L 4 AS 38/14

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 8 AS 2788/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 38/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 5/17 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 12. Dezember 2013 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rücknahme und Erstattung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010.

Die am ... 1948 in S. (Russland) geborene Klägerin siedelte am 8. April 2004 in die Bundes-republik Deutschland über. Sie bezog zunächst Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und ab Juni 2004 Eingliederungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) für den Besuch einer Sprachschule. In einer Erklärung gegenüber dem Generalkonsulat in Russland vom 12. Februar 2004 gab die Klägerin eine Rente in Höhe von 1.200 Rubel und den Verkauf einer Eigentumswohnung für 500.000 Rubel an. Im Sozialhilfeantrag vom 1. Juni 2004 wurde gegenüber dem Beigeladenen unter III. kein Einkommen angegeben und die Frage unter VII. "Wovon wurde der bisherige Lebensunterhalt bestritten" handschriftlich mit der handschriftlichen Formulierung "Rente" beantwortet. In der Sozialhilfeakte befindet sich ein Formular in kyrillischer Schrift, das auf die Altersrente der Klägerin in Höhe von 1.100 Rubel hinweist. Mit Bescheid vom 6. Juni 2004 bewilligte der Beigeladene der Klägerin für Juni 2004 358,33 EUR (Regelbedarf: 285,00 EUR; Unterkunft: 58,75 EUR; Heizungskosten: 17,94 EUR abzüglich Warmwasseranteil 3,36 EUR). Das Einkommen wurde mit 0,00 EUR berechnet. Mit Bewilligungsbescheid vom 23. Juli 2004 erhielt die Klägerin von der Agentur für Arbeit D. wöchentlich 124,95 EUR Eingliederungshilfe. Der Beigeladene stellte mit Bescheid vom 9. August 2004 Leistungen ab 1. August 2004 ein, da die Klägerin Eingliederungshilfe bezog.

Die Klägerin stand vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010 im SGB II-Leistungsbezug des Beklagten. Am 23. November 2004 stellte sie ihren Erstantrag. Unter "VI. Einkommens-verhältnisse des Antragstellers/der Antragstellerin und der im Haushalt lebenden weiteren Personen" war auf Seite 3 aufgeführt:

"Als Einkommen sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen. Haben Sie und/oder die mit Ihnen im Haushalt lebenden Angehörigen Einnahmen aus: Nichtselbständiger oder selbständiger Arbeit, Vermietung oder Verpachtung, Land- und Forstwirtschaft, Kindergeld, Entgeltersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, Übergangsgeld, Krankengeld, Renten aus der Sozialversicherung, Betriebsrenten oder Pensionen, ( ), sonstige laufende oder einmaligen Einnahmen gleich welcher Art?"

Hierzu finden sich die kursiv gedruckten handschriftlichen Eintragungen:

"Name, Vorname P., I., Art des Einkommens Eingliederungshilfe"

In einem in Auszügen vorgelegten Mietvertrag verpflichtete sich die Klägerin gegenüber der D. Wohnungsbaugesellschaft mbh, für eine 40 qm Wohnung einen Mietzins von 178,00 EUR zuzüglich 7,99 EUR (Kabelgebühr) und eine Betriebskostenvorauszahlung von 24,00 EUR zu zahlen. Unter dem 1. September 2004 vereinbarte die Klägerin mit der D. Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft mbH. für Fernwärme eine monatliche Abschlagszahlung von 40,00 EUR sowie für Strom und Wasser von je 20,00 EUR.

Mit Erstbescheid vom 26. November 2004 bewilligte der Beklagte der Klägerin für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 2005 monatliche Leistungen von 585,80 EUR. Für die Kosten der Unterkunft erkannte der Beklagte eine Miete von 202,00 EUR (178,00 EUR + 24,00 EUR) und Heizungskosten von 32,80 (40,00 EUR abzüglich Warmwasserabschlag 7,20 EUR), d.h. KdU in Gesamthöhe von 254,80 EUR an. Hinzu kamen der Regelbedarf von 331,00 EUR, der Krankenkassenbeitrag von 125,01 EUR, der Pflegekassenbeitrag von 14,86 EUR sowie Rentenversicherungsbeiträge in Höhe von 78,00 EUR.

Der Vermieter teilte der Klägerin unter dem 13. Januar 2005 eine Erhöhung der Betriebskosten auf 27,50 EUR mit. Mit Änderungsbescheid vom 26. Januar 2005 erhöhte der Beklagte daraufhin ab 1. Februar 2005 den Leistungsanspruch auf 589,30 EUR (KdU Anspruch: 258,30 EUR). Wegen der Berücksichtigung der Kabelgebühr erhöhte der Beklagte den Leistungsanspruch für Januar 2005 auf 593,79 EUR und vom 1. Februar bis 31. Mai 2005 auf 596,79 EUR (Änderungsbescheid vom 23. Mai 2005).

Im weiteren Verlauf stellte die Klägerin mehrfach Weiterbewilligungsanträge, ohne auf Änderungen der bisherigen Verhältnisse hinzuweisen. Die darauf bezogenen Bescheide sind jeweils bestandkräftig geworden.

Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 24. Mai 2005 monatliche Leistungen von 586,13 EUR (Bewilligungszeitraum vom 1. Juni bis 30. November 2005). Auf einen weiteren Folge-antrag vom 4. November 2005 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 9. November 2005 für die Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 31. Mai 2005 monatlich 586,13 EUR. Auf einen Folgeantrag vom 2. Mai 2006 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Mai 2006 für Juni 2006 einen Betrag von 586,13 EUR (Regelbedarf: 331,00 EUR; Grundmiete: 178,00 EUR; Heizkosten: 22,14 EUR; Nebenkosten: 54,99 EUR [20,00 EUR + 34,99 EUR]) und vom 1. Juli bis 30. November 2006 einen Betrag von 600,13 EUR.

Nach Änderungen der KdU (Absenkung der Vorauszahlung der Betriebskosten um 3,50 EUR) sowie einer Verrechnung einer Betriebskostenrückerstattung im August 2006 änderte der Beklagte den Leistungsanspruch für August 2006 auf 553,32 EUR und für die Monate September bis November 2006 auf 597,13 EUR (Änderungsbescheid vom 14. Juli 2008). Die Erhöhung der Heizkostenvorauszahlungen ab September 2006 auf 28,00 EUR führte zum Änderungsbescheid vom 16. Oktober 2006, der den Leistungsanspruch für August 2006 auf 553,32 EUR und ab 1. September 2006 auf 597,95 EUR erhöhte.

Im Weiteren bewilligte der Beklagte für Dezember 2006 597,95 EUR und vom 1. Januar bis 31. Mai 2007 monatlich 598,16 EUR (Bescheid vom 23. November 2006). Änderungen der Abschlagszahlungen für Fernwärme sowie für Wasser/Abwasser führten zum Änderungsbe-scheid vom 3. Mai 2007, der vom 1. April bis 31. Mai 2007 einen monatlichen Leistungsan-spruch von 648,02 EUR bewilligte.

