom 16.06.2016 bis zum 31.12.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II, die Übernahme der Mietkaution, eine Erstausstattung der Wohnung sowie eine Erstausstattung mit Haushaltsgeräten und die Übernahme von Renovierungskosten.

Der Antragsteller beantragte am 12.10.2016 die Aufhebung seiner Verpflichtung gemäß § 12a Abs. 1 AufenthG, seinen Wohnsitz im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zu nehmen. Dies lehnte die Stadt H mit Bescheid vom 26.10.2016 ab. Dagegen hat der Antragsteller am 18.11.2016 Klage vor dem Verwaltungsgericht H erhoben (Az. 000).

Den Weiterbewilligungsantrag des Antragstellers vom 14.11.2016 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 19.01.2017 ab, weil der Antragsteller zur Wohnsitznahme in Mecklenburg-Vorpommern verpflichtet sei. Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch.

Am 17.01.2017 hat der Antragsteller vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum ab Januar 2017 bis zur Entscheidung der Hauptsache zu erbringen.

Mit Beschluss vom 31.01.2017 hat das SG Gelsenkirchen den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unter Hinweis auf eine sich aus § 36 Abs. 2 SGB II ergebende örtliche Unzuständigkeit des Antragsgegners abgelehnt.

Gegen den seiner Prozessbevollmächtigten am 01.02.2017 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am selben Tag Beschwerde erhoben, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. II.

Die zulässigen Beschwerden des Antragstellers gegen den Beschluss des SG Gelsenkirchen vom 31.01.2017 sind zulässig und in der Sache teilweise begründet.

I. Die Beschwerde des Antragstellers hat zum Teil Erfolg, soweit das SG seinen Antrag auf einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz in vollem Umfang abgelehnt hat.

Dem Antragsteller kann für die Zeit vom 17.01.2017 (Antragstellung bei dem SG) bis zum 31.05.2017 von dem Antragsgegner im Wege einstweiliger Verpflichtung mit Erfolg die Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs beanspruchen. Ein Anspruch auf einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung auch von Leistungen für Unterkunft und Heizung i.S.v. § 22 SGB II besteht dagegen nicht.

1. Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie das Vorliegen des Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 S. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)).

2. Die Antragsteller hat hinsichtlich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs ab Antragstellung bei Gericht einen Anordnungsanspruch sowie einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

a) Der Antragsteller hat das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II für die Zeit ab dem 17.01.2017 glaubhaft gemacht.

Er hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II) und ist erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 8 SGB II. Anhaltspunkte für eine Einschränkung seiner gesundheitlichen Erwerbsfähigkeit (§ 8 Abs. 1 SGB II) oder das Fehlen seiner rechtlichen Erwerbsfähigkeit (§ 8 Abs. 2 SGB II) liegen nicht vor. Der Antragsteller hat ferner seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Auch die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 9 SGB II ist glaubhaft gemacht.

b) Die Leistungsausschlüsse des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II greifen zu Ungunsten des Antragstellers nicht ein. Insbesondere hat der Antragsteller ein Aufenthaltsrecht, das sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.

3. Der Antragsgegner ist für den geltend gemachten Anspruch nach § 36 Abs. 1, § 44b SGB II örtlich zuständig.

a) Der Antragsteller hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 36 Abs. 1 Satz 1 SGB II), jedenfalls aber seinen tatsächlichen Aufenthalt (§ 36 Abs. 1 Satz 4 SGB II) im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners.

aa) Grundsätzlich hat jemand nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der Antragsteller hält sich seit dem 16.06.2016 in H auf und hat den Willen, sich dort dauerhaft niederzulassen.

Gegen einen gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers in H könnte die durch das Integrationsgesetz vom 31.07.2016 (BGBl. I 1939) eingeführte Wohnsitzregelung in § 12a Abs. 1 AufenthG sprechen. Diese Vorschrift findet auf den Antragsteller Anwendung. Er ist als Flüchtling i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG anerkannt worden (§ 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG), und dies zeitlich nach dem 01.01.2016 (§ 12a Abs. 7 AufenthG).

