S 14 AS 751/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 14 AS 751/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Es wird festgestellt, dass der Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 16.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 rechtswidrig war. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Erwerbsfähigkeit und damit die Zuordnung des Klägers zum System Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) oder der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) streitig.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger lebt gemeinsam in einem Haushalt mit seiner Mutter. Er stand von August des Jahres 2012 bis einschließlich Juni 2015 im Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II beim Beklagten. Zuletzt wurden ihm mit Bescheid vom 09.01.2015 Leistungen für den Zeitraum von Februar bis Juli 2015 bewilligt. Vor dem Bezug von Grundsicherungsleistungen erhielt er eine Waisenrente von der Deutschen Rentenversicherung Rheinland.

Der Kläger schloss die Gesamtschule mit der mittleren Reife ab und besuchte im Anschluss für ein Jahr das Berufskolleg im kaufmännischen Bereich. Sein Fachabitur erhielt er im Jahr 2006. Im Anschluss begann er ein Studium zum Übersetzer, das aufgrund der Schließung des Fremdspracheninstituts nicht beendet wurde. Seitdem hat der Kläger lediglich Kurzzeitpraktika absolviert. Diverse Bewerbungen des Klägers – auch um Praktika – blieben erfolglos. Der Kläger erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung und für Leistungen zur Teilhabe nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) nicht.

Er leidet an einer infantilen spastischen Zerebralparese aufgrund derer seit Dezember 1986 ein Grad der Behinderung von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B (Berechtigung für eine ständige Begleitung), G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) und H (Hilflosigkeit) festgestellt ist. Seit Juni 1988 sind zudem die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF (Befreiung von bzw. Ermäßigung der Rundfunkgebühr) festgestellt. Zudem liegt bei dem Kläger eine chronifizierte depressive Anpassungsstörung vor. Anerkannt ist die Pflegestufe III.

Im Oktober 2013 lud der Beklagte den Kläger erstmals zu einem Beratungsgespräch ein. Dabei entstanden beim Beklagten Zweifel, inwieweit der Kläger erwerbsfähig sei. Der Kläger legte dem Beklagten ärztliche Unterlagen vor. Der Beklagte reichte diese Unterlagen im November 2013 an sein Gesundheitsamt mit einem "Untersuchungsauftrag zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit", der mit dem Hinweis unerledigt blieb, es sei zu prüfen, ob nicht der Rentenversicherungsträger zuständig sei.

In der Folgezeit prüfte der Beklagte in Absprache mit dem Kläger bzw. und dessen Mutter erfolglos ein Angebot geeigneter Arbeitsstellen oder Eingliederungsmaßnah-men für den Kläger. Im Oktober 2014 wurde der Kläger schließlich zu einer "Vermittlungsmaßnahme für schwerbehinderte Menschen" beim Integrationsfachdienst E. eingeladen. Ein Zwischenbericht aus dem Dezember 2014 wies eine positive Vermittlungsprognose und eine hohe Motivation des Klägers aus.

Im Rahmen eines erneuten Beratungsgespräches beim Beklagten im Februar 2015 erneuerten sich die Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Klägers beim Beklagten. Er zog weitere ärztliche Unterlagen bei.

Im März 2015 holte der Beklagte eine gutachterliche Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung Rheinland zur Erwerbsfähigkeit Klägers ein, die unter den 20.04.2015 nach Aktenlage (Akte des Beklagten, Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes des Kreises E.) erstellt wurde. Die Deutsche Rentenversicherung kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger seit jeher dauerhaft voll erwerbsgemindert sei.

Vom 13. bis 24.04.2015 absolvierte der Kläger im Rahmen der weiter betriebenen Eingliederungsmaßnahme beim Integrationsfachdienst E. in der Zeit von 10.00 bis 13.30 h täglich ein Praktikum in der Stadtbücherei. Die Mutter bot zwar an, den Klä-ger zum Praktikum zu fahren und ihn abzuholen. Aufgrund von Vorgaben für die Maßnahme wurde der Transport letztlich durch die Lebenshilfe E. sichergestellt. Nach dem Praktikumsauswertungsbericht vom 28.04.2015 zeigte der Kläger sich für das Arbeitsfeld zusammenfasst als gut geeignet.

Mit Schreiben vom 22.05.2015 forderte der Beklagte den Kläger auf, einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII bei der Beigeladenen zu stellen. Dem kam der Kläger für die Zeit ab 01.07.2015 nach. Mit Bescheid vom 09.06.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 20.07.2015 bewilligte die Beigeladene dem Kläger Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Mit Bescheid vom 15.06.2015 hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 09.01.2015 mit Wirkung ab dem 01.07.2015 nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X auf. Aufgrund des Gutachtens der Deutschen Rentenversicherung bestehe kein Anspruch mehr auf Leistungen nach dem SGB II.

