L 4 AY 4/16

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 52 AY 10/16
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AY 4/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin bereits ab März 2015 einen Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) hat.

Die 1958 geborene Klägerin ist r. Staatsangehörige. Im März 2014 heiratete sie Herrn B., ebenfalls r. Staatsangehöriger, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Jahren in H. lebte und Leistungen der Grundsicherung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) von der Beklagten erhielt. Die Klägerin reiste mit einem Besuchsvisum nach D. ein und beantragte im Juni 2014 bei der Beklagten, genauer beim Bezirksamt A., Fachamt Einwohnerwesen, Fachbereich Ausländerangelegenheiten (im Folgenden: Ausländerbehörde), eine Aufenthaltserlaubnis. Die Ausländerbehörde teilte der Klägerin mit, eine Aufenthaltserlaubnis könne nicht erteilt werden, da der Lebensunterhalt nicht gesichert sei und ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichten. Im August 2014 reiste die Klägerin aus. Am 10. Februar 2015 wurde der Ehemann der Klägerin eingebürgert. Am gleichen Tag reiste die Klägerin erneut mit einem Besuchsvisum nach D. ein. Nachfolgend wandte sich die Klägerin an die Ausländerbehörde und bat um eine Entscheidung über ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Mit Bescheid vom 18. März 2015 lehnte die Ausländerbehörde den Antrag ab, stellte fest, dass die Klägerin zur Ausreise aus der Bundesrepublik D. verpflichtet sei, und drohte die Abschiebung an. Zur Begründung führte die Ausländerbehörde aus, die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug lägen nicht vor, da die Klägerin sich nicht zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen könne. Auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen seien nicht erfüllt. Die Klägerin erhob Widerspruch und nach dessen Zurückweisung Klage vor dem Verwaltungsgericht Hamburg (17 K 4943/15), mit der sie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs begehrte. Am 10. Juli 2015 verfügte die Ausländerbehörde die Aussetzung von Abschiebungsmaßnahmen, zunächst befristet bis zum 31. Oktober 2015. In der Folgezeit wurde diese Verfügung mehrfach verlängert.

Am 23. Juli 2015 beantragte die Klägerin bei der zuständigen Behörde der Beklagten, dem Sozialen Dienstleistungszentrum A.-West, Leistungen nach dem AsylbLG. Die Klägerin hatte sich zuvor nicht beim Grundsicherungs- und Sozialamt gemeldet, auch ihr Ehemann hatte bis dahin dort weder die Eheschließung noch den Zuzug der Klägerin mitgeteilt. Mit Bescheid vom 28. August 2015 bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen gemäß § 3 AsylbLG für den Zeitraum vom 23. Juli 2015 bis zum 31. Juli 2015.

Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 4. September 2015 Widerspruch. Sie sei der Meinung, dass ihr Leistungen bereits ab März 2015 zustünden, weil die Aussetzung der Vollziehung des Bescheids vom 18. März 2015 eine Duldung zur Folge gehabt habe. Der Leistungsbeginn könne nicht von der Bearbeitungsdauer der Angelegenheit bei der Ausländerbehörde abhängen. Der Sozialleistungsträger sei von Anfang an über ihre Notlage informiert gewesen, da ihr Ehemann Leistungen bezogen habe. Dass mit diesen Leistungen der gemeinsame Bedarf nicht zu decken gewesen sei, habe auf der Hand gelegen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, gemäß § 6b AsylbLG i.V.m. § 18 Abs. 1 SGB XII setzten die Leistungen ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen bekannt werde. Der sachlich und örtlich zuständige Sozialhilfeträger, nämlich das Soziale Dienstleistungszentrum A.-West, habe erst durch den Antrag vom 23. Juli 2015 Kenntnis davon erlangt, dass die Klägerin Leistungen nach dem AsylbLG begehre. Eine rückwirkende Bewilligung von Leistungen für Zeiten vor Kenntniserlangung sei nicht möglich. Der Antrag bei der Ausländerbehörde begründe keine Kenntnis des Sozialhilfeträgers, da es sich um zwei unterschiedliche Verwaltungszweige handele.