Die Regelung des § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass ein Ausländer (unter den genannten Voraussetzungen) verpflichtet ist, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung (oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis) in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt (Wohnsitz) zu nehmen, in das er zur Durchführung seines Asylverfahrens oder im Rahmen seines Aufnahmeverfahrens zugewiesen worden ist.

Hierzu wird die Auffassung vertreten, dass ein Ausländer einen gewöhnlichen Aufenthalt nur dort begründen könne, wo nach den Vorschriften des Ausländerrechts das nicht nur vorübergehende Verweilen zugelassen sei; einen gewöhnlichen Aufenthalt an einem anderen Ort könne er grundsätzlich nur dann begründen, wenn dies mit Billigung der Ausländerbehörde geschehe (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.07.2014, L 14 AS 1569/14 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse vom 06.06.2013, L 13 AS 122/13 B ER, und vom 12.03.2013, L 13 AS 51/13 B ER). Andererseits hat das Bundessozialgericht (BSG) zu § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II entschieden, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet nach dieser Vorschrift nicht im Sinne der so genannten Einfärbungslehre von rechtlichen Erfordernissen zum Aufenthaltsstatus abhängig gemacht werden könne, weil dies für den Bereich des SGB II der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwiderliefe (BSG, Urteil vom 30.01.2013 , B 4 AS 54/12 R, BSGE 113, 60). Aus welchen Gründen für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 36 SGB II andere Maßstäbe gelten sollen als im Rahmen von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II, erschließt sich nicht ohne Weiteres, so dass bei Ausländern auch unabhängig von einer Wohnsitzauflage die tatsächlichen Verhältnisse maßgeblich sein dürften (zum Vorstehenden LSG Nordrhein-Westfalen (NRW), Beschluss vom 20.01.2017, L 19 AS 2381/16 B ER; ferner Aubel in jurisPK-SGB II, § 36 Rn. 18).

bb) Dies kann aber letztlich dahinstehen. Denn der Antragsteller hat jedenfalls seinen tatsächlichen Aufenthalt i.S.d. § 36 Abs. 1 Satz 4 SGB II im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners (vgl. dazu allg. bereits LSG NRW, Beschluss vom 13.05.2015, L 12 AS 573/15 B ER, L 12 AS 574/15 B; ferner LSG NRW, Beschluss vom 20.01.2017, L 19 AS 2381/16 B ER).

b) An diesem Ergebnis ändert die Sonderregelung des § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II nichts.

Diese Regelung (in der ab dem 06.08.2016 geltenden Fassung des Integrationsgesetzes) ordnet an, dass abweichend von § 36 Abs. 1 SGB II für die Leistungserbringung der Träger zuständig ist, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12a Abs. 1 bis 3 AufenthG ihren Wohnsitz zu nehmen hat.

Die Vorschrift des § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II erfasst den vorliegenden Lebenssachverhalt nicht und trifft dazu keine Regelung.

aa) Der Gesetzgeber wollte mit dem neuen § 36 Abs. 2 SGB II eine ausschließliche örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit und des kommunalen Trägers am Ort eines nach § 12a AufenthG zugewiesenen Wohnorts begründen. Auf den gewöhnlichen oder tatsächlichen Aufenthalt soll es bei diesen Personen für die Bestimmung der Zuständigkeit des Leistungsträgers nicht ankommen (BT-Drucks. 18/8615, S. 33/34). Entsprechend sollen leistungsberechtigte Personen einen Antrag nach § 37 SGB II auf Leistungen nach dem SGB II nur bei dem Jobcenter stellen können, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person ihren Wohnsitz zu nehmen hat, und nur dort Leistungen erhalten (BT-Drs. 18/8615 S. 34). Dabei weist § 12a Abs. 1 AufenthG die betreffende ausländische Person nicht einem bestimmten kommunalen Gebiet zu, sondern dem gesamten Staatsgebiet eines Landes (hier Bundesland Mecklenburg-Vorpommern). Neben der allgemeinen Wohnsitzregelung in § 12a Abs. 1 AufenthG sieht § 12a Abs. 2 und 3 AufenthG den Erlass einer konkret-individuellen Wohnsitzauflage vor (zum Vorstehenden LSG NRW, Beschluss vom 20.01.2017, L 19 AS 2381/16 B ER). Eine solche konkret-individuellen Wohnsitzauflage ist gegenüber dem Antragsteller jedoch nicht getroffen worden. Eine Zuweisungsentscheidung nach § 50 Abs. 4 AsylG ist hiermit nicht identisch, zumal diese auch nur bis zum unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens Bestand haben dürfte (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 20.01.2010, 1 B 1/09).