Für die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 2007 bewilligte der Beklagte monatliche Leistungen von 648,02 EUR (Bescheid vom 3. Mai 2007). In der Folge erließ der Beklagte den Bescheid vom 2. November 2007 und bewilligte der Klägerin vom 1. Dezember 2007 bis 31. Mai 2008 650,02 EUR (Regelbedarf: 347,00 EUR; KdU: 303,02 EUR). Wegen der Änderung der Regelbedarfe erhöhte der Beklagte im Änderungsbescheid vom 15. Mai 2008 ab 1. Juli bis 30. November 2008 den monatlichen Leistungsanspruch auf 654,02 EUR. Wegen einer Betriebskostenrückzahlung kam es zu einem weiteren Änderungsbescheid des Beklagten vom 4. Juni 2009, der für Mai 2008 den Leistungsanspruch auf 470,08 EUR absenkte (KdU: 123,98 EUR). Wegen veränderter Abschlagszahlungen für Heizung und Wasser bewilligte der Beklagte in einem weiteren Änderungsbescheid vom 4. Juni 2009 für Juni 2008 einen Betrag von 639,10 EUR, für Juli 2008 einen Betrag von 627,20 und für August bis November 2008 einen Betrag von 644,57 EUR.

Nachfolgend bewilligte der Beklagten der Klägerin im Bescheid vom 11. November 2008 ab 1. Dezember 2008 bis 31. Mai 2009 644,57 EUR (Regelbedarf: 351,00 EUR; KdU: 293,57 EUR). Für den Folgezeitraum bewilligte der Beklagte im Bescheid vom 10. November 2008 vom 1. Juni 2009 bis 30. November 2009 644,57 EUR. Wegen einer Überzahlung von KdU für die Monate Mai bis November 2011 hörte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 10. November 2008 an und verlangte die Rückzahlung von 254,58 EUR. Diesen Anspruch erkannte die Klägerin an. Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 4. Juni 2009 verlangte der Beklagte die Rückzahlung von 254,58 EUR. Mit Änderungsbescheid vom 4. Juni 2009 reduzierte der Beklagte die Leistungen für Mai 2008 auf 470,98 EUR.

Wegen veränderter Abschlagszahlungen erließ der Beklagte den Änderungsbescheid vom 2. Juni 2009, der die Leistungen für Juni 2008 auf 639,10 EUR, für Juli 2008 auf 627,20 EUR und vom 1. August bis 30. November 2008 auf monatlich 644,57 EUR festsetzte.

Wegen eines Guthabens aus einer Jahresabrechnung verlangte der Beklagte in einem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 5. November 2009 für die Monate April bis Mai 2008 die Rückzahlung von 420,26 EUR. Nach einem Folgeantrag vom 22. Oktober 2009 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 5. November 2009 652,41 EUR für die Zeit vom 1. Dezember 2009 bis 31. Mai 2010.

Mit Schreiben vom 14. Januar 2010 verlangte der Beklagte von der Klägerin einen Nachweis über eine russische Altersrente. Am 12. Februar 2010 bestätigte die Klägerin dem Beklagten den Bezug dieser Altersrente. Daraufhin hörte dieser die Klägerin zu einer Erstattung in Gesamthöhe von 48.179,87 EUR an. In dem Anhörungsschreiben vom 12. April 2010 wies der Beklagte darauf hin, dass die Klägerin vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2010 zu Unrecht Leistungen bezogen habe, da sie den Bezug der russischen Altersrente nicht erklärt und dadurch zumindest grob fahrlässig falsche Angaben gemacht habe. Wegen § 7 Abs. 4 SGB II habe kein Leistungsanspruch bestanden. Die zu erstattende Forderung setze sich wie folgt zusammen:

- Tabelle nicht darstellbar -

Mit Bescheid vom 13. April 2010 hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen ab dem 1. Mai 2010 auf und begründete dies mit dem Wegfall der Leistungsvoraussetzungen wegen des Bezugs einer russischen Altersrente. Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 28. Juni 2010 hob der Beklagte seine Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2010 vollständig auf und forderte eine Erstattung in Höhe von 48.179,87 EUR. Die Klägerin habe in ihrem Erstantrag keine Angaben zu einer russischen Altersrente gemacht. Die fehlerhafte Bewilligung sei wegen grob fahrlässiger Angaben erfolgt. Erst nach dem Aufforderungsschreiben vom 14. Januar 2010 habe sie einen Rentenausweis vorlegt. Die Klägerin müsse auch die vom Beklagten gezahlten Krankenversicherungs- und Pflegeversi-cherungsbeiträge erstatten.

Hiergegen legte die Klägerin am 15. Juli 2010 Widerspruch ein, der nicht begründet wurde.

Mit Widerspruchsbescheid vom 2. September 2010 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte zu Begründung aus: Mit den Bescheiden vom 26. November 2004, 26. Januar, 24. Mai, 9. November 2005, 16. Mai, 14. Juli, 16. Oktober, 23. November 2006, 3. Mai, 2. Juni, 2. November 2007, 17. Mai, 11. November 2008, 4. Juni, 6. Juni, 5. November 2009 seien der Klägerin nachfolgende SGB II-Leistungen monatlich bewilligt worden:

- Tabelle nicht darstellbar -

Die Klägerin habe im streitigen Zeitraum eine russische Altersrente bezogen, was einen SGB II-Leistungsbezug gesetzlich ausschließe. Mithin seien die Bewilligungsentscheidungen seit dem 1. Januar 2005 von Anfang an rechtswidrig gewesen. Die Rücknahme rechtfertige sich aus § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin sei nicht gegeben, da sie zumindest grob fahrlässig die Altersrente nicht als Einkommen angegeben habe. Die Forderung setze sich aus Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 39.845,07 EUR und aus zu Unrecht erhaltenen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen in Höhe von 8.334,80 EUR zusammen. Der Gesamterstattungsbetrag ergebe daher 48.179,87 EUR.

Dagegen hat die Klägerin am 16. September 2010 Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) erhoben und ergänzend ausgeführt: Sie habe zu keinem Zeitpunkt grob fahrlässig oder gar vorsätzlich gehandelt. Sie beherrsche die deutsche Sprache nicht. Da sie nur die russische Sprache mit kyrillischen Buchstaben verstehe, sei sie beim Ausfüllen von Formularen stets auf fremde Hilfe bei der Übersetzung und beim Schreiben angewiesen. Bereits in ihrer Erklärung vom 12. Februar 2004 habe sie ihre russische Rente in Höhe von 1.200 Rubel angegeben. Dies müsste dem Beklagten auch bekannt sein. Im Vordruck habe sie den Verkauf einer Wohnung zum Preis von 500.000 Rubel angegeben. Die Rente habe zum Stichtag des 17. Januar 2011 lediglich einen Wert von 29,85 EUR im Monat gehabt. Beim Ausfüllen des Formulars vom 3. November 2004 sei sie trotz Schreibhilfe nicht in der Lage gewesen, die Fragen richtig zu verstehen. Bei der Einreise habe sie die deutschen Behörden über ihre Einkünfte einschließlich der russischen Altersrente informiert. Vorsorglich werde die Anfechtung der fehlerhaften Erklärungen erklärt. In jedem Fall sei der Sozialhilfeträger und Beigeladene ihr gegenüber leistungspflichtig.

Der Beklagte hat demgegenüber ausgeführt: Die Erklärung vom 12. Februar 2004 sei ihm unbekannt. Die Sprachprobleme der Klägerin entbinde sie nicht von der Verpflichtung, die Formulare mit der erforderlichen Sorgfalt auszufüllen und wahrheitsgemäße und vollständige Angaben zu machen. Ein eventuelles Verschulden Dritter müsse sich die Klägerin zurechnen lassen. Unklarheiten gingen dabei zu ihren Lasten.