Am 19. Februar 2016 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Hamburg erhoben. Zur Begründung hat sie auf ihre Ausführungen im Widerspruchsverfahren verwiesen. Sie hat weiter ausgeführt, ihr sei nicht bekannt gewesen, dass sie auch während des aufenthaltsrechtlichen Verfahrens einen Anspruch auf Sozialleistungen haben könnte. Deshalb habe sie erst nach Erteilung der Duldung im Juli 2015 einen Antrag gestellt.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 5. September 2016 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach § 6b AsylbLG i.V.m. § 18 SGB XII könnten Leistungen erst ab Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen gewährt werden. Erst mit der Antragstellung am 23. Juli 2015 habe der Sozialhilfeträger Kenntnis vom Bedarf der Klägerin erlangt. Zuvor hätten weder die Klägerin noch deren Ehemann Sozialleistungen geltend gemacht. Die Tatsache, dass ein aufenthaltsrechtliches Verwaltungsverfahren anhängig gewesen sei, sei schon deshalb unbeachtlich, weil darin der sozialhilferechtliche Bedarf nicht thematisiert worden sei. Unbeachtlich sei auch, dass die frühere Geltendmachung eines sozialhilferechtlichen Bedarfs möglicherweise aufgrund eines Irrtums der Klägerin unterblieben sei. Es sei weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dieser Irrtum auf einer Falschberatung beruhe.

Das Urteil ist der Klägerin am 14. September 2016 zugestellt worden. Am 16. September 2016 hat sie Berufung erhoben. Die Klägerin wiederholt ihr erstinstanzliches Vorbringen und trägt ergänzend vor, die Ausländerbehörde habe sie nicht darauf hingewiesen, dass sie einen Antrag stellen müsse, um rückwirkende Leistungen zu erhalten.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. September 2016 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 28. August 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Februar 2016 zu verpflichten, ihr auch für die Zeit von März 2015 bis zum 22. Juli 2015 Leistungen nach dem AsylbLG zu bewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf das angefochtene Urteil, ihren erstinstanzlichen Vortrag und auf den Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2016.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter einverstanden erklärt. Der Senat hat die Leistungsakte und die Ausländerakte der Klägerin sowie die Sozialhilfeakte ihres Ehemanns beigezogen. Aus der Ausländerakte ergibt sich, dass die Klägerin und die Beklagte (handelnd durch das Bezirksamt A.) nach Vorlage eines "Sprachnachweises A 1" durch die Klägerin im Februar 2017 einen Vergleich geschlossen haben, in dem sich das Bezirksamt A. dazu verpflichtet hat, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu ihrem Ehemann zu erteilen. In der mündlichen Verhandlung am 13. April 2017 hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie seit Juli 2015 bis aktuell durchgehend Leistungen von der Beklagten bezogen haben bzw. beziehe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Unterlagen verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin (§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Sie ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG für die Zeit von März 2015 bis zum 22. Juli 2015.

Zwar gehörte die Klägerin auch in diesem Zeitraum grundsätzlich zum Kreis der Leistungsberechtigten nach § 1 AsylbLG, da sie infolge des Bescheids vom 18. März 2015 zunächst vollziehbar ausreisepflichtig war (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) und später – nach erfolgter Aussetzung von Abschiebemaßnahmen – über eine Duldung verfügte (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG). Gemäß § 6b AsylbLG i.V.m. § 18 Abs. 1 SGB XII setzen Leistungen nach dem AsylbLG jedoch erst dann ein, wenn dem Leistungsträger bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Für die Zeit vor Kenntniserlangung besteht damit kein Leistungsanspruch. Hier hat die Beklagte aber erst durch die Antragstellung beim Sozialen Dienstleistungszentrum A.-West am 23. Juli 2015 die erforderliche Kenntnis erlangt.

Kenntnis i.S.v. § 18 Abs. 1 SGB XII setzt die positive Kenntnis aller Tatsachen voraus, die den Leistungsträger in die Lage versetzen, die Leistung zu erbringen. Es ist nicht erforderlich, dass der Leistungsträger bereits Kenntnis der konkreten Höhe oder vom genauen Umfang der Leistung hat (vgl. BSG, Urteil vom 2.2.2012 – B 8 SO 5/10 R). Für das Einsetzen der Leistung genügt es, wenn er Kenntnis vom Bedarfsfall als solchem hat, d.h. ihm erstens der Bedarf und zweitens die Hilfebedürftigkeit bekannt werden (vgl. LSG NRW, Urteil vom 28.8.2014 – L 9 SO 28/14 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 10.11.2011 – B 8 SO 18/10 R). Die Kenntnis muss sich auf den konkreten Einzelfall beziehen und wird nicht allein dadurch vermittelt, dass die Entstehung eines sozialhilferechtlichen Bedarfs in bestimmten Situationen "üblich" ist (vgl. LSG NRW aaO; Sächsisches LSG, Urteil vom 6.3.2013 – L 8 SO 4/10).