§ 36 Abs. 2 SGB II ordnet an, dass die allgemeinen Regelungen des § 36 Abs. 1 SGB II zur Anwendung kommen sollen, soweit gemäß der Verpflichtung zur Wohnsitzregelung nach § 12a Abs. 1 AufenthG der Wohnsitz im zugewiesenen Land genommen worden ist (BT-Drucks. 18/8615, S. 34). Damit ist innerhalb des zugewiesenen Landes dasjenige Jobcenter zuständig, in dessen Gebiet sich die betreffende ausländische Person gewöhnlich oder tatsächlich aufhält (LSG NRW, Beschluss vom 20.01.2017, L 19 AS 2381/16 B ER).

bb) Von diesem Lebenssachverhalt, den der Gesetzgeber bei Einfügung des Abs. 2 in § 36 SGB II (durch das Integrationsgesetz) vor Augen hatte und mit diesem hat regeln wollen, unterscheidet sich der vorliegende Lebenssachverhalt jedoch. Denn der Antragsteller hält sich nicht mehr im zugewiesenen Land (Bundesland Mecklenburg-Vorpommern) auf.

Der Gesetzgeber hat nicht geregelt, was gelten soll, wenn ausländische Personen ihren tatsächlichen Aufenthalt außerhalb des Gebietes des Bundeslandes, dem sie nach § 12a Abs. 1 AufenthG zugewiesen sind, genommen haben. Im vorliegenden Fall hatte der Antragsteller seinem Wohnsitz zudem noch vor Inkrafttreten des Integrationsgesetzes und damit auch des § 36 Abs. 2 SGB II geändert; der Gesetzgeber hat auch diesen besonderen Sachverhalt nicht geregelt.

Die Vorschrift des § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II kann zur Überzeugung des Senates nicht so (extensiv) ausgelegt werden, dass die Zuständigkeit von Jobcentern außerhalb des zugewiesenen Landes immer ausgeschlossen sein soll. Die in § 12a Abs. 1 AufenthG angeordnete gesetzliche Pflicht zur Wohnsitznahme begründet eine von § 36 Abs. 1 SGB II abweichende örtliche Zuständigkeit vielmehr nur dann, wenn eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage im Sinne von § 12a Abs. 2 und 3 AufenthG erteilt wird.