Gegen den Bewilligungsbescheid des Beigeladenen und den Aufhebungsbescheid des Beklagten legte der Kläger über seine Bevollmächtigten am 29. bzw. 26.06.2015 jeweils Widerspruch ein. Die Feststellung der Deutschen Rentenversicherung Rheinland sei falsch. Der Kläger sei nach wie vor nicht voll erwerbsgemindert. Die Bevollmächtigten weisen darauf hin, dass nach einer medizinischen Untersuchung des Dr. T. für die Bundesagentur für Arbeit aus dem Januar 2007 eine vollschichtige Arbeitsfähigkeit vorgelegen habe.

Der Beklagte wies den Widerspruch gegen den Aufhebungsbescheid vom 15.06.2015 mit Widerspruchsbescheid vom 07.07.2015 als unbegründet zurück.

Am 10.08.2015 hat der Kläger über seinen Bevollmächtigten hiergegen Klage erhoben und seine Begründung aus dem Widerspruchsverfahren erneuert. Die Begutachtung durch die Deutsche Rentenversicherung Rheinland sei oberflächlich und nicht geeignet, die Entscheidung des Beklagten zu stützen.

Der Kläger sei insbesondere auch wegefähig. Er könne in gewissem Umfang gehen und öffentliche Verkehrsmittel auch mit seinem Rollstuhl ohne elektrischen Antrieb nutzen. Ungeachtet dessen, bestehe die Möglichkeit und die Bereitschaft der Mutter des Klägers, diesen zu einer Arbeitsstelle zu bringen und ihn auch wieder abzuholen. Selbst wenn die Mutter einmal erkrankt sein sollte, stehe die nebenan wohnende Schwester des Klägers bereit.

Der Kläger legt eine Einladung des Bürgermeisters der Stadt E. vom 01.10.2015 zu einem persönlichen Gespräch beim Personalamt nach erfolgreicher Teilnahme am schriftlichen Teil eines Auswahlverfahrens für den mittleren allgemeinen Verwaltungsdienst vor.

Der Bevollmächtigte des Klägers hat zunächst beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15.06.2015 zu verpflichten, weiter Leistungen nach dem SGB II zu erbringen.

Zuletzt beantragt er,

festzustellen, dass der Aufhebungsbescheid vom 16.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 rechtswidrig war.

Der Vertreter des Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er erklärt auch davon auszugehen, dass der Kläger mithilfe seiner Mutter eine Arbeitsstelle erreichen könne, verweist aber auf die für ihn in Bezug auf die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers bindende Entscheidung des Rentenversicherungsträgers.

Der Vertreter der mit Beschluss der Kammer vom 14.09.2015 notwendig Beigeladenen stellt keinen Antrag.

Das Gericht hat einen Befundbericht des Neurologen Dr. C. und des Allgemeinmediziners Dr. K. eingeholt.

Sodann hat das Gericht zur Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch– psychiatrischen Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. T. vom 15.02.2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 17.05.2016. In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Sachverständige zur Ergänzung ihres schriftlichen Gutachtens gehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach – und Streitstandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten, der Beigeladenen, der Deutschen Rentenversicherung Rheinland und des Versorgungsamtes des Kreises E. (Schwerbehindertenakte) sowie die Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

A. Die Änderung der Klage von einer Anfechtungs-, in eine Fortsetzungsfeststel-lungsklage ist eine Klageänderung im Sinne des § 99 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Mit dem Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 16.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 hat der Beklagte die Bewilligung von Leistungen für den laufenden Lebensunterhalt der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Bescheid vom 09.01.2015 für den Juli 2015 aufgehoben. Die Regelungswirkung des Bescheides endete mit dem Monat Juli 2015 und daher bereits vor Klageerhebung am 10.08.2015. Daher liegt kein Fall des § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG vor (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller, Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 113, Rn. 7b 8 a: keine Klageänderung bei Umstellung von Anfechtungs- zur Fortsetzungsfeststellungsklage auf Erledigung nach Klageerhebung m. w. Nachw.). Die Klageänderung ist sachdienlich i. S. des § 99 Abs. 1 SGG. Für den Monat Juli 2015 hat der Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes durch die Beigeladene erhalten. Das Interesse des Klägers besteht nicht in der nachträglichen Gewährung von Leistungen des Lebensunterhaltes nach dem SGB II statt nach dem SGB XII, sondern darin, die Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheides aufgrund der zu Grunde liegenden Annahme einer Erwerbsunfähigkeit festzustellen. Diesem Klageinteresse ist mit der Klageänderung Rechnung getragen worden.

B. Die Klage ist zulässig und begründet.

I. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig.

1. Sie ist gem. § 131 Abs. 1 S. 3 SGG statthaft. Hat sich ein angefochtener Verwaltungsakt vor der gerichtlichen Entscheidung erledigt, spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig (gewesen) ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat (vgl. auch § 113 Abs. 1 S. 4 Verwaltungsgerichtsordnung) (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 113, Rn. 7b). § 131 Abs. 1 S. 3 SGG ist nach allgemeiner Auffas-sung analog anzuwenden, wenn sich der Verwaltungsakt bereits vor Klageerhebung erledigt hat (BSGE 113, 114, Rn. 13, BFH, Urteil vom 26.09.2007, I R 43/06, NVwZ 2008, 351; Schenke, JUS 2007, S. 697, 700).