Das Soziale Dienstleistungszentrum A.-West als für Leistungen nach dem AsylbLG im Falle der Klägerin sachlich und örtlich zuständige Behörde der Beklagten hatte vor der Antragstellung am 23. Juli 2015 zwar Kenntnis von der Sozialhilfebedürftigkeit des Ehemanns der Klägerin. Dies genügt aber nicht, um Kenntnis auch von dem Bedarf und der Hilfebedürftigkeit der Klägerin annehmen zu können, denn unstreitig hatte das Soziale Dienstleistungszentrum A.-West nicht einmal Kenntnis von der Heirat oder dem Zuzug der Klägerin zu ihrem Ehemann.

Aber auch andere Behörden der Beklagten hatten im streitgegenständlichen Zeitraum von März 2015 bis zur Antragstellung keine Kenntnis im oben genannten Sinn. Dies gilt insbesondere für das Fachamt Einwohnerwesen, Fachbereich Ausländerangelegenheiten des Bezirksamts A ... Zwar war im dortigen Verfahren im Jahr 2014 die Frage der Sicherung des Lebensunterhalts der Klägerin durchaus problematisiert worden. Hieraus lässt sich jedoch nicht die erforderliche Kenntnis vom Bedarfsfall nach dem AsylbLG ableiten. Zunächst ist zu beachten, dass die Ausländerbehörde die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin und ihres Ehemanns lediglich unter aufenthaltsrechtlichen Gesichtspunkten geprüft hat. Voraussetzung für die Erteilung der von der Klägerin zunächst begehrten Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs zu einem Ausländer ist nach §§ 29, 5 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) grundsätzlich, dass der Lebensunterhalt im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert ist (lediglich in bestimmten Fällen kann hiervon abgesehen werden, § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Erforderlich ist dabei eine positive Prognose dahin gehend, dass der Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestritten werden kann (vgl. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 2 AufenthG Rn. 21). Insbesondere in dieser Prognose liegt ein wesentlicher Unterschied zur Prüfung des Hilfebedarfs nach dem AsylbLG, die sich allein an den aktuellen Verhältnissen orientiert. Ferner zu berücksichtigen und letztlich entscheidend ist, dass ab dem Zeitpunkt der Einbürgerung des Ehemanns der Klägerin die Ausländerbehörde die wirtschaftliche Situation der Klägerin gar nicht mehr geprüft hat. Ab diesem Zeitpunkt waren nicht mehr die Voraussetzungen eines Familiennachzugs zu Ausländern, sondern diejenigen eines Familiennachzugs zu D. zu prüfen. Nach § 29 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kommt es dabei im Regelfall nicht auf die Sicherung des Lebensunterhalts an. Dies kommt auch zum Ausdruck in einer internen Email vom 10. Dezember 2014 (S. 251 der Ausländerakte), in der es heißt "Durch die Einbürgerung würde sich die Prüfung des Lebensunterhaltes erübrigen". Der Bescheid über die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis vom 18. März 2015 befasst sich folgerichtig ebenfalls nicht mit den wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin oder ihres Ehemanns, sondern stützt sich allein auf das Fehlen ausreichender Sprachkenntnisse. Hat sich die Ausländerbehörde aber ab Februar 2015 mit den wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin und ihres Ehemannes überhaupt nicht mehr befasst, so hatte sie auch keine Kenntnis von dem Bedarf und der Hilfebedürftigkeit der Klägerin.

Die Kenntnis des Beklagten ist schließlich nicht im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu fingieren. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger eine ihm auf Grund Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung, verletzt hat (zu den Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs BSG, Urteil vom 15.4.2008 – B 14 AS 27/07 R und Urteil vom 18.1.2011 – B 4 AS 99/10 R). Hier liegen keine Anhaltspunkte für eine solche Pflichtverletzung vor. Das Soziale Dienstleistungszentrum A.-West hatte keinerlei Kenntnis von dem Zuzug der Klägerin zu ihrem Ehemann und schon deshalb keine Pflicht zu einer entsprechenden Beratung. Die Ausländerbehörde wiederum war allein mit der aufenthaltsrechtlichen Problematik befasst, für die wie oben dargelegt im hier streitgegenständlichen Zeitraum die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin ohne Belang waren, sodass auch hier kein Anlass zu einer leistungsrechtlichen Beratung bestand.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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