Denn dass die Zuständigkeit von Jobcentern außerhalb des zugewiesenen Landes immer ausgeschlossen sein soll, hat keinen Niederschlag im Wortlaut der gesetzlichen Regelung gefunden. Gegen eine solche Auslegung spricht ferner die Systematik des § 36 Abs. 2 SGB II. § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II bestimmt positiv, welches Jobcenter zuständig ist. Damit unterscheidet sich diese Vorschrift von § 36 Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 SGB II, der ausdrücklich eine negative Zuständigkeitsregelung enthält, also die Zuständigkeit eines bestimmten Jobcenters ausschließt. Als positive Zuständigkeitsregelung geht § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II im Falle einer - wie hier - fehlenden konkret-individuellen Wohnsitzauflage nach § 12a Abs. 2 oder 3 AufenthG ins Leere. Denn § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB II bezieht sich ebenso wie § 36 Abs. 1 SGB II auf das Gebiet eines Jobcenters und damit in der Sache auf das Gebiet eines kommunalen Trägers. § 12a Abs. 1 AufenthG weist die betreffende ausländische Person jedoch gerade nicht einem bestimmten kommunalen Gebiet zu, sondern lediglich einem Bundesland. Die Verweisung auf § 12a Abs. 1 AufenthG in § 36 Abs. 2 S. 1 SGB II kann deshalb nur als Klarstellung verstanden werden, dass eine positive Wohnsitzauflage nach § 12a Abs. 2 oder 3 AufenthG eine bestehende gesetzliche Pflicht nach § 12a Abs. 1 AufenthG voraussetzt. Ohne konkret-individuelle Wohnsitzauflage enthält § 36 Abs. 2 S. 1 SGB II damit keine von § 36 Abs. 1 SGB II abweichende Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit (zum Vorstehenden: LSG NRW, Beschluss vom 12.12.2016, L 7 AS 2184/16 B ER, L 7 AS 2185/16 B; LSG NRW, Beschluss vom 20.01.2017, L 19 AS 2381/16 B ER; Aubel, a.a.O., § 36 Rn. 36.10).

Der Senat sieht sich nicht veranlasst, diese Lücke bzw. Defizit im legislativen Regelungskonzept im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu schließen und eine fehlende örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners anzunehmen.

Zwar dürfte diese Regelungslücke erkennbar der Regelungsabsicht des Gesetzgebers widersprechen. Der neue § 12a AufenthG begründet in seinem Absatz 1 die gesetzliche Verpflichtung zur Wohnsitznahme im Land der Erstzuweisung im Asylverfahren nach dem Königsteiner Schlüssel (BT-Drucks. 18/8615, S. 25); diese Wohnsitzregelung soll sozialrechtlich durch § 36 SGB II flankiert werden.

Die Annahme einer fehlenden örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners würde hier jedoch dazu führen, dass der Antragsteller faktisch gezwungen wäre, seinen Aufenthalt wieder im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zu nehmen, um dort existenzsichernde Leistungen zu beantragen (nachdem ihm der Antragsgegner die Erstausstattung seiner Wohnung in H einschließlich Haushaltsgeräten, die Übernahme der Mietkaution sowie SGB II-Leistungen für sechs Monate gewährt hat). Dort wäre aber die örtliche Zuständigkeit nicht eindeutig geregelt, weil nicht klar ist, welches Jobcenter im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern konkret örtlich zuständig sein soll. Der Antragsteller ist gemäß § 12a Abs. 1 AufenthG verpflichtet, seinen Wohnsitz irgendwo im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, also in irgendeiner der dortigen Kommunen zu nehmen. Eine konkret-individuelle Wohnsitzauflage (zu einem bestimmten kommunalen Gebiet) gemäß § 12a Abs. 2 oder 3 AufenthG ("an einem bestimmten Ort") wurde ihm gegenüber nicht ausgesprochen, so dass ein Zuständigkeitsstreit bei einer Rückkehr des Antragstellers in das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern nicht ausgeschlossen erscheint. Dies erkennt auch der Antragsgegner, wenn er ausführt, das Ergebnis wäre, dass "kein Jobcenter örtlich zuständig ist" (Beschwerdeerwiderung vom 08.02.2017, Seite 3). Der Gesetzgeber selbst hat aber in einem anderen Zusammenhang, bei einem Streit über die gesundheitliche Erwerbsfähigkeit (§ 8 Abs. 1 SGB II), von der die Zuständigkeit für die Erbringung existenzsichernder Leistungen abhängt, zu erkennen gegeben, dass ein Zuständigkeitsstreit bei existenzsichernden SGB II-Leistungen in jedem Fall zu vermeiden ist (vgl. dazu § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II; vgl. ferner § 2 Abs. 3 SGB X).