2. Auch die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor. Insbesondere hat der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der zunächst angefochtenen Aufhebungsentscheidung des Beklagten. Für das Vorliegen eines sog. Fortsetzungsfeststellungsinteresses als Unterform des Rechtsschutzbedürfnisses genügt ein durch die Sachlage vernünftigerweise gerechtfertigtes Interesse, das rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein kann (Wolff-Dellen in: Breitkreuz/Fichte, SGG 2. Aufl. 2014, § 131, Rn. 6 m.w.N.). Entscheidend ist, dass die angestrebte gerichtliche Entscheidung geeignet sein kann, die Position des Klägers zu verbessern (BSG, Urteil vom 10. 7. 1996, 3 RK 27/95, SozR 3-2500 § 126 Nr. 2). Typischerweise besteht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei Wiederholungsgefahr, wenn ein Rehabilitationsinteresse vorhanden ist, wenn Schadenersatzforderungen geltend gemacht werden sollen oder wenn die Entscheidung in einem anderen streitigen Rechtsverhältnis bedeutsam sein kann (Präjudiziabilität) (Wolff-Dellen a.a.O., Rn. 6). I. S. einer Wiederholungsgefahr besteht ein solches Interesse u. a. dann, wenn sich eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwischen den Beteiligten mit einiger Wahrscheinlichkeit künftig erneut stellen wird (Wolff-Dellen a.a.O., Rn. 7 m.w.N.).

a) So liegt der Fall hier. Anlass der Aufhebungsentscheidung des Beklagten war die gutachterliche Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers, die den Beklagten und die Beigeladene entsprechend § 44 a Abs. 1 S. 6, Abs. 1 a, Abs. 2 SGB II bzw. §§ 21 S. 3, 45 SGB XII bindet. Der Rentenversicherungsträger hat hier festgestellt, der Kläger sei seit jeher dauerhaft vollständig erwerbsunfähig. Für den Kläger verschließt sich damit trotz § 44 a Abs. 2 Hbs. 2 SGB II die Aussicht, dass seine Erwerbsfähigkeit zukünftig anders beurteilt würde und er zukünftig – wie von ihm begehrt – nach dem Regime des SGB II gefördert und gefordert würde, das vom Hilfe-system des 3. und 4. Kapitels des SGB XII durch die Erwerbsfähigkeit des Hilfebe-dürftigen abgegrenzt ist (vgl. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II; 21 S. 1 SGB XII, § 41 Abs. 1 S. 1 SGB XII ; Armborst, LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 8, Rn. 3; Knapp in: Schle-gel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 44a, Rn. 16). Ferner spricht nichts dafür, dass der Kläger weder die Hilfe des Beklagten, noch des Beigeladenen benötigen wird. Er hat seine Hilfebedürftigkeit i. S. d. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3., 9 SGB II bzw. § 19 Abs. 1, 2 SGB XII trotz beachtlicher Anstrengungen um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu keiner Zeit überwinden können und bedarf daher hierfür vielmehr der Unterstützung (des Beklagten); vgl. auch § 16 Abs. 1 (S. 3) SGB II, § 22 Abs. 4 (Nr. 6) Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III). Die weiteren allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 1, 4 SGB II werden offensichtlich weiter vorliegen.

Die Rechtsfrage der Erwerbsfähigkeit des Klägers als letzte allgemeine Anspruchsvoraussetzung nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 8 Abs. 1 SGB II war auch entscheidungserheblich für die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung des Beklagten. Denn die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des § 48 Abs. 1 SGB X wären erfüllt. Der Bescheid ist nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil sich – ungeachtet der Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers – jedenfalls keine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X zwischen der Leistungsbewilligung vom 09.01.2015 und der Widerspruchsentscheidung 07.07.2015 darlegen ließe. Denn die Erwerbsfähigkeit des Klägers wurde bis zur Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers und die folgende Aufhebungsentscheidung des Beklagten entsprechend § 44a Abs. 1 S. 1 SGB II fingiert. Nach § 44 a Abs. 1 S. 7 SGB II erbringt der Grundsicherungsträger bis zur Entscheidung über den Widerspruch nach S. 2 bei Vorliegen der übrigen Vo-raussetzungen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Vorschrift unterstellt das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit über die Konstellation des S. 2 hinausgehend aber bis zu einer gegenteiligen Feststellung nach dem Prozedere des § 44 a Abs. 1, Abs. 1 a SGB II. Der Hilfebedürftige ist solange so zu stellen, als sei er erwerbsfähig, bis eine gegenteilige Feststellung durch die Bundesagentur für Arbeit getroffen ist (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R; LSG NRW, Beschluss vom 14.12.2010 – L 7 AS 1549/10 B ER; Blüggel, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 44 a, Rn. 67). Entsprechend ist in der nachträglichen Feststellung eine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X zu sehen.

