L 13 SB 23/14

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 33 SB 2615/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 23/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 6. Januar 2014 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 27. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. September 2012 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab 4. Februar 2011 einen Grad der Behinderung von 80 festzustellen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu 3/4 zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Bei der 1957 geborenen Klägerin war mit Bescheid vom 13. Oktober 2009 ein GdB von 70 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt worden. Am 4. Februar 2011 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag, mit dem sie auch die Merkzeichen "B" und "H" begehrte. Gegen den Ablehnungsbescheid vom 27. September 2011 erhob die Klägerin Widerspruch. Daraufhin holte der Beklagte das Gutachten der Ärztin W vom 16. Juli 2012 ein, die einen GdB von 70 für angemessen hielt und das Vorliegen von weiteren Merkzeichen verneinte. Dem Gutachten folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. September 2012 zurück. Hierbei ging er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus:

1. Persönlichkeitsstörung, psychische Störungen (Neurosen), psychosomatische Störungen (Depressionen) (Einzel-GdB von 70), 2. Darmwandausstülpungen (Divertikulose, Teilverlust des Dickdarms), Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation (Einzel-GdB von 20), 3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 10), 4. Allergieneigung (Einzel-GdB von 10).

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin einen GdB von 80 und das Merkzeichen "B" begehrt. Das Sozialgericht hat das Gutachten des Praktischen Arztes M vom 23. September 2013 eingeholt, der den GdB auf 70 eingeschätzt und die Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" verneint hat. Der Sachverständige hat folgende Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt:

1. Persönlichkeitsstörung, psychische Störungen (Neurosen), psychosomatische Störungen, Depression, Somatisierungsstörung (Einzel-GdB von 70), 2. Darmwandausstülpungen (Divertikulose, Teilverlust des Dickdarms), Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation (Einzel-GdB von 20), 3. Funktionsminderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 10), 4. Allergieneigung (Einzel-GdB von 10).

Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 6. Januar 2014 mit der Begründung abgewiesen, dass der GdB maximal 70 betrage und die Voraussetzungen des Merkzeichens "B" nicht vorlägen.

Mit der hiergegen gerichteten Berufung hat die Klägerin einen GdB von 80, das Merkzeichen "B" und zunächst auch das Merkzeichen "G" begehrt. Im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter hat sie im Hinblick darauf, dass ihr das Merkzeichen "G" bereits 2009 zuerkannt worden war, erklärt, dieses Merkzeichen nicht mehr geltend zu machen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Schn vom 25. Oktober 2016, der nach Untersuchung der Klägerin unter Heranziehung der Ergebnisse des Zusatzgutachtens des Prof. Dr. Scha vom 25. Oktober 2016 sowie der ihm vorliegenden medizinischen Unterlagen, u.a. dem Bericht des Instituts für medizinische Immunologie vom 21. Oktober 2014, vorgeschlagen hat, bei der Klägerin einen GdB von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "B" festzustellen. Dieser Einschätzung hat der Sachverständige Dr. Schn folgende GdB-relevante Behinderungen zugrunde gelegt:

1. im Funktionssystem "Allergie, Immunologie": multiple allergische Unverträglichkeitsreaktionen mit reaktiver psychischer Beeinträchtigung, multiple Allergien, verminderte Diaminoxidase-Aktivität, Histaminintoleranz, Verdacht einer Gluten-Sensitivität, chronisches Fatique-Syndrom, Lokalanästhetikasensibilisierung (anamnestisch), unspezische Überempfindlichkeit gegenüber Gerüchen, Dämpfen, Gasen und chemisch nicht näher definierten Noxen, anfallsweise auftretende Kreislaufsensationen mit Tachykardien, gastroenterologische Störungen mit Diarrhoen und Obstipationen, psychische Beeinträchtigungen durch mit den Allergien und dem chronischen Fatique-Syndrom verbundenen psychischen Alterationen, Angst- und Panikzuständen (Einzel-GdB von 80), 2. operierte Darmaussackungen mit entzündlicher Reaktion (Divertikulitis) (Einzel-GdB von 20), 3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel GdB von 10).

In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte erklärt, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 9. Februar 2017 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens B festzustellen. Die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis angenommen und den Rechtsstreit lediglich hinsichtlich der Höhe des GdB fortgeführt.

Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 6. Januar 2014 aufzuheben sowie den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 27. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. September 2012 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 4. Februar 2011 einen Grad der Behinderung von 80 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist, soweit sie von ihr fortgeführt wird, begründet.

Der Klägerin hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 80 mit Wirkung ab dem 4. Februar 2011.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.

Die zuletzt in den Gutachten von Dr. Schn und Prof. Dr. Scha beschriebenen multiplen Allergien und Unverträglichkeiten der Klägerin bedingen keinen eigenständigen GdB. Wie Teil A Nr. 2a der Anlage zu § 2 VersMedV verdeutlicht, bildet der GdB ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ausgangspunkt für die Ermittlung des GdB stellt deshalb nicht die Diagnose der Erkrankung dar, sondern die aus der Erkrankung resultierende Funktionsstörung. Dementsprechend sollen die Beeinträchtigungen nach Teil A Nr. 2e der Anlage zu § 2 VersMedV einem bestimmten Funktionssystem (Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz- Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zugeordnet und zusammenfassend beurteilt werden. Ein Funktionssystem "Allergie, Immunologie" existiert nicht.