4. Keine anspruchsausschließende Bedeutung hat § 77 SGB II i.V.m. § 7 Abs. 4a SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung, wonach Leistungen nicht erhält, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält und die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung entsprechend gelten. Die Anwendung dieser Bestimmungen setzt voraus, dass ein Jobcenter örtlich zuständig ist, für das der Arbeitsuchende erreichbar sein muss. Aus den obigen Darlegungen folgt aber, dass in Mecklenburg-Vorpommern derzeit kein Jobcenter für den Antragsteller örtlich zuständig ist (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 12.12.2016, L 7 AS 2184/16 B ER, L 7 AS 2185/16 B; LSG NRW, Beschluss vom 20.01.2017, L 19 AS 2381/16 B ER).

5. Der Anordnungsgrund ist im Hinblick auf das Fehlen von existenzsichernden Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs glaubhaft gemacht.

6. Hinsichtlich der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung hat der Antragsteller einen Anordnungsgrund hingegen nicht glaubhaft gemacht. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit im Ergebnis zu Recht abgewiesen; die Beschwerde war insoweit daher zurückzuweisen.

Zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes für eine Verpflichtung des Leistungsträgers hinsichtlich der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung bedarf es des substantiierten und nachvollziehbaren Vortrages, dass baldige Wohnungs- und Obdachlosigkeit droht (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 05.05.2014, L 19 AS 632/14 B ER m.w.N.). Ob ein Anordnungsgrund dabei im Regelfall erst bei Nachweis der Rechtshängigkeit einer Räumungsklage gegeben ist (so LSG NRW, Beschluss vom 06.07.2015, L 19 AS 931/15 B ER mit Darstellung des Meinungsstandes), kann der Senat hier dahinstehen lassen. Denn eine Gefährdung der Unterkunft ergibt sich aus dem Vorbringen des Antragstellers nicht. Weder ist eine fristlose Kündigung des Mietverhältnisses ausgesprochen worden, noch eine Räumungsklage bislang erhoben worden. Es ist überdies weder vorgetragen worden noch ersichtlich, ob bisher überhaupt Mietrückstände entstanden sind.

7. Der Senat hat den Zeitraum der Verpflichtung des Antragsgegners auf den Zeitraum bis zum 31.05.2017 begrenzt, um einer eventuellen Prüfung einer konkreten Wohnsitzauflage nach § 12a Abs. 2 und 3 AufenthG durch die zuständige Behörde nicht vorzugreifen. Ergeht eine solche nicht oder darf sie nicht mehr ergehen, hier ggf. wegen Ablaufs der in § 12a Abs. 2 und 3 AufenthG vorgesehenen Fristen, wird der Antragsgegner bei Glaubhaftmachung der übrigen Anspruchsvoraussetzung auch über diesen Zeitraum hinaus verpflichtet sein, SGB II-Leistungen an den Antragsteller zu erbringen.

Beginn der Verpflichtung des Antragsgegners im einstweiligen Rechtsschutz ist regelmäßig der Eingang des Antrages bei Gericht (hier am 17.01.2017). Der Antragsteller selbst hat Leistungen ab Januar 2017 begehrt.

II. Die Beschwerde des Antragstellers ist in vollem Umfang begründet, soweit das SG seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwältin für das dortige einstweilige Rechtsschutzverfahren abgelehnt hat. Denn die Rechtsverfolgung des Antragstellers, der die Kosten seiner Rechtsverfolgung nicht aufbringen kann, bot aus den dargestellten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO)).

Aus diesem Grund war dem Antragsteller auch Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens zu gewähren (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114, § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

III. Soweit der Antragsteller mit seiner Beschwerde die Ablehnung seines Antrags auf Er-lass einer einstweiligen Anordnung angegriffen hat, folgt die Kostenentscheidung aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und gibt das Verhältnis des Obsiegens zum Unterliegen wieder.

Soweit sich die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung seines Antrages auf Prozesskostenhilfe richtet, werden Kosten im Beschwerdeverfahren nicht erstattet (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

IV. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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