b) Zuletzt konnte der Kläger sich nicht gegen die der Aufhebungsentscheidung des Beklagten zugrunde liegende Feststellung der Erwerbsunfähigkeit selbst wenden. Die Zuständigkeitszuweisung in § 44a SGB II im Verhältnis zwischen den beteiligten Trägern ist aus Sicht eines Hilfebedürftigen lediglich eine verwaltungsinterne Vorfrage, bei der eine Rechtswirkung nach außen (vgl. § 31 Satz 1 SGB X) vom Gesetzgeber in diesem Zusammenhang offenkundig nicht intendiert ist. Folglich steht es ihm frei, trotz einer anderweitigen Einschätzung des Rentenversicherungsträgers Leistungen des Grundsicherungsträgers zu begehren. Er muss sich nicht gegen den Rentenversicherungsträger bzw. die Bundesagentur für Arbeit und deren Einschätzung wenden, sondern alleine gegen die negative Entscheidung des Jobcenters (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 16. Februar 2012 – L 11 AS 1019/11 B ER, Rn. 23, juris; Knapp in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 44a, Rn. 67; vgl. Blüggel, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 44a, Rn. 104; vgl. ders. in: jurisPK-SGB XII, § 45 Rn. 59; Kirchhoff in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 45 Rn. 24; Steimer in: Mergler/Zink, SGB XII, § 45 Rn. 13a). Der Hilfebedürftige bleibt aufgrund der Subsidiarität (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO, Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 55, Rn. 19) der allgemeinen Feststellungsklage (§ 55 SGG) daher auf die inzidente Überprüfung der behördlichen Feststellung zu seiner Erwerbsfähigkeit im Rahmen der Anfechtungs-, ggfs. kombiniert mit einer Verpflichtungsklage (vgl. LSG Bay, a.a.O; Knapp, a.a.O.) bzw. einer Fortsetzungsfeststellungsklage verwiesen.

II. Die Klage ist auch begründet.

Die Aufhebungsentscheidung des Beklagten vom 16.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 ist rechtswidrig gewesen, weil der Kläger entgegen der der Entscheidung des Beklagten zugrunde liegenden Annahme erwerbsfähig i. S. d. § 8 Abs. 1 SGB II war (und ist).

Erwerbsfähig ist hiernach, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

1. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit lehnt sich damit an den Begriff der Erwerbsminderung im Rentenversicherungsrecht an, auch wenn § 8 Abs. 1 SGB II anders als § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII nicht ausdrücklich Bezug auf § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) nimmt. Vom Sinn und Zweck her ist eine weitestgehend abgestimmte Regelung gewollt, die den Leistungsbezug nach dem SGB II für Personen ausschließt – es sei denn als Angehörige in einer Bedarfsgemeinschaft –, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind und Leistungen nach dem SGB VI oder SGB XII erhalten (Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, § 8 Rn. 4, 19; Armborst in: LPK-SGB II, § 8 Rn. 4). Jedoch sind bei der Auslegung/ Konkretisierung des Rechtsausdruckes der Erwerbsfähigkeit die Struktur und die Besonderheiten des SGB II zu beachten (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7 b AS 10/06 R; BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201; Blüggel, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 8, Rn. 6; Mrozynski, ZfSH/ SGB 2004, S. 198, 201).

Als erwerbsfähig sieht das Bundessozialgericht so etwa auch Arbeitsuchende an, die wegen der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes eine sogenannte Arbeitsmarktrente wegen Erwerbsminderung beziehen (BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201; LSG Berlin-Brandenburg v. 02.11.2011 - L 12 KG 2/07 - juris Rn. 24). Hierbei handelt es sich um ein richterrechtlich anerkanntes Institut im Rentenversicherungsrecht (BSG v. 10.12.1976 - GS 2/75 - BSGE 43, 75; st. Rspr). Die in der Regel befristete Arbeitsmarktrente wird trotz des bestehenden Restleistungsvermögens von drei bis unter sechs Stunden täglich gewährt, wenn binnen eines Jahres kein geeigneter Teilzeitjob angeboten und der Arbeitsmarkt damit als verschlossen angesehen werden kann (BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201; BSG v. 14.05.1996 - 4 RA 60/94 - BSGE 78, 207). Das BSG begründet die unterschiedliche Begrifflichkeit der Erwerbsfähigkeit im Rentenversicherungsrecht und der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Sinn und Zweck des SGB II, die Aufnahme und Beibehaltung der Erwerbstätigkeit durch Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu unterstützen (BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201; ebenso LSG Nordrhein-Westfalen v. 29.11.2010 - L 7 AS 1961/10 B - juris; LSG Bayern v. 01.07.2010 - L 11 AS 162/09 - juris; Blüggel in: Eicher, a.a.O., Rn. 33; vgl. auch BA Fachliche Hinweise SGB II, § 8 Rn. 8.4). Danach sei die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nach dem SGB II nicht entscheidend, sondern allein das (Rest-)Leistungsvermögen des Arbeitsuchenden, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein zu können (kritisch: Hackethal in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 8, Rn. 23).

Dem schließt sich die Kammer an. Damit ist es von vorneherein unbeachtlich, dass es dem Kläger bislang nicht gelungen ist, eine abhängige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit zum Einkommenserwerb aufzunehmen und ob im Hinblick darauf reelle Eingliederungschancen anzunehmen sind oder nicht.

