L 13 VG 11/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 1 VG 83/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VG 11/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 20/17 B
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
NZB als unzulässig verworfen
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.12.2015 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen eines mutmaßlichen Alkoholkonsums der Mutter des Klägers während der Schwangerschaft.

Der am 00.00.1957 geborene, ledige Kläger ist gelernter Konditor und Altenpfleger. Er wuchs zusammen mit zwei älteren Geschwistern auf. Die Eltern sind verstorben, die Mutter F bereits 1976. Der Rhein-Kreis O stellte beim Kläger mit Bescheid vom 13.10.2010 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 und mit Bescheid vom 30.11.2016 einen GdB von 90 fest. Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege erkannte mit Bescheid vom 28.03.2011 eine Erkrankung der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit an, lehnte aber eine Zahlung von Rentenleistungen ab. Ein Klageverfahren vor dem Sozialgericht Düsseldorf wegen Anerkennung einer Hörstörung als Berufskrankheit blieb erfolglos (S 6 U 61/11).

Am 06.02.2014 stellte der Kläger beim Beklagten einen Antrag auf Leistungen nach dem OEG. Er sei noch im Mutterleib durch den Alkoholkonsum der Mutter geschädigt worden, was insbesondere zu Sensibilitätsstörungen an den Extremitäten, Schmerzen im Bereich von Bauch und Rücken sowie einer Beeinträchtigung seiner Konzentrationsfähigkeit geführt habe. Er benannte seine beiden Geschwister als Zeugen für den Alkoholkonsum der Mutter und legte Zeugnisse, ein Attest des Facharztes für Innere Medizin Dr. I aus 2012, ein Privatgutachten von Prof. Dr. T, Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden der D Universitätsmedizin C aus 2012 sowie ärztliche Befunde verschiedenster Fachrichtungen vor. In den ärztlichen Berichten des neurologisch-psychiatrischen Fachgebietes wurden als Diagnosen u.a. eine frühkindliche Entwicklungsverzögerung, ein chronisches Schmerzsyndrom und eine dissoziative Störung genannt. Dr. I bescheinigte, dass die Mutter des Klägers an einer Alkoholkrankheit gelitten habe. Prof. Dr. T diagnostizierte ein partielles fetales Alkohol-Syndrom im Erwachsenenalter im Sinne einer Fetalen Alkohol Spektrum Störung (FASD). Es bestünden ein Minderwuchs (1,68m) und eine Dystrophie, die wahrscheinlich auch schon in der Kindheit vorgelegen hätten, eine kraniofaziale Dysmorphie sowie funktionelle ZNS-Störungen i.S.v. Verhaltensstörungen und sozialen Schwierigkeiten. Nach Aussage von Familienangehörigen sei die Mutter chronisch alkoholkrank gewesen und habe wahrscheinlich schon während der Schwangerschaft des Klägers getrunken. Letztlich könne aber nur eine Annäherung an die Diagnose erfolgen, da auch andere Noxen als Alkohol, genetische Faktoren und postnatale Veränderungen von Bedeutung sein könnten.

Der Beklagte holte einen Befundbericht von Dr. I ein und zog Unterlagen der Krankenkasse des Klägers bei. Mit Bescheid vom 11.09.2014 lehnte er den Antrag ab. Es sei zwar glaubhaft, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol konsumiert habe. Dieses Verhalten sei aber nicht strafbar gewesen, so dass kein tätlicher Angriff im Sinne des OEG vorliege. Der Kläger hat am 24.09.2014 Widerspruch eingelegt. Die Mutter habe eine strafbare Körperverletzung begangen. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.10.2014 zurück.