In Erörterungstermin vom 30. November 2013 hat die Klägerin unter anderem erklärt: Beim ersten SGB II Antrag habe sie sich Hilfe beim Ausfüllen von einer Privatschule in D. geholt. Entweder die Direktorin der Schule Frau S., die Lehrerin Frau U. oder die soziale Mitarbeiterin Frau T. hätten ihr dabei geholfen. Die Schule existiere nicht mehr. Die genannten Personen hätten beim Ausfüllen der Formulare geholfen und hätten sie zum Arbeitsamt und anderen Stellen begleitet. Die Fragen seien von den genannten Personen dabei aber nicht erläutert worden. Es sei daher nicht so gewesen, dass ihr jeder einzelne Satz erklärt worden sei. Die im Antrag unter VI genannten Punkte seien ihr entsprechend nicht erläutert worden. Ihr sei einfach nur gesagt worden, sie solle dort das Wort Eingliederungshilfe hineinschreiben. Ihr sei auch nicht klar gewesen, dass es unter diesem Punkt um ihre gesamten Einkünfte gegangen sei. Auf den Inhalt der Formulare habe sie eigentlich nicht geachtet. Sie habe die russische Altersrente auf ein russisches Konto überwiesen bekommen. Dieses Konto befinde sich noch in S., wo ihre Kinder noch lebten. Im April 2004 sei sie nach Deutschland gekommen und habe zunächst Sozialhilfe bezogen. Beim Sozialamt habe sie auf ihre Rente hingewiesen. Ab 30. Juni 2004 habe sie dann einen Deutschkurs bis zum 17. Dezember 2004 absolviert. Sie sei ausgebildete Mathematiklehrerin, habe dann aber als Ingenieurin und in der letzten Zeit als Verkäuferin gearbeitet. Beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland habe sie ihre Erklärung vom 12. Februar 2004 im Original abgegeben. Die Eintragungen seien von Mitarbeitern des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen worden. In dieser Erklärung seien alle Angaben zu ihren Einkünften enthalten. Die Antragstellung sei auch in Russland recht formalisiert. Man müsse gegebenenfalls bei mehreren Stellen Angaben machen. Dies sei dort auch nicht so einfach. In den ersten Jahren in Deutschland habe sie beim Ausfüllen der Formulare immer Hilfe gebraucht, da sie der deutschen Sprache nicht mächtig gewesen sei. Wenn sie Folgeanträge ausgefüllt habe, sei dies so gewesen, dass sie von den alten Formularen wie von einem Vordruck abgeschrieben habe. Auf den Inhalt des Formulars habe sie dabei nicht geachtet. Sie habe es letztlich einfach abgeschrieben. Die Amtssprache sei für sie einfach unverständlich geblieben.

Das SG hat mit Urteil vom 12. Dezember 2013 den Bescheid des Beklagten vom 28. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2010 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin könne sich auf Vertrauensschutz berufen. Nach ihren glaubhaften und nachvollziehbaren Ausführungen habe sie zunächst Sozialhilfe bezogen und bis zum 17. Dezember 2004 einen Deutschkurs belegt. Gegenüber dem Sozialamt habe sie auf ihre russische Rente hingewiesen. Dies gelte auch gegenüber dem Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in S ... Wegen dieses Ablaufes habe sie auf die Rechtmäßigkeit der Bewilligung von Sozialleistungen bei gleichzeitigem Bezug einer russischen Altersrente vertrauen können. Hieran habe auch der Zuständigkeitswechsel zum Beklagten nichts geändert. Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit könne ihr nicht gemacht werden. In ihrer ersten Zeit in Deutschland sei sie mit der deutschen Amtssprache in keiner Weise vertraut gewesen. Sie habe sich deshalb der Hilfe Dritter bedient und sei auch bei ihrem SGB II-Erstantrag entsprechend unterstützt worden. Ihr sei es nicht möglich gewesen, die kostenpflichtigen Leistungen eines Übersetzungs- oder Dolmetscherbüros in Anspruch zu nehmen, zumal sie zu den Mitarbeitern der Schule ein besonderes Vertrauensverhältnis gehabt habe. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass das Antragsformular von ihr blind ausgefüllt und unterschrieben worden sei. Aus der Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 4 SGB II sei auch nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 16. Mai 2012 (B 4 AS 105/11 R, juris) nicht erkennbar, ob der Begriff der Altersrente auch ausländische Renten-leistungen umfasse.

Der Beklagte hat gegen das ihm am 9. Januar 2014 zugestellte Urteil am 15. Januar 2014 Berufung beim Landessozialgericht eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin habe grob fahrlässig gehandelt. Sie hätte sich schon wegen ihrer Ausbildung mit den konkreten Inhalten der Antragsformulare auseinandersetzen müssen. Sie habe nach eigener Einlassung nicht davon ausgehen können, dass die Antragsunterlagen ohne weitere Erläute-rungen und Nachfragen vollständig und korrekt gewesen seien. Auch habe sie Folgeanträge lediglich mittels Vorlage ausgefüllt.

Im Erörterungstermin vom 23. Januar 2015 hat der Berichterstatter darauf hingewiesen, dass die Sorgfaltspflichten bei Einschaltung von Erfüllungsgehilfen möglicherweise strenger sein dürften, als dies das SG angenommen habe.

Der Senat hat die Sozialhilfeakte der Klägerin beigezogen. Nach Akteneinsicht hat der Beklagte ausgeführt: Die Klägerin habe auch gegenüber dem Beigeladenen die Rente nicht angegeben. Nach der Erklärung vom 12. Februar 2004 habe die Klägerin bei der Ausreise eine Eigentumswohnung für 500.000 Rubel verkauft. Dies entspreche einem Barvermögen von 12.500,00 EUR. Dieses Vermögen habe sie auch nicht angegeben. Die Klägerin hat dagegen ausgeführt: In der Akte sei eine Erklärung über die Rente der Klägerin in russischer Sprache enthalten. Die komplexe Zuständigkeitsregelung zwischen der Beigeladenen und dem Beklagten sei ihr unbekannt gewesen. Ein schwerer Sorgfaltspflichtenverstoß könne ihr nicht vorgeworfen werden, da sie gegenüber der Beigeladenen den Bezug der Rente angegeben habe.

Der Senat hat mit Beschluss vom 12. Januar 2017 die Beigeladene beigeladen.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 12. Dezember 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

In der mündlichen Verhandlung des Senats vom 31. Januar 2017 hat die Klägerin u.a. erklärt: Auf Vorhalt des Originalantrages vom 23. November 2004 könne sie bestätigen, ihn selbst ausgefüllt zu haben. Dies sei im Jobcenter passiert. Wer sie damals begleitet habe, könne sie nicht mehr sagen. Sie habe jedenfalls einen Dolmetscher zu Rate gehabt. Konkrete Erinnerungen an die Erstantragstellung beim Beklagten habe sie nicht mehr.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten und Beiakten Bezug genommen. Die Verwaltungsakten des Beklagten sowie eine Sozialhilfeakte der Beigeladenen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben worden. Sie ist auch statthaft i.S.v. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Danach ist die Berufung ohne weiteres zulässig, wenn der Wert des Beschwer-degegenstands bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, den Betrag von 750,00 EUR übersteigt. Streitgegen-ständlich ist hier eine Leistungsrücknahme und Erstattung von Leistungen i.H.v. 48.179,87 EUR.

Die Berufung ist begründet. Der Bescheid vom 28. Juni 2010 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheids vom 2. September 2010 ist rechtmäßig.