2. Zur Überzeugung der Kammer steht nach umfangreicher Beweisaufnahme fest, dass der Kläger trotz seiner Behinderung in der Lage (gewesen) ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Die Erwerbsfähigkeit orientiert sich am Restleistungsvermögen des Leistungsberechtigten. Hierbei ist insbesondere die individuelle gesundheitliche Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Die Feststellung der Erwerbsfähigkeit beruht auf einer medizinischen Bewertung über das Vorliegen und die Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung sowie der Ermittlung des quantitativen zeitlichen und qualitativen Leistungsvermögens des Leistungsberechtigten die in Bezug zu setzen sind zu den (negativ abgegrenzten) üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Es ist zu klären, ob und welche Gesundheitsstörungen vorliegen und welche Tätigkeiten auf Grund dessen nicht mehr oder nur mit zeitlichen und/oder qualitativen Einschränkungen ausgeführt werden können (negatives Leistungsvermögen) sowie welche Anforderungen der Leistungsberechtigte in qualitativer (leichtere, mittelschwere, schwere Arbeiten, bestimmte Arbeitshaltungen) und in quantitativer Hinsicht noch erfüllen kann (positives Leistungsvermögen).

Zunächst ist davon auszugehen, dass jemand, der zumindest körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – wenigstens sechs Stunden täglich verrichten kann, noch in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes voll erwerbstätig zu sein, d.h. durch eine Tätigkeit Erwerbseinkommen zu erzielen (BSG, Urteil vom 09. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R –, SozR 4-2600 § 43 Nr 18, Rn. 24 f.; Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 148 jeweils m.w.N.).

Die Erwerbsfähigkeit kann aber durch schwere spezifische Leistungseinschränkungen und Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ausgeschlossen sein (vgl. BSG a.a.O., Rn. 26 f.). Um solche kann es sich etwa bei besonderen Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz oder Einschränkungen der Arm- und Handbewegung handeln. Um keine ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen handelt es sich beim Ausschluss oder Einschränkungen von Tätigkeiten, die überwiegend Stehen oder Sitzen erfordern, in Nässe oder Kälte oder unter häufigem Bücken zu verrichten sind, besondere Fingerfertigkeiten voraussetzen, mit besonderer Unfallgefahr verbunden sind, im Akkord, im Schichtdienst, an laufenden Maschinen zu leisten sind oder besondere Anforderungen an das Seh-, Hör- oder Konzentrationsvermögen stellen (zum Ganzen: BSG, Beschluss vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 –, BSGE 80, 24-41, SozR 3-2600 § 44 Nr 8, SozR 3-2200 § 1246 Nr 57, SozR 3-2200 § 1247 Nr 21, SozR 3-2600 § 42 Nr 16, SozR 3-1500 § 41 Nr 3, SozR 3-2600 § 43 Nr 16, Rn. 34; Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 75 ff.; Blüggel, a.a.O., Rn. 17 f., 32 ff.; Armborst, a.a.O., Rn. 13-15; Hackethal in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 8, Rn. 24, jeweils m.w.Nachw.).

b) Nach den medizinischen Feststellungen der in der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit unter Beachtung der dargelegten Gesichtspunkte erfahrenen Sachverständigen, der Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. T., ist der Kläger trotz seiner Behinderung erwerbsfähig im vorstehenden Sinne.

aa) Die Einschätzung der Sachverständigen Dr.T. ist der gutachterlichen Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung schon deshalb deutlich überlegen, weil sie auf einem persönlichen Eindruck und umfangreicher eigener Exploration beruht, während die Einschätzung des Rentenversicherungsträgers auf (überwiegend ältere) Befunde aus der Schwerbehindertenakte und der Akte des Beklagten zurückgreift und eine Auseinandersetzung mit dem Restleistungsvermögen des Klägers fehlt. Zudem geht das ärztliche Gutachten vom 20.04.2015 davon aus, das Leistungsvermögen sei seit jeher aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung vollständig aufgehoben gewesen. Zu Recht hat der Bevollmächtigte des Klägers darauf hingewiesen, dass eine gutachterliche Untersuchung des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 09.01.2007 jedoch eine vollschichtige Erwerbsfähigkeit bei leichter, sitzender Tätigkeit zum Ergebnis hatte. Die Stellungnahme des Sozialmediziners korrespondiert in Bezug auf die Beschreibung des negativen Leistungsbildes mit den weiteren Feststellungen der Sachverständigen. Der Hausarzt Dr. K. hat in seinem Befundbericht für das Gericht leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitslebens an fünf Tagen der Woche mit den betriebsüblichen Unterbrechungen für den Kläger zumindest im zeitlichen Umfang von 3 bis 6 Stunden für möglich gehalten, eine volle Erwerbsminderung damit nicht bestätigt. Auch nach dem Abschlussbericht des Integrationsfachdienstes nach Abschluss des zweiwöchigen Praktikums in der Stadtbücherei E. vom 28.04.2015 ist die Ausübung einer Teilzeitstelle möglich.