Der Kläger hat am 14.11.2014 Klage beim Sozialgericht Düsseldorf erhoben. Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergebe sich, dass das ungeborene Kind in den Schutzbereich des OEG einbezogen sei. Der erhebliche Alkoholkonsum der Mutter sei durch die Diagnose FAS bewiesen. Die Gefährlichkeit von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft sei bereits damals Allgemeinwissen gewesen. Der Mutter sei diese Gefahr auch bewusst gewesen. Den Alkohol habe sie vorsätzlich konsumiert, die Folgen seien ihr offensichtlich gleichgültig gewesen. Einschlägig sei jedenfalls § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG. Vorsatz bezüglich des Verletzungserfolges sei nicht erforderlich. Dabei sei davon auszugehen, dass die Mutter ein drittes Kind angesichts ihrer sozialen Situation gar nicht gewollt und den Kläger daher bewusst geschädigt habe. Der Kläger hat außerdem auf ein Rechtsgutachten des Deutschen Instituts für Jugend- und Familienrecht (DIJuF) aus 2009 und einen Bericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung zur FAS aus 2013 verwiesen.

Der Beklagte hat vorgetragen, Alkoholkonsum während der Schwangerschaft sei nicht strafbar. Eine feindselige Willensrichtung gegenüber dem Kläger sei nicht nachgewiesen. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Schädigungen von ungeborenen Kindern infolge von tätlichen Angriffen gegenüber der schwangeren Mutter sei hier nicht einschlägig.

Das Sozialgericht hat die Geschwister des Klägers als Zeugen vernommen. Die ca. drei Jahre ältere Schwester hat angegeben, ihr sei erstmals im Alter von acht Jahren aufgefallen, dass mit der Mutter etwas nicht stimme. Im Alter von 14 Jahren habe sie den Haushalt übernehmen müssen. Sie erkläre sich den Alkoholkonsum der Mutter damit, dass diese eigentlich begabt gewesen sei und gute Schulen besucht habe, dann aber einen Hof habe führen müssen. Rückblickend vermute sie, dass ihre Mutter den Kläger als drittes Kind nicht gewollt habe. Er habe auch immer viele Krankheiten gehabt. Der etwa sechs Jahre ältere Bruder hat angegeben, er habe erst, als er älter gewesen sei, gemerkt, dass etwas nicht stimme. Später müsse der Alkoholkonsum der Mutter erheblich gewesen sein, da sie tagsüber gelegen habe. Möglicherweise sei die Mutter mit dem Hof und der Krankheit des Vaters nicht fertig geworden.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 08.12.2015 abgewiesen. Ein Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft sei nicht belegt. Auch Prof. Dr. T habe insofern lediglich Vermutungen angestellt. Seine Diagnose begegne auch insofern Zweifeln, als er einen Minderwuchs in der Kindheit nur vermute und die beschriebenen funktionellen ZNS-Störungen unspezifisch seien. Jedenfalls fehle es an einer Gewalttat im Sinne des OEG. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setze eine tatbestandliche Schädigung des ungeborenen Kindes eine Schädigung der Mutter durch einen Dritten voraus. Die Mutter habe auch weder eine Körperverletzung, noch eine strafbare Abtreibung begangen. Es sei keine feindselige Willensrichtung gegenüber dem Kläger erkennbar. Die Zeugen hätten schon aufgrund ihres Alters hierzu keine belastbaren Angaben machen können.

Der Kläger hat gegen das seinem Bevollmächtigten am 04.01.2016 zugestellte Urteil mit Schreiben vom 01.02.2016 Berufung eingelegt, das am 05.02.2016, einem Freitag, beim Landessozialgericht eingegangen ist.

Der Kläger hat am 08.02.2016 Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist beantragt. Der Bevollmächtigte habe das Schreiben persönlich am 01.02.2016 in den Briefkasten eingeworfen. Der Bevollmächtigte werfe häufiger selbst Post in den Briefkasten, da dieser auf dem Weg von der Kanzlei zu dem in fußläufiger Entfernung liegenden Amtsgericht liege. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass das Schreiben erst am 05.02.2016 beim Landessozialgericht eingehe. Ein Eintrag in ein Postausgangsbuch sei nicht erfolgt, aber auch nicht notwendig. Der Kläger hat eine schriftliche Erklärung der Büroangestellten des Bevollmächtigten, Frau C, vorgelegt, wonach diese dem Bevollmächtigten am 01.02.2016 zur Mittagszeit den Berufungsschriftsatz zum Einwerfen in die Post übergeben habe.