Rechtgrundlage für die Rücknahme der Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010 gegenüber der Klägerin sind § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm §§ 45, 50 SGB X sowie wegen der Rückforderung der erbrachten Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträgen die §§ 330 und 335 SGB III. Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III und § 45 Abs. 1, 2 Satz 3 Nr. 2 und Abs. 4 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen, soweit er von Anfang an rechtwidrig begünstigend ist. Voraussetzung ist weiter, dass der Begünstigte sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen kann, weil der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid ist formell rechtmäßig. Die gemäß § 24 Abs. 1 SGB X vorzunehmende Anhörung ist erfolgt. Mit Schreiben vom 12. April 2010 hatte der Beklagte die Klägerin darauf hingewiesen, dass sie keinen Anspruch auf SGB II-Leistungen habe. Da sie eine russische Altersrente beziehe, sei sie gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II ausgeschlossen. Das Anhörungsschreiben enthielt auch Ausführungen zum Verschuldensvorwurf, der grob fahrlässigen Falschangaben (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) bzw. dem Erkennen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Die fehlerhafte Bewilligung sei durch die falschen bzw. unvollständigen Angaben verursacht worden. Die Überzahlung betrage 48.179,87 EUR.

Der angegriffene Rücknahme- und Erstattungsbescheid genügt auch den Anforderungen an die Bestimmtheit von Verwaltungsakten. Als materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung verlangt das Bestimmtheitserfordernis des § 33 Abs. 1 SGB X, dass der Verfügungssatz nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist. Der Betroffene muss bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände in die Lage versetzt werden, die in dem Bescheid getroffene Rechtfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten (vgl. BSG, Urteil vom 10. September 2013, Az.: B 4 AS 89/12 R, juris RN 15). Ausreichende Klarheit kann auch dann bestehen, wenn zur Auslegung des Verfügungssatzes auf die Begründung des Verwaltungsaktes, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlagen zurückgegriffen werden muss. Da vorliegend der Beklagte seine Leistungsbewilligung für die genannten Bewilligungszeiträume vollständig aufgehoben hat, bedurfte es keiner Bezifferung der auf die einzelnen Monate entfallenden Aufhebungsbeträge, weil die Klägerin – ggf. unter Heranziehung der Bewilligungsbescheide des Beklagten – eindeutig erkennen konnte, wie hoch die monatlichen Aufhebungsbeträge sind und dass ihr kein monatlicher Leistungsbetrag verbleiben sollte. Der Bescheid vom 28. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2010 enthält eine ausführliche Aufstellung aller bewilligten Leistungen der Klägerin einschließlich der gezahlten Krankenkassen- und Pflegekassenbeiträge. Damit war für die Klägerin klar ersichtlich, dass der Beklagte die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2010 vollständig in Höhe von 48.179,87 EUR aufgehoben und von ihr die Erstattung dieses Betrages gefordert hat (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2010, B 4 AS 154/11 R, juris). Der Bescheid vom 28. Juni 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides weist unter Nennung der jeweiligen Bescheide für die streitigen Bewilligungsabschnitte die jeweiligen Monatsbeträge auf. Diese Aufstellung hat die Klägerin nicht gerügt. Rechenfehler sind auch nach Prüfung des Senats nicht feststellbar.

Vorliegend ist durch den Ausgangsbescheid vom 28. Juni 2010 und den Widerspruchsbe-scheid vom 2. September 2010 auch die Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eingehalten. Der Beklagte hatte erst im Februar 2010 nach Vorlage der Rentenbelege durch die Klägerin hinreichend sichere Kenntnis vom laufenden Altersrentenbezug.

Die Rücknahmeentscheidung ist auch im Übrigen materiell rechtmäßig. Alle Bewilligungsbe-scheide für den streitbefangenen Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010 waren von Anfang an vollständig rechtwidrig, weil die Klägerin bereits dem Grunde nach von SGB II-Leistungen ausgeschlossen war. Gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhalten Personen, die eine Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentliche-rechtlicher Art beziehen, keine SGB II-Leistungen. Insoweit führt nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 16. Mai 2012, B 4 AS 105/11 R, juris, Leitsatz) auch der Bezug einer ausländischen Altersrente zum Leistungsausschluss, wenn diese ausländische Leistung durch einen öffentlichen Träger gezahlt wird, sie an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze anknüpft und sie einen Lohnersatz nach einer im allgemeinen den Lebensunterhalt sicherstellenden Gesamtkonzeption darstellt. Das BSG führt insoweit aus, zwar könne dem Wortlaut von § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II nicht eindeutig entnommen werden, ob der Ausschlussgrund nur dann eintrete, wenn eine Rente nach deutschem Recht bezogen werde oder ob der Begriff der "Altersrente" auch eine ausländische Rentenleistung umfasse. Nach der gesetzlichen Formulierung müsse es sich in jeden Fall um eine Leistung handeln, die eine Altersrente nach dem Vorbild des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch "ähnlich" sei. Bereits im Arbeitsförderungsrecht des AFG, fortgeführt im SGB III, habe der Bezug einer ausländischen Altersrente zum Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe geführt. Hieran knüpfe das SGB II konzeptionell abgestimmt an, indem es zwischen Sozialversicherungsleistungen und steuerfinanzierten Existenzsicherungssystemen differenziere und ausländische Altersrente, soweit sie deutschen Rentenleistungen vergleichbar seien, miterfasse, mit der Folge, dass die typisierende Annahme des endgültigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben durch den Bezug einer Altersrente zum Leis-tungsausschluss nach dem SGB II führt. Es komme nicht darauf an, ob die ausländische Altersrente bereits bezogen werden könne, bevor dies im Hinblick auf das Renteneintrittsalter nach deutschem Recht möglich sei (RN 25), oder ob diese ggf. individuell den Lebensunterhalt sicherstellen könne (RN 26).

Die Klägerin bezog in Russland ab dem 55. Lebensjahr eine Altersrente von 1.100 bzw. 1.200 Rubel, die ähnlich der Funktion und Struktur der deutschen Altersrente zu qualifizieren ist. Dabei handelte es sich um eine Rente wegen Alters im Sinne von § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II, die mit der deutschen Altersrente vergleichbar ist und daher einen absoluten Leistungsausschluss von SGB II-Leistungen begründet. Der Senat hat mangels entgegenstehender Anhaltspunkte keinen Zweifel daran, dass diese Rente in Russland als Leistungsgewährung durch einen öffentlichen Träger nach Erreichen der bestimmten Altersgrenze in Russland zur Deckung des Lebensbedarfes erfolgte und als Lohnersatzleistung der von der Klägerin zuvor ausgeübten Berufstätigkeiten anzusehen ist. Gegenteiliges hat die Klägerin weder vorgetragen noch behauptet. Der vom Beklagten festgestellte Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4 SGB II ist daher nicht zu beanstanden. Wegen dieses Leistungsausschlusses hatte die Klägerin von Anfang an keinen Anspruch auf die Gewährung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach dem SGB II für die Zeit von Januar 2005 bis April 2010 gehabt.

Ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 45 Abs. 2 SGB X steht der Rücknahme der Leistungsbewilligungen nicht entgegen. Denn es liegen die Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vor. Die Bewilligungsbe-scheide beruhen auf Angaben, die die Klägerin zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hatte.

Eine unrichtige oder unvollständige Angabe kann durch das passive Verschweigen bestimmter Umstände erfolgen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine gesetzliche Mitteilungspflicht im Sinne von § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB I) hinsichtlich der Einkommenserzielung besteht und nicht (vollständig) erfüllt wird. Auch eine unvollständige Angabe führt zu einem Verschweigen, wenn sie den fälschlichen Eindruck erweckt, alle entscheidungserheblichen Angaben zum Sachverhalt vollständig gemacht zu haben (vgl. Schütze in: von Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014, § 45 RN 49).