bb) Die Sachverständige hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung ihr schriftliches Gutachten vom 15.02.2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 17.05.2016 nochmals dahingehend bekräftigt, dass sie den Kläger im gesundheitlichen "status quo" trotz der infantilen spastischen Zerebralparese und der chronifizierten depressiven Anpassungsstörung für in der Lage halte, noch an 5 Tagen in der Woche mit betriebsüblichen Unterbrechungen (bei zusätzlichen Pausen für Toilettengänge) mehr als 3 Stunden täglich, sogar an 6 Stunden und mehr, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Damit hat sie bei der Kammer auch nach Erstattung der schriftlichen ergänzenden Stellungnahme vom 15.05.2016 verbliebene Unklarheiten beseitigt, ob dieses (Rest)leistungsvermögen von ihr nur unter der Bedingung der - gleichwohl dringend empfohlenen - vorherigen Durchführung einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme und einer anschließenden Berufsförderungsmaßnahme gesehen würde. Die Sachverständige wusste nachvollziehbar klarzustellen und zu differenzieren, dass sie eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme zwar deshalb für ausgesprochen wichtig halte, weil der Kläger sich in seiner Anstrengung einem Menschen ohne Behinderung gleichzustehen teilweise überfordere und sich die dadurch hervorgerufene Anspannung nachteilig auf seine körperliche Behinderung auswirke, das von ihr angegebene Restleistungsvermögen für den Kläger aber auch ohne vorherige Maßnahmen und ohne nachteilige Konsequenzen für den gesundheitlichen Zustand abrufbar sei, sofern die ausgeführte Erwerbstätigkeit die Einschränkungen des Klägers berücksichtige. Dies erscheint der Kammer auch deshalb plausibel, weil offenkundig ist, dass die innere Anspannung des Klägers sehr maßgeblich gerade auf dem Umstand beruht, dass eine Annäherung an den (ersten) Arbeitsmarkt trotz erheblicher Anstrengungen und nachgewiesener Kompetenzen nicht gelingt. Die hohe Einsatzbereitschaft und der dringende Wunsch der Förderung der beruflichen Integration durch den Beklagten lassen erkennen, dass eine Erwerbstätigkeit bzw. Eingliederungsmaßnahmen für den Kläger weniger eine unzumutbare Belastung als eine psychische Entlastung darstellen würden.

Die von der Sachverständigen angesprochenen, zu berücksichtigenden Einschränkungen des Klägers stellen auch in qualitativer Hinsicht noch keine so gravierende, schwere spezifische Leistungseinschränkungen oder sich derart summierende Leistungseinschränkung dar, dass sie einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes entgegenstünden (vgl. zu den Maßstäben dezidiert nochmals: Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 151 ff.). Das negative Leistungsbild besteht nach den Feststellungen der Sachverständigen in der fehlenden Gehfähigkeit, während sich für eine Tätigkeit im Sitzen Einschränkungen für das angegebene quantitative Restleistungsvermögen dahingehend ergeben, dass der Kläger nur noch körperlich leichte Arbeiten ohne Zwangshaltung und ohne einseitige körperliche Belastung, in geschlossenen Räumen und ausschließlich in der Tagesschicht verrichten kann. Zudem sind dem Kläger aufgrund der bestehenden Tetraparese Tätigkeiten nicht zumutbar möglich, die eine besondere Feinmotorik der Hände erforderten. Insbesondere die rechte Hand ist eingeschränkt. Qualitativ ergeben sich z. B. Probleme beim Durchstreichen von Buchstaben unter Zeitdruck sowie beim Zeichnen dreidimensionaler Formen. Die Sachverständige hat dies nachvollziehbar an der Durchführung des Aufmerksamkeitstests nach Brickenkamp im Rahmen der gutachterlichen Exploration des Klägers erläutert, der infolge der Schwierigkeiten in der technischen Umsetzung durch den Kläger in seiner Validität in Frage zu stellen gewesen sei. Die Mutter des Klägers hat der Sachverständigen gegenüber zudem eine Lärmempfindlichkeit des Klägers herausgestellt, nach der viele alltägliche Dinge nicht durchführbar seien. Die Sachverständige hat den Kläger im psychopathologischen Befund ihres schriftlichen Gutachtens zwar als recht eigenwillig und auf seinen Ansichten beharrend beschrieben und kaum Flexibilität gegenüber abweichenden Ansichten erkannt. Schlüssig und mit dem Eindruck der Kammer im Einklang stehend hat sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung erklärt, sie sehe die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit des Klägers als überdurchschnittlich eingeschränkt. Ein unüberwindbares Hindernis für die Auf-nahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat sie darin jedoch nicht erkannt. Der Integrationsfachdienst hat in einem Zwischenbericht über eine Vermitt-lungsmaßnahme für schwerbehinderte Menschen im Oktober 2014 eine Offenheit und Interessiertheit des Klägers gegenüber möglichen Arbeitsbereichen bescheinigt. Der Kläger zeige sich sehr motiviert. Vorschläge könnten konstruktiv besprochen werden, es erscheine eine gemeinsame Erarbeitung von Arbeitsmöglichkeiten durchführbar. Eine Vermittlung könne bei einem passenden Arbeitgeber, der die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers berücksichtige möglich sein.