Der Funktionsbereich der Psyche ist bei der Klägerin mit einem Einzel-GdB von 70 zu bewerten. Hierbei sind sowohl die gutachterlich ermittelten psychischen Erkrankungen, d.h. Persönlichkeitsstörung, psychische Störungen im Sinne von Neurosen, psychosomatische Störungen unter Einschluss insbesondere der unspezifischen Überempfindlichkeit gegen bestimmte Stoffe, Depression, Somatisierungsstörung und das chronische Fatique-Syndrom, als auch die im Gutachten von Prof. Dr. Scha aufgeführten psychischen Reaktionen auf die multiplen allergischen Unverträglichkeitsreaktionen einschließlich der mit den Allergien verbundenen psychischen Alterationen, Angst- und Panikzuständen zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung der gutachterlich beschriebenen Folgen, insbesondere der von der Klägerin als Hauptproblem beschriebenen ständigen Erschöpfung, ist der Senat davon überzeugt, dass bei der Klägerin schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorliegen, deren Bewertung mit einem GdB von 70 den in Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV vorgegebenen Rahmen vollständig ausschöpft. Anhaltspunkte für schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten sind den eingeholten Gutachten nicht zu entnehmen.

Die bereits im Attest der Spezialklinik N im Attest vom 4 November 2010 beschriebene und zuletzt durch die Begutachtung im Berufungsverfahren bestätigte Hyperreagibilität bedingt nach Überzeugung des Senats in entsprechender Heranziehung der Maßstäbe in Teil B Nr. 8.5. einen Einzel-GdB von 20 für das Funktionssystem der Atmung.

Bei den Beeinträchtigungen der Klägerin im Funktionssystem der Verdauung sind insbesondere die gutachterlich festgestellten Verwachsungsbeschwerden nach den Bauchoperationen, die Folgen des Teilverlustes des Dickdarms, die entzündliche Reaktion (Divertikulitis) auf die Darmaussackungen und die gastroenterologischen Beeinträchtigungen als Folge der multiplen Nahrungssensibilisierungen bzw. der Glutenunverträglichkeit einzustellen. Unter Berücksichtigung der beschriebenen Diarrhoen und Obstipationen sowie der Krämpfe in Bau und Unterbauch, die bereits als stärkere und anhaltende Symptome zu qualifizieren sind, ist nach Teil B Nr. 10.2.2 der Anlage zu § 2 VersMedV ein Einzel-GdB von 20 gerechtfertigt.

Der laut Bericht des Instituts für medizinische Immunologie vom 21. Oktober 2014 bei der Klägerin festgestellte Mangel an Immunglobulin-G-Subklassen bedingt als Immundefekt nach Teil B Nr. 16.11 der Anlage zu § 2 VersMedV einen Einzel-GdB von 20.

Die Beurteilung der bei der Klägerin anfallsweise auftretenden Kreislaufsensationen mit Tachykardien hat sich nach Teil B Nr. 9.1.6 der Anlage zu § 2 VersMedV vor allem nach der Leistungsbeeinträchtigung des Herzens zu richten. Da eine verstärkte Häufigkeit und Dauer in den vorliegenden Gutachten nicht beschrieben werden, sind die Funktionseinschränkungen im Funktionssystem Herz-Kreislauf bei fehlender andauernder Leistungsbeeinträchtigung des Herzens mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.

Übereinstimmend wird von allen Gutachtern die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 10 belegt. Dies entspricht den Vorgaben in Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV.

Der Umstand, dass bei der Klägerin Ende 2015 aufgrund ihrer Histaminintoleranz akut ein Anschwellen der Haut mit Einblutungen aufgetreten ist, rechtfertigt keinen eigenständigen GdB im Funktionssystem der Haut, da sich diese Gesundheitsstö-rung nicht – wie die Zuerkennung eines GdB nach Teil A Nr. 2f der Anlage zu § 2 VersMedV voraussetzt – über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten erstreckte. Auch bei der Untersuchung der Klägerin durch Dr. Schn war der Hautstatus unauffällig.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchti-gungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.

Bei der Klägerin ist der Gesamt-GdB danach mit 80 festzusetzen. Der Einzel-GdB von 70 für das psychische Leiden ist nach Überzeugung des Senats im Hinblick auf die drei mit einem Einzel-GdB von jeweils 20 zu bewertenden somatischen Erkrankungen in den Funktionssystemen der Atmung, der Verdauung und Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem um insgesamt einen Zehnergrad heraufzusetzen, da die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen voneinander unabhängig sind und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen (vgl. Teil A Nr. 3d der Anlage zur VersMedV).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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