Die Klägerin hat ihre laufende Renteneinnahme im Erstantrag und auch in den Folgeanträgen gegenüber dem Beklagten nicht angegeben, obwohl ausdrücklich nach Renten bzw. sonstigen Einkünften gefragt wurde. Die Klägerin hat die Richtigkeit ihrer Angaben in den Formularen stets durch ihre Unterschrift bestätigt. Die unterlassene Angabe der Rente war wesentliche Grundlage des Beklagten, überhaupt Leistungen zu bewilligen.

Der Senat ist – auch nach Befragen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung – und nach Auswertung des Verwaltungsvorgangs einschließlich der Einlassungen der Klägerin im Verfahren zu der Überzeugung gelangt, dass sie hinsichtlich der unterlassenen Angabe des Rentenbezugs als Einnahme grob fahrlässig gehandelt hat.

Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der gesetzlichen Definition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt im ganz besonders schweren Maße verletzt hat. Dies verlangt, dass schon einfache, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und daher nicht beachtet wird, was ggf. jedem einleuchten muss. Ent-scheidend ist das individuelle Vermögen, die Fehlerhaftigkeit der gemachten Angaben erkennen zu können. Maßgeblich ist daher, ob die Klägerin bei einer Parallelwertung in der Lage gewesen wäre, zu erkennen, dass sie ihr Renteneinkommen bei Antragstellung hätte angeben müssen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 76/08 R, juris RN 20).

Die von der Klägerin eingewandten Sprachprobleme, die auch bei der mündlichen Verhand-lung des Senats noch bestanden haben, können den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht entkräften.

Gemäß § 19 Abs. 1 SGB X ist die Amtssprache deutsch. Daher sind deutsche Behörden nicht verpflichtet, amtliche Formulare in der Heimatsprache eines Antragstellers zur Verfügung zu stellen. Zwar darf die Behörde fremdsprachige Merkblätter o.ä. herausgeben, einen Rechtsanspruch hierauf haben ausländische Antragsteller jedoch nicht (vgl. Roller in: von Wulffen/Schütze, a.a.O., § 19 RN 6). Ebenso besteht kein Anspruch darauf, dass die Behörde zu Anhörungen und Vorsprachen einen Dolmetscher hinzuzieht. Ausländische Antragsteller müssen sich, wenn sie der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sind, über den Inhalt amtlicher Schriftstücke – zu denen auch die Antragsformulare für SGB II-Leistungen gehören – mit Hilfe eines Dolmetschers Klarheit verschaffen. Insoweit ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass einem Ausländer ein Sorgfaltspflichtverstoß anzulasten ist, wenn er in Kenntnis seiner Verständigungsprobleme nicht alles Erforderliche unternimmt, um diese auszuräumen. Es obliegt einem ausländischen Antragsteller, dass er seinerseits alles Zumutbare unternimmt, um sich die notwendige zuverlässige Kenntnis von Inhalt amtlicher Schriftstücke zu verschaffen. Zuverlässige Kenntnis vom Inhalt erhält jedoch nur, wer sich amtliche Schriftstücke auch vollständig übersetzen lässt. Dies bedeutet für mehrseitige Antragsformulare, dass bei Hinzuziehung eines Dritten als Dolmetschers alle Einzelfragen des Formulars zu übersetzen sind. Grob fahrlässig handelt derjenige ausländische Antragsteller, der das von einem Dritten ausgefüllte Antragsformular "blind", d.h. ohne Kenntnis der Einzelangaben, unterschreibt. Dem kommt es gleich, wenn sich ein ausländischer Antrag-steller auf die Einschätzung (bzw. rechtliche Würdigung oder das Wissen) der herangezoge-nen Hilfsperson verlässt, eine russische Rente müssten nicht angegeben werden, ohne sich selbst durch eine wortgetreue Übersetzung der Fragen zu dem Einkommen ein Bild davon zu verschaffen, was die Behörde eigentlich wissen will. Denn bei einer Übersetzung der Frage nach Renteneinkommen hätten sich jedenfalls zumindest Zweifel dahingehend aufdrängen müssen, ob nur deutsche oder auch ausländische Renten gemeint waren. Im Zusammenhang mit den Fragen nach den übrigen Einkommensarten (Arbeitsentgelt, Vermietung oder Verpachtung, Zinsen, Kapitalerträge, Unterhaltszahlungen oder sonstige laufende oder einmalige Einnahmen gleich welcher Art) liegt die Erkenntnis nahe, dass es um die Angabe von jeder Form von finanziellen Zuflüssen ging.

Dabei kann sich die Behörde grundsätzlich darauf verlassen, dass der Antragsteller die im Formular gemachten Angaben, die mittels Unterschrift bestätigt worden sind, tatsächlich auch verstanden hat (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 31. Januar 2007, L 12 AL 124/06; Hessisches LSG, Urteil vom 21. Oktober 2011, L 7 AL 191/11 jeweils zitiert nach Juris; von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 45 RN 52).

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin im Erörterungstermin vom 30. November 2013 selbst eingeräumt, dass sie sich beim ersten SGB II-Antrag von Mitarbeitern einer Privatschule in D. hat Hilfestellung geben lassen. Diese Personen, sei es die Direktorin der Schule, eine Lehrerin oder eine soziale Mitarbeiterin, boten für sich genommen keine Gewähr, dass sich die Klägerin auf die korrekte Antragsausfüllung verlassen konnte. Dies wäre allenfalls dann denkbar gewesen, wenn es sich um eine behördliche Person gehandelt hätte, die aufgrund ihrer Kenntnisse von der Klägerin selbst und den rechtlichen Vorschriften zur Antragstellung im Besonderen gute Gewähr geboten hätte, dass vollständige und korrekte Angaben gegenüber dem Beklagten gemacht werden konnten. Dies gilt umso mehr, als die Klägerin sich von diesen Personen nicht einmal die Fragen im Detail hat erläutern lassen. So wurden ihr z.B. die im Antrag unter VI genannten Punkte von den genannten Dritten nicht erklärt. Die Klägerin hat mit ihren Eintragungen damit mehr oder weniger blind den Antrag ausgefüllt, da ihr die gestellten Fragen nicht klar sein konnten. Auch hat sie offenbar nicht darauf gedrängt, sich das gesamte Formular übersetzen zu lassen oder auch nur konkrete Fragen zu bestimmten Teilen des Fragebogens gestellt. Vielmehr ist sogar vom Gegenteil auszugehen. Die Klägerin hat durch ihre selbst vorgenommenen Eintragungen auf dem Formular in den Räumlichkeiten des Beklagten im November 2004 selbst den Eindruck hinreichender sprachlicher und fachlicher Kompetenz vermittelt. Sie hat sich ohne hinreichende Grundlage lediglich auf die eher vagen Aussagen der helfenden Dritten verlassen, beispielsweise das Wort Eingliederungshilfe hineingeschrieben, ohne den genauen Inhalt der Frage überhaupt zu kennen bzw. zu verstehen. Dies begründet für sich bereits den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit, da sie es damit dem Zufall überließ, ob der Antrag vollständig und richtig ausgefüllt werden würde. Dies gilt auch für die Folgeanträge beim Beklagten, da die Klägerin später die alten Formulare lediglich als Vordruck verwendet und ohne hinreichende Lesekenntnis einfach schablonenhaft abgeschrieben hatte. Auch dies entspricht weitgehend einer Blindunterschrift, die den Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit ebenfalls rechtfertigt.