In der Sache trägt der Kläger vor, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei das ungeborene Kind durch das OEG gegen vorwerfbares Verhalten Dritter geschützt. Jedenfalls sei das OEG im Lichte von Art. 6 Grundgesetz (GG) und unter Berücksichtigung des Schutzzweckes des OEG entsprechend auszulegen. Der Alkoholkonsum der schwangeren Mutter sei durch die vorliegenden ärztlichen Atteste und Gutachten sowie die Zeugenaussagen bewiesen, zumindest im Sinne eines Anscheinsbeweises. Der Kläger hat ergänzend Zeitungsberichte über das FAS vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.12.2015 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 11.09.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2014 zu verurteilen, ihm Rentenleistungen nach dem OEG i.V.m. dem BVG nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 30 ab Februar 2014 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte trägt vor, weder sei ein Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft, noch eine feindselige Willensrichtung der Mutter gegenüber dem Kläger bei einem etwaigen Alkoholkonsum, noch eine FAS als Schädigungsfolge bewiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, deren jeweiliger wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig.

Zwar ist die Berufungsfrist nicht eingehalten worden. Gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Berufung bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Das Urteil ist dem Bevollmächtigten ausweislich des aktenkundigen Empfangsbekenntnisses am 04.01.2016 zugegangen, die Berufungsschrift ist beim Landessozialgericht erst am 05.02.2016 eingegangen. Der 04.02.2016 war ein Donnerstag und kein Feiertag.

Dem Kläger ist aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Gemäß § 67 Abs. 1 SGG ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG ist der Antrag binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden.

Hier ist glaubhaft gemacht, dass der Bevollmächtigte die Berufungsschrift wie vorgetragen am Montag, den 01.02.2016, in den Briefkasten geworfen hat. Dann durfte er sich darauf verlassen, dass die Post den Brief innerhalb eines Werktages zustellt (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 67 Rn 6a). Die Abfassung der Berufungsschrift am 01.02.2016 ist glaubhaft wegen des auf der Berufungsschrift befindlichen Datums "01.02.2016" und der Erklärung der Angestellten des Bevollmächtigten, wobei dahinstehen kann, ob es sich dabei tatsächlich um eine eidesstattliche Versicherung handelt. Das Führen eines Postausgangsbuches ist bei ansonsten gewährleisteter Fristenkontrolle nicht erforderlich (vgl. Keller, a.a.O., Rn 9g mit Verweis auf BGH, Beschluss vom 16.02.2010 - VIII ZB 76/09, juris Rn 7). Für eine Aufgabe zur Post am 01.02.2016, hier in Gestalt des Einwurfes in einen Briefkasten, spricht die Erklärung des Bevollmächtigten. Auch die einfache Erklärung eines Beteiligten oder Prozessbevollmächtigten kann im Einzelfall genügen (Keller, a.a.O., Rn 10d). Für den Fall des Verlustes einer Postsendung soll eine substantiierte Darlegung erforderlich sein, dass und auf welche Weise die Berufungsschrift erstellt und abgeschickt und wie dies dokumentiert worden ist (BSG, Beschluss vom 11.11.2003 - B 2 U 293/03 B, juris Rn 10 m.w.N.). Hier geht es allerdings nicht um einen vollständigen Verlust. Außerdem hat der Bevollmächtigte die Abläufe am 01.02.2016 hinreichend konkret und überzeugend vorgetragen (vgl. zu einem ähnlichen Sachverhalt LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.11.2012 - L 25 AS 2743/12 B ER, juris Rn 3). Es kommt hinzu, dass der Briefumschlag, mit dem die Berufungsschrift übersandt wurde und der als Nachweis einer rechtzeitigen Versendung in Betracht käme, nicht zu den Akten genommen worden ist, was nicht zum Nachteil des Klägers gehen darf (vgl. Keller, a.a.O., Rn 6 a.E. mit Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 26.03.1997 - 2 BvR 842/96, juris Rn 13 f.).