Die Sachverständige hält den Kläger für in der Lage, insbesondere etwa eine Bürotätigkeit auszufüllen, die seiner Tätigkeit im Rahmen des Praktikums in der Stadtbücherei in E. ähnelt. Mnestische oder kognitive Defizite hat die Sachverständige beim Kläger nicht erkannt, abgesehen von einer gewissen Verlangsamung, die sich auch in einer unartikulierten Sprechweise niederschlage. Diese Feststellungen entsprechen dem von der Kammer im Rahmen der über zwei Stunden andauernden mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck. Der Kläger hat sich im Rahmen der Verhandlung wiederholt eingebracht. Frau Dr. T. konnte auch keine inhaltlichen oder formalen Denkstörungen finden.

Dies korrespondiert der Auswertung des zweiwöchigen (13.-24.04.2015) Praktikums des Klägers in der Stadtbibliothek E. durch den Integrationsfachdienst, die der Kläger der Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat. Der Kläger wird als in körperlicher Hinsicht belastbar beschrieben. Er sei sehr interessiert, habe ein gutes Auffassungsvermögen, arbeite sehr konzentriert, kontinuierlich (ohne vermehrte Pausen) und eigenständig in zufriedenstellendem Arbeitstempo ohne für die Arbeit Hilfsmittel zu benötigen. Zudem hat der Kläger am schriftlichen Teil des Auswahlverfahrens für eine Ausbildung für den mittleren allgemeinen Verwaltungsdienst – Verwaltungsfachangestellter erfolgreich teilgenommen.

c) Der Kläger ist zuletzt auch nicht deshalb erwerbsunfähig, weil er "wegeunfähig" wäre.

aa) Zur Erwerbsfähigkeit i. S. d. § 8 Abs. 1 SGB II und § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI gehört auch die Fähigkeit, den Weg zur Arbeitsstelle zurückzulegen. Die rentenrechtliche Rechtsprechung hat den generellen Maßstab entwickelt, dass derjenige als voll erwerbsgemindert bzw. erwerbsunfähig anzusehen ist, der nicht täglich eine Wegstrecke von mehr als 500 mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurücklegen und zweimal täglich ein öffentliches Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen kann (BSG v. 19.11.1997 - 5 RJ 16/97 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 10; BSG v. 17.12.1991 - 13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10: Zeitaufwand von mehr als 20 Minuten ist nicht zumutbar; BSG v. 21.02.1989 - 5 RJ 61/88 - SozR 2200 § 1247 Nr. 56). Dies gilt bei der gebotenen generalisierenden Betrachtung grundsätzlich ohne Rücksicht auf Besonderheiten der individuellen Wohnlage und der Beschaffenheit der konkret in Betracht kommenden Wegstrecken. Auch die Benutzung von Fahrzeugen, z.B. eines Rollstuhls, erfüllt nicht die Voraussetzungen eines Zurücklegens von Wegstrecken zu Fuß (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. November 2011 – L 3 R 252/08, Rn. 43, juris).

Kann der Betroffene die genannten Wege nicht mehr zurücklegen oder öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen, reicht es alternativ, wenn ihm ein Kfz werktäglich zur Verfügung steht.

Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung liegt es in der Hand und ggfs. im Interesse des Rentenversicherungsträgers, durch Leistungen zur Teilhabe am Ar-beitsleben die Einsatzfähigkeit des Versicherten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes wiederherzustellen, während der Versicherte in den Fällen, in denen um eine Wegefähigkeit gestritten wird, typischerweise eine Rente wegen voller Erwerbsminderung begehrt. Dazu bieten sich z.B. Leistungen der Kraftfahrzeughilfe (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 8 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen [SGB IX]) an. Voraussetzung ist allerdings, dass die aufgrund der Wegefähigkeit eingetretene volle Erwerbsminderung vollständig wieder beseitigt wird. Die bewilligte Leistung muss den Versicherten in eine Lage versetzen, die derjenigen eines Versicherten gleicht, der einen Führerschein und ein privates Kfz besitzt und dem die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses sowie die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch an einem über 500 m entfernt liegenden Arbeitsplatz zuzumuten ist, weil er mit einigermaßen verlässlich einzuschätzendem Aufwand an Zeit und Kosten dorthin gelangen kann. Die Bereitschaft, "im Falle der Arbeitsaufnahme Leistungen zur Erhaltung eines Arbeitsplatzes" in Form der "tatsächlich anfallenden Beförderungskosten" zu übernehmen, ggf. unter Einbeziehung von Taxikosten, genügt dafür, soweit sie vorbehaltlos erfolgt (BSG v. 12.12.2011 - B 13 R 79/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr. 17; hierzu Lange, jurisPR-SozR 8/2013, Anm. 1.; Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 215).