Für die grobe Fahrlässigkeit sprechen noch weitere Gründe. Die Nichtangabe der russischen Rente im ersten Antragsformular und den Folgeanträgen beruht auf einer besonderen Leichtfertigkeit, die ihr hätte klar sein müssen. Aufgrund ihrer vorherigen Kontakte zum deutschen Konsulat und dem Beigeladenen war ihr die hohe Bedeutung von Einkünften bekannt. Es hätte vor diesem Hintergrund nahegelegen, die Altersrente auch gegenüber dem Beklagten von vornherein anzugeben bzw. zumindest danach zu fragen. Die Klägerin war zur Überzeugung des Senats nach ihren intellektuellen Fähigkeiten als ausgebildete Mathematiklehrerin, tätige Ingenieurin und Verkäuferin auch grundsätzlich in der Lage zu erkennen, dass die russische Altersrente neben der Eingliederungshilfe wegen der eindeutigen Frage nach Renten oder sonstigen Einkünften hätte aufgeführt werden müssen. Nach ihren eigenen Angaben im Erörterungstermin vom 30. September 2013 hat sie selbst eingeräumt, dass auch in Russland die Antragstellung recht formalisiert und nicht einfach ist und ggf. Angaben bei mehreren Stellen gemacht werden müssten. Von daher musste sie wissen, dass die Angaben in den Formularen sorgfältig und genau zu machen waren. Auch aufgrund des persönlichen Eindrucks, den die Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf den Senat gemacht hat, ergeben sich keine Hinweise auf eine geistige Überforderung bei dem ordnungsgemäßen Ausfüllen des Leistungsantrags. Hierbei ist auch zu beachten, dass die Klägerin die von ihr angefertigten handschriftlichen Eintragungen im Antrag selbst gemacht hatte und beim Erstantrag sogar unmittelbar vor Ort vorgenommen hatte. Damit hat sie zumindest gegenüber dem Behördenvertreter irrigerweise den Eindruck vermittelt, mit der Antragstellung sprachlich und auch intellektuell nicht erheblich überfordert zu sein.

Etwas anderes könnte ggf. angenommen werden, wenn die Klägerin bei ihrer Vorsprache im Zuge der Erstantragstellung deutlich gemacht hätte, dass sie nicht sicher ist, ob und wo sie den Bezug einer ausländischen Altersrente eintragen muss. Die Klägerin hat jedoch nicht einmal behauptet, den Beklagten darauf hingewiesen zu haben, dass sie über weitere, im Formular nicht erklärte, Einnahmen verfügt. Damit hat sie durch ihre Unterschrift den Eindruck erweckt, im Formular vollständige und zutreffende Angaben gemacht zu haben.

Der Umstand, dass sich der Klägerin entsprechende Nachfragen zum gemeinten Rentenein-kommen nicht aufgedrängt haben, und sie dementsprechend auch bei ihrer Vorsprache beim Beklagten auch nicht nachgefragt hat, macht die Nichtangabe des laufenden Rentenein-kommens grob fahrlässig (vgl. zu den Sorgfaltspflichten ausländischer Antragsteller: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 6. Dezember 2000, L 5 AL 4372/00, RN 41; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Mai 2009, L 3 AL 3823/06, RN 35; BSG, Urteil vom 27. April 1997, 11 Rar 89/96, jeweils zitiert nach juris). Insoweit hat sich die Klägerin nicht ausreichend darum bemüht, die an sie gerichteten Fragen vollständig zu erfassen und dementsprechend vollständig zu beantworten. Mit der insoweit unzureichenden Beantwortung hat sie zumindest billigend in Kauf genommen, dass abgefragte und benötigte Einzel- bzw. Detailinformationen nicht vollständig oder zutreffend erklärt wurden. Es erweist sich insoweit als grob fahrlässig, dass die Klägerin nach ihren Angaben ohne Übersetzung der einzelnen Fragen darauf vertraute, die herangezogenen Hilfsperson werde die Fragen schon zutreffend beantworten, sie selbst Kenntnis weder vom Inhalt der einzelnen Fragen noch von den gemachte Angaben im Detail hatte und zudem die eigene Unwissenheit bzw. Unsicherheit hinsichtlich der Vollständigkeit der Angaben gegenüber den Beklagten nicht offengelegt hat (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. September 2010, Az.: L 12 AS 233/06, juris RN 65 f.).

Die Klägerin kann sich daher nicht auf Vertrauensschutz berufen. Der Beklagte hatte gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III kein Ermessen auszuüben. Er war zur Rücknahme der Leistungsbewilligungen verpflichtet. Der Beklagte hat daher dem Grunde nach zutreffend seine Bewilligungsentscheidungen vollständig aufgehoben.

Die Klägerin ist nach § 50 Abs. 1 SGB X verpflichtet, die im streitigen Zeitraum erhaltenen SGB II-Leistungen zu erstatten. Der Beklagte hat den Rückforderungsbetrag die gesamten genannten Zeiträume mit insgesamt 48.179,87 EUR beziffert. Die Erstattungsforderung ist insoweit auch zutreffend berechnet worden; der Beklagte hat alle maßgeblichen Bescheide zutreffend in seine Berechnungen einbezogen.

Nach den vom Beklagten im angegriffenen Bescheid aufgelisteten Beträgen hat er im streitgegenständlichen Zeitraum zudem Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für die Klägerin in einer Gesamthöhe von 8.334,80 EUR erbracht. Diese sind aufgrund der vollstän-digen Aufhebung der Bewilligungsbescheide auch vollständig zu erstatten. Ermächtigungs-grundlage hierfür ist § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 iVm § 335 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und Abs. 5 SGB III. Die Klägerin ist danach auch zur Erstattung der Beiträge für Kranken- und Pflege-versicherung verpflichtet. Mithin ergibt sich eine Erstattungsforderung von insgesamt 48.179,87 EUR. Danach ist die Rücknahme nach § 45 SGB X und die Erstattungsforderung des Beklagten nach § 50 SGB X dem Grund und der Höhe nach zutreffend erfolgt.

Der Rücknahme und Erstattung der Leistungen (und Beiträge) steht im vorliegenden Fall auch nicht die Regelung des § 107 Abs. 1 SGB X entgegen. Danach gilt im Verhältnis zwischen dem erstattungsberechtigten Leistungsträger (hier der Beklagte) und dem Sozial-leistungsberechtigten (hier: die Klägerin) ein bestehender Erstattungsanspruch als erfüllt, soweit zwischen den beteiligten Sozialleistungsträgern ein Erstattungsanspruch besteht (hier: im Verhältnis von Beklagten und Beigeladenen). Besteht ein Erstattungsanspruch nach den §§ 102ff. SGB X, wird kraft Gesetzes fingiert, dass durch die Leistung des vorleistenden Trägers, hier des Beklagten als erstattungsberechtigten SGB II-Leistungsträgers, die Verpflichtung des "an sich" leistungspflichtigen Trägers, der Beigeladenen als erstattungspflichtigem Sozialhilfeträger, erfüllt ist.