Die Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da diese zulässig, aber unbegründet ist. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da diese rechtmäßig sind. Er hat keinen Anspruch auf Zahlung von Rentenleistungen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. §§ 9 Abs. 1 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 BVG.

Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. Grundsätzlich bedürfen diese drei Glieder der Kausalkette des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG die Wahrscheinlichkeit (vgl. etwa BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R, Rn 26, 33).

Hier wird als Schädigungshandlung Alkoholkonsum der Mutter des Klägers während der Schwangerschaft geltend gemacht. Es kann dahinstehen, ob diese Konstellation vom Anwendungsbereich des OEG erfasst wird. Denn ein schädigender Alkoholkonsum der Mutter des Klägers während der Schwangerschaft ist nicht nachgewiesen und nicht mehr nachweisbar. Selbst wenn ein solcher Alkoholkonsum erwiesen wäre, fehlte es am Nachweis eines vorsätzlich, rechtswidrig tätlichen Angriffs. Daher kann auch dahinstehen, ob die derzeit beim Kläger bestehenden Erkrankungen überhaupt und ggf. in rentenberechtigender Höhe wahrscheinlich durch einen Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft verursacht worden sind.

§ 1 OEG setzt ebenso wie § 1 BVG aufgrund des Wortlauts ("wer") voraus, dass der Geschädigte im Zeitpunkt des Angriffs bereits lebt, was bei einem ungeborenen Kind nicht der Fall ist (BSG, Urteil vom 24.10.1962 - 10 RV 583/59, Rn 15; Urteil vom 16.04.2002 - B 9 VG 1/01 R, Rn 21; SG Magdeburg, Urteil vom 10.07.2015 - S 14 VE 18/11, juris Rn 15; Gelhausen/Weiner, OEG, 6. Aufl. 2015, § 1 Rn 3; Heinz, Gewalttaten zulasten von Kindern nach dem OEG und entsprechende Ansprüche auf Entschädigung für die Folgen derselben, ZKJ 2016, 244). Das Bundessozialgericht hat den Tatbestand - zunächst des BVG und dann auch des OEG - wegen planwidriger Regelungslücken jedoch erweitert, zunächst auf den Fall einer Schädigung eines ungeborenen Kindes aufgrund Vergewaltigung und Misshandlung der Mutter (BSG, Urteil vom 24.10.1962 - 10 RV 583/59), dann auf den Fall, dass ein lange nach einer Vergewaltigung der Mutter geborenes Kind an einer Krankheit leidet, die auf die Mutter bei der Vergewaltigung übertragen worden war (BSG, Urteil vom 15.10.1963 - 11 RV 1292/61) und schließlich auf den Fall, dass ein aufgrund einer Vergewaltigung der Mutter im Rahmen eines Inzestes gezeugtes Kind aufgrund dieser Gewalttat dauerhaft geschädigt ist (BSG, Urteil vom 16.04.2002 - B 9 VG 1/01 R; kritisch hierzu Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 1 OEG Rn 15).

Es kann dahinstehen, ob diese den Tatbestand des BVG bzw. des OEG erweiternde Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch den vorliegenden Fall erfasst, wobei in der Literatur darauf verwiesen wird, dass in den vom Bundessozialgericht entschiedenen Fällen - anders als hier - eine Gewalttat gegenüber einem bereits geborenen Menschen, nämlich der Mutter, vorlag (vgl. hierzu Dau, in: jurisPR-SozR 21/2015, Anm. 5, C.; DIJuF-Rechtsgutachten vom 04.05.2009, JAmt 5/2009, S. 252 und mit Bezug hierauf die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Die Fetale Alkoholspektrum-Störung - Die wichtigsten Fragen der sozialrechtlichen Praxis, 2014, S. 18).