bb) Entgegen der Darstellung insbesondere seiner Mutter ist die Kammer zwar davon überzeugt, dass der Kläger nicht in der Lage ist, täglich eine Wegstrecke von mehr als 500 mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurücklegen und zweimal täglich ein öffentliches Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen. Dies gilt unabhängig davon, dass bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "aG" und "B" festgestellt sind, weil die Sachverständige deutlich und ohne weiteres nachvollziehbar festgestellt hat, dass der Kläger nicht nur im Rollstuhl sitzt, sondern ihm auch tatsächlich ein eigener Stand und Gang nicht möglich sei. Der Oberkörper werde nicht vollständig aufgerichtet, sondern sei nach links gebeugt. Das rechte Bein sei deutlich verkürzt. Es bestehe rechtsseitig eine Parese. Auch wenn der Kläger etwa beim An – und Auskleiden nur geringe Hilfestellungen benötigt, er sich auch aus dem Rollstuhl selbst aufrichten und sich bei der Untersuchung durch die Sachverständige eigenständig auf das Untersuchungsbett umlagern konnte, ist Frau Dr. T. sich in der mündlichen Verhandlung dahingehend sicher gewesen, dass der Kläger ohne das Vorhandensein eines elektrischen Rollstuhles zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel fremder Hilfe bedürfe. Die Kammer hat keinen Anlass diese Einschätzung in Zweifel zu ziehen.

cc) Zwar steht dem Kläger auch kein eigenes Kraftfahrzeug zur Verfügung, er besitzt keinen Führerschein. Allerdings wird die fehlende Wegefähigkeit dadurch wieder beseitigt, dass die Mutter des Klägers dazu in der Lage und vorbehaltlos dazu bereit ist, den Kläger auch zu einem über 500 m entfernt liegenden Arbeitsplatz mit dem privaten PKW zu fahren und ihn wieder abzuholen. Die dadurch geschaffene Situation entspricht derjenigen einer Person, die einen Führerschein und ein privates Kfz selbst besitzt; zumal die Schwester des Klägers bereit wäre im Falle einer Erkrankung der Mutter einzuspringen.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass der dahingehende klägerseitige Vortrag zutreffend ist. Während die Mutter mit dem Kläger in einem Haushalt lebt, wohnt die Schwester im Haus nebenan. Die Mutter des Klägers ist Hausfrau und widmet sich umfassend der Versorgung und Pflege des Klägers. Die Vehemenz mit der gerade die Mutter des Klägers sich dafür einsetzt, dass der Kläger einen Zugang zum Ar-beitsmarkt bekommt, lässt keine Zweifel offen, dass ihr Angebot, den Kläger zu einer möglichen Arbeitsstätte zu fahren und ihn von dort abzuholen unbedingt gilt und verlässlich ist. Die Mutter des Klägers hat sich im Kontakt mit dem Beklagten nachhaltig eingebracht, um Maßnahmen zur Eingliederung ihres Sohnes in den Arbeitsmarkt anzustoßen. Sie hat beispielsweise auch angeboten, den Kläger zum Praktikum in der Stadtbibliothek E. zu fahren und abzuholen und sowohl der Sachverständigen als auch dem Gericht gegenüber eindringlich beteuert, zum Transport des Klägers bereit zu sein. Die Sachverständige hat mitgeteilt, die Mutter habe ihr bereits in der Begutachtungssituation erläutert, dass sie ihren Sohn überall hinfahre und diesbezüglich keinerlei Einschränkungen angegeben. Sie habe den Kläger auch zur Begutachtung gefahren.

Vor diesem Hintergrund hat auch der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung letztlich erklärt, es sei davon auszugehen, dass der Kläger mithilfe seiner Mutter einen Arbeitsplatz erreichen könne. Er hat sich lediglich deshalb nicht zu einem Anerkenntnis in der Lage gesehen, weil gutachterliche die Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers für ihn bislang bindend sei.

Nicht erforderlich kann es in der vorliegenden Situation sein, ob der Beklagte oder ein anderer Sozialversicherungsträger sich vorbehaltlos dazu bereit erklärt hat, die Wegefähigkeit des Klägers durch entsprechende Leistungen bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sicherzustellen. Anders als im Rahmen von Streitigkeiten über das Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeit zwischen dem Rentenversicherungsträger und dem Versicherten, der eine Rente begehrt, liegt das Interesse an der Herstellung der Wegefähigkeit vorliegend nicht beim Beklagten, sondern beim Kläger. Diesem kann daher nicht verwehrt sein, auf eine private Hilfe zu verweisen, die im Maßstab des Vollbeweises, d.h. zur Überzeugung des Gerichts, verlässlich seinen Weg zu einer potentiellen Arbeitsstätte und zurück sicherstellt.

Dahinstehen kann deshalb, ob der Beklagte sich – angesichts des Sinn und Zweck des SGB II, die Aufnahme und Beibehaltung der Erwerbstätigkeit durch Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu unterstützen (BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201) - auf eine fehlende Wegefähigkeit des Klägers überhaupt berufen könnte, obwohl er es nach § 16 Abs. 1 S. 3 SGB II i.V.m. § 112 Abs. 1 SGB III i.V.m. §§ 7, 33 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 8 Nr. 1 SGB IX (vgl. Schubert/Schaumberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 1. Aufl. 2014, § 112 SGB III, Rn. 14 ff.) selbst in der Hand hat, die Wegefähigkeit des Klägers durch die verbindliche Zusage entsprechender Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wieder herzustellen.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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