Aufgrund der Regelung kann einerseits der Sozialleistungsberechtigte nicht mehr gegen den eigentlich leistungsverpflichteten Träger vorgehen. Damit werden Doppelleistungen verhindert (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2011, Az.: B 11 AL 15/10 R, juris RN 16). Andererseits erübrigt sich eine Rückabwicklung des materiell zu Unrecht begründeten Sozialleistungsver-hältnisses zwischen dem Leistungsberechtigten (der Klägerin) und dem Erstattungsberech-tigten (dem Beklagten). Soweit einer der gesetzlich geregelten Erstattungstatbestände eingreift, ist durch die Regelungen im § 107 Abs. 1 SGB X eine Rückabwicklung im Verhältnis zwischen dem Leistungsträger (Beklagten) und dem Berechtigten (Klägerin) ausgeschlossen. Maßgeblich für den Eintritt der gesetzlichen Fiktion ist das Bestehen eines Erstattungsanspruchs nach rein objektiver Betrachtung. Es kommt nicht darauf an, ob ein Erstattungsanspruch geltend gemacht oder erfüllt worden ist. In Höhe eines bestehenden Erstattungsanspruch ist der Leistungsanspruch des Leistungsberechtigten bereits befriedigt und die Geltendmachung eines Rückforderungsanspruchs durch den unzuständigen Leis-tungsträger ausgeschlossen. Der Leistungsträger hat kein Wahlrecht, die Erstattung entweder vom anderen Leistungsträger oder vom Leistungsempfänger zu verlangen.

Erstattungsansprüche nach § 102 oder § 103 SGB X kommen vorliegend nicht in Betracht, da der Beklagte weder vorläufig Leistungen erbracht hat noch seine Leistungsverpflichtung nachträglich entfallen ist (§ 103 SGB X). Auch liegt kein Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers gemäß § 104 SGB X vor, weil der Beklagte wie ausgeführt von Anfang an sachlich unzuständig und damit nicht leistungsverpflichtet war.

Der Senat kann im Folgenden offenlassen, ob der Beigeladene gegenüber der Klägerin statt des Beklagten seit 1. Januar 2005 bis 30. April 2010 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach den §§ 21, 27 f. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) hätte erbringen müssen. Auch kann der Senat offenlassen, ob § 105 SGB X stets unanwendbar ist, wenn - über die Unzuständigkeit des leistenden Trägers hinaus - eine dem materiellen Sozialrecht widersprechende Leistung vorliegt (so Roos in: von Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014, § 105 Rn. 7 m.w.N.). Einem eventuellen Erstattungsanspruch des Beklagten gegen den Beigela-denen steht jedenfalls § 105 Abs. 3 SGB X entgegen. Für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2010 konnte der Beigeladene nicht nach dem SGB XII leistungspflichtig sein, da er hiervon keine Kenntnis hatte. Erst mit Anzeige eines möglichen Erstattungsanspruchs des Beklagten mit Schreiben vom 17. Juni 2010 – dessen Zugang zudem streitig ist – hätte eine Kenntnis des Beigeladenen vom Sachverhalt überhaupt frühestens in Betracht kommen können.

Nach § 105 Abs. 3 SGB X gilt u.a. § 105 Abs. 1 SGB X gegenüber den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe nur von dem Zeitpunkt ab, von dem ihnen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. Wie die Regelung des § 103 Abs. 3 SGB X begrenzt auch § 105 Abs. 3 SGB X den Erstattungsanspruch gegenüber den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge sowie der Kinder- und Jugendhilfe zeitlich dahin, dass eine Erstattung erst ab Kenntnis der Leistungspflicht in Betracht kommt. Richtet sich ein Erstattungsanspruch nach § 105 SGB X gegen einen Sozialhilfeträger, gilt er nur von dem Zeitpunkt an, in dem ihm bekannt war, dass die Voraus-setzungen für seine Leistungspflicht vorlagen. Dies bedeutet, dass ein Sozialhilfeträger regelmäßig keine Erstattungsansprüche für die Vergangenheit erfüllen muss. Ein Erstat-tungsanspruch entsteht erst, wenn der Sozialhilfeträger Kenntnis von seiner eigenen Leistungspflicht hat. Er muss sich insoweit keine Kenntnisse anderer Sozialleistungsträger zurechnen lassen. Maßgeblich ist die tatsächliche Kenntnisnahme des zuständigen Sachbe-arbeiters der Behörde, ein bloßes Kennen müssen reicht nicht aus.

Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Urteil des 5. Senats vom 2. Juni 2005, 5 C 30/04, juris) ausgeführt, für den Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Voraussetzungen der Leistungspflicht im Sinne von § 105 Abs. 3 SGB X sei im Erstattungsrechtsverhältnis auf die Kenntnis des Trägers der Sozialhilfe abzustellen, gegen den ein Erstattungsanspruch geltend gemacht werde. Ein Leistungsverhältnis nach § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG (bzw. 16 Abs. 2 SGB I) für das Einsetzen von Sozialhilfe im Leistungsverhältnis hinreichendes Bekanntwerden bei einem nichtzuständigen Sozialhilfeträger ersetze im Erstattungsverhältnis nicht die nach § 105 Abs. 3 SGB X erforderliche eigene Kenntnis des auf Erstattung in Anspruch genommenen Sozialhilfeträgers. Dem Wortlaut des § 105 Abs. 3 SGB X nach sei die Anwendung der Abs. 1 und 2 im Verhältnis zu bestimmten Leistungsträgern begrenzt und stelle darauf ab, ob diesen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. Nach dem Wortlaut sei daher für einen Erstattungsanspruch gegen einen Sozialhilfeträger die Kenntnis des unzuständigen Leistungsträgers vom Leistungsbedarf nicht ausreichend, es werde die (eigene) Kenntnis des auf Erstattung in Anspruch genommenen Sozialhilfeträgers verlangt. Stelle man hingegen letztlich auf die Kenntnis des erstattungsbegehrenden Leistungsträgers ab, liefe die gesetzliche Regelung mangels sinnvollen Anwendungsbereichs ins Leere (a.a.O. RN 11).

Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung in § 105 Abs. 3 SGB X sei eine Begrenzung von Erstattungsansprüchen gegen die genannten Sozialleistungsträger. Auch in Ansehung der Regelung § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG (jetzt wortgleich: § 18 Abs. 2 SGB XII), der eingeführt worden sei, um § 16 Abs. 2 SGB I (klar und vollständig) in das Sozialhilferecht zu implemen-tieren, ergebe sich kein Anhalt für teleologisch reduzierende Auslegung (a.a.O., RN 11). Der Gesetzgeber habe die Einführung von § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG, der für die Leistungsverhält-nisse gelte, im Jahr 1996 nicht zum Anlass genommen, eine entsprechende Regelung für Erstattungsrechtsverhältnisse einzufügen oder § 105 Abs. 3 SGB X neu zu regeln oder einzuschränken. Mithin sei für das Erstattungsrecht der allgemeine Schutzzweck des § 105 Abs. 3 SGB X, nicht wegen Aufwendungen für Leistungen in Anspruch genommen zu werden, von denen den benannten Trägern nicht bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen, auch weiterhin gültig.

§ 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG (jetzt: § 18 Abs. 2 SGB XII) normiere keine umfassende Kenntniszu-rechnung zwischen Leistungsträgern. Die Regelung betreffe allein das Leistungsverhältnis zum Hilfesuchenden; Schutzzweck der Regelung sei, dass Hilfesuchende angesichts des gegliederten Sozialleistungssystems und der mitunter schwierigen Zuständigkeitsabgrenzung nicht darunter "leiden" sollten, dass einem anderen als dem zuständigen Träger die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung bekannt geworden sei (a.a.O. RN 12). § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG habe schon nicht angeordnet, dass die Kenntnis des unzuständigen Sozialhilfeträgers umfassend dem zuständigen Sozialhilfeträger zugerechnet werde, sondern beschränke dies auf die Entscheidung über das Einsetzen der Sozialhilfe (Zeitpunkt des Leistungsbeginns). Für eine weitergehende Wirkung der Kenntniszurechnung, insbesondere für eine Zurechnung auch in dem systematisch vom Leistungsrecht zur unterscheidenden Erstattungsrecht, fehle dem Wortlaut der Regelung jeglicher Anhalt. Eine Ausdehnung des auf das Leistungsverhältnis bezogenen Anwendungsbereichs von § 5 Abs. 2 BSHG bzw. § 18 Abs. 2 SGB XII auf das Erstattungsrechtsverhältnis zwischen Sozialhilfeträgern sei nicht geboten; der Zurechnungszusammenhang müsse nicht identisch sein.

Dieser Rechtsprechung des BVerwG aus dem Jahr 2005 zum Erstattungsrecht ist das BSG nicht entgegengetreten. Seine Entscheidungen zu § 16 Abs. 2 SGB I (BSG, Urteil vom 26. August 2008, Az.: B 8/9b SO 18/07 R, juris, Urteil vom 2. Dezember 2014, Az.: B 14 AS 66/13 R, juris) beschäftigen sich allein mit dem Leistungsverhältnis. Wegen des Meistbe-günstigungsgrundsatzes und der Regelung von § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I sei im Verhältnis von SGB II- zu SGB XII-Leistungen im Zweifel davon auszugehen, dass ein Antrag auf SGB II-Leistungen auch als Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII zu verstehen sei. Aussagen zu Folgerungen für Erstattungsverfahren enthalten die genannten BSG-Entscheidungen nicht (auch kein obiter dictum). Wenn das BSG auch für § 105 Abs. 3 SGG die erweiternde Zurechnung der Kenntnis eines unzuständigen Leistungsträgers hätte annehmen wollen, hätte erwartet werden können, dass sich das BSG von der Rechtsprechung des Bundesver-waltungsgerichts (Urteil vom 2. Juni 2005, 5 C 30/40, juris) zu § 105 SGB X, die weitgehende Zustimmung in der sozialrechtlichen Literatur erlangt hatte (vgl. Roos in: von Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014 RN 24; Schlegel/Voelske SGB X, 1. Auflage 2013, § 105 RN 55 m.w.N.), deutlich abgrenzt. Hierfür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Eine eigene Rechtsprechung des BSG zur Reichweite oder Auslegung von § 105 Abs. 3 SGB X gibt es nicht.

Soweit einige SG (SG Augsburg, Urteil vom 17. November 2015, Az.: S 8 AS 983/15, juris; SG Altenburg, Urteil vom 20. Oktober 2016, Az.: S 30 AS 471/14, juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 9. Februar 2012, Az.: L 9 AS 36/09, juris RN 95-97; erwägend im Rahmen der PKH-Beschwerde: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Februar 2016, Az.: L 9 AS 2914/15 B, juris) die Rechtsprechung des BSG zu § 16 Abs. 2 SGB I auf das Erstattungsrecht der §§ 102 ff. SGB X übertragen und dies mit der "notwenigen Konnexität" von materiellem Leistungsrecht und Erstattungsrecht begründen (SG Altenburg, a.a.O., RN 48; SG Augsburg a.a.O., RN 35), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Den beschriebenen Gleichklang von Leistungsrecht und Erstattungsrecht gibt es u.a. wegen der gesetzlich normierten Durchbrechungen u.a. durch § 105 Abs. 3 SGB X nicht.

Denn nicht jede unzuständige Leistungserbringung ist zu erstatten. Nur für die gesetzlich geregelten vier Erstattungstatbestände war es das Bestreben, mehrere Transaktionen im Ausgleichsverhältnis zwischen Leistungsempfänger, Leistungspflichtigen und leistungsge-währenden Träger zu vermeiden und sicher zu stellen, dass derjenige Träger die Kosten der Leistung endgültig trägt, dessen Leistungspflicht der Sache nach "eigentlich" bestand. Liegt keiner der in § 102ff. SGB X geregelten Erstattungstatbestände vor, gibt es – abgesehen von einigen spezialgesetzlich geregelten Einzelnormen wie § 14 Abs. 4 SGB IX – keinen Ausgleich zwischen verschiedenen Leistungsträgern im Erstattungswege. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit der Regelung des § 105 Abs. 3 SGB X u.a. den Sozialhilfeträgern einen besonderen Schutz vor Kostenerstattungen zugebilligt, auch wenn dies mit dem materiellen Leistungsrecht nicht im Einklang steht (vgl. VG Aachen, Urteil vom 3. Februar 2004, 2 K 71/02, juris, RN 41; BVerwG, a.a.O., RN 12). Insoweit zweifelt auch das LSG Baden-Württemberg (a.a.O., RN 11) an, dass es mit Blick auf den klaren Wortlaut von § 105 Abs. 3 SGB X fraglich sein könnte, ob in Erstattungsfällen eine entsprechende Kenntniszurechnung geboten sei wie im Leistungsrecht.

Nach Auffassung des Senats ist die für den Leistungsfall nachvollziehbare und zutreffende Bewertung des BSG nicht auf den Erstattungsfall zu übertragen, weil die zugrunde liegende Fallgestaltung und die beteiligten Interessen nicht vergleichbar sind. Die im Leistungsfall fingierte Kenntnis des zuständigen Sozialhilfeträgers soll den "rechtzeitigen" Zugang zu Sozialleistungen und damit die Verwirklichung sozialer Rechte sicherstellen. Leistungsbe-rechtigte sollen nicht unter Zuständigkeitsstreiten zwischen Sozialleistungsträgern leiden müssen. Diese Problemlage stellt sich im Erstattungsfall nicht. Eine besondere Schutzbe-dürftigkeit des Leistungsberechtigten – hier der Klägerin – ist nicht ersichtlich. Sie hat die benötigen Sozialleistungen erhalten. Im Übrigen hat sie aufgrund eines vorwerfbaren Verhaltens im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X die rechtwidrige Leistungserbringung und nachfolgendend den die Rückforderung auslösenden Ausschluss vom Vertrauensschutz selbst verursacht.

Schließlich führte eine Übertragung der BSG-Rechtsprechung für Leistungsfälle auf Erstat-tungsfälle dazu, dass die Vorschrift des § 105 Abs. 3 SGB X für Sozialhilfeträger im Leis-tungsrecht nach dem SGB II und SGB XII praktisch keinen Anwendungsfall mehr hätte, was weder systematisch noch leistungsrechtlich geboten ist (vgl. BVerwG, a.a.O., RN 12).

Nach alledem ist die Rücknahmeentscheidung des Beklagten nicht zu bestanden. Gemäß § 105 Abs. 3 SGB X scheidet eine Erstattungsforderung des Beklagten gegen den Beigeladenen aus, der der Klägerin hätte zu Gute kommen können. Schließlich hat der Beigeladene frühestens im Juni 2010 Kenntnis vom Sachverhalt erlangen können und erst ab diesem Zeitpunkt damit mit einem entsprechenden Erstattungsanspruch belastet werden können. Die Klägerin hat die Gesamtleistungen in Höhe von 48.179,87 EUR an den Beklagten zu erstatten. Die Erstattungsforderung ist auch der Höhe nach berechtigt. Rechenfehler sind für den Senat nicht ersichtlich und im Übrigen auch nicht von der Klägerin nicht geltend gemacht worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, weil die Auslegung von § 105 Abs. 3 SGB X grundsätzliche Bedeutung hat und vom BSG noch nicht geklärt ist. Zudem gibt es von der Rechtsauffassung des Senat abweichende Entscheidungen von Sozialgerichten.
Rechtskraft
Aus
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