Es kann auch dahinstehen, ob für den Fall, dass die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts den vorliegenden Fall nicht erfasst, eine analoge Anwendung des OEG über diese Rechtsprechung hinaus geboten ist (ablehnend SG Magdeburg, Urteil vom 10.07.2015 - S 14 VE 18/11, juris Rn 17 mit Verweis auf den Schutzzweck des OEG; krit. hierzu Dau, a.a.O., der Leistungsansprüche nach dem OEG aber mangels Rechtsfeindlichkeit verneint, s. unten).

Ein Alkoholkonsum der Mutter des Klägers während der Schwangerschaft ist nicht bewiesen. Sowohl die Zeugenaussagen, als auch die Bescheinigung von Dr. I belegen zwar, dass die Mutter des Klägers alkoholkrank war. Es ist aber offen, ob dies auch schon zum Zeitpunkt der Schwangerschaft mit dem Kläger der Fall war. Die beiden älteren Geschwister hatten hieran, was angesichts ihres damaligen Alters nachvollziehbar ist, überhaupt keine Erinnerungen. Sie bemerkten erst Jahre später, dass das Verhalten ihrer Mutter auffällig war. Die mutmaßliche Belastung und Frustration der Mutter belegen ebenfalls keinen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Es ist ebenso möglich, dass erst nach der Geburt des Klägers die Belastung der Mutter so groß war, dass sie zu einer Alkoholkrankheit führte, zumal wenn der Kläger häufig krank gewesen sein sollte, wie die Schwester angab. Letztlich bleibt dies Spekulation; weitere Ermittlungsmöglichkeiten sind insoweit weder vorgetragen noch ersichtlich.

Der Nachweis eines Alkoholkonsums der Mutter während der Schwangerschaft ergibt sich auch nicht aus der Diagnose eines FAS durch Prof. Dr. T. Denn nach den Ausführungen von Prof. Dr. T ist ebendieser Alkoholkonsum Voraussetzung der Diagnose FAS. Der Schluss von der Diagnose auf einen solchen Alkoholkonsum wäre damit zirkulär. Prof. Dr. T benannte im Übrigen mit anderen Noxen, genetischen Faktoren und postnatalen Veränderungen alternative Faktoren für kognitive Defizite und Mikrozephalie, weswegen sein Gutachten lediglich eine Annäherung an die Diagnose darstelle. Zwar sieht die S3-Leitlinie FASD (AWMF-Registernummer 022-025, S. 41) die Möglichkeit vor, auf das Kriterium einer intrauterinen Alkoholexposition zu verzichten, wenn Auffälligkeiten in den drei übrigen Säulen bestehen. Gleichzeitig wird aber eingeräumt, dass bei fehlender Bestätigung mütterlichen Alkoholkonsums die Diagnose FAS durchaus eine Falschdiagnose sein könne. Auf das Kriterium könne gleichwohl verzichtet werden, da Kinder mit Wachstumsauffälligkeiten und ZNS-Auffälligkeiten in jedem Fall Förderbedarf hätten. Die Möglichkeit des Absehens vom Kriterium einer intrauterinen Alkoholexposition dient damit allein therapeutischen Zwecken, erlaubt aber nicht den Rückschluss von der Diagnose FAS auf eine intrauterine Alkoholexposition.

Vor diesem Hintergrund ist auch kein Raum für einen Anscheinsbeweis (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 10.12.2003 - B 9 VG 3/02 R, Rn 19 m.w.N.).

Selbst bei Unterstellung eines Alkoholkonsums der Mutter während der Schwangerschaft läge kein vorsätzlich, rechtswidriger tätlicher Angriff vor. Ein tätlicher Angriff ist grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung (BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R, Rn 19 m.w.N.). Die Angriffshandlung erfüllt in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R, Rn 27 m.w.N.).

Eine Straftat, erst recht eine Vorsatzstraftat, ist hier nicht erwiesen. Eine strafbare Körperverletzung der Mutter gegenüber dem ungeborenen Kind scheidet bereits grundsätzlich aus (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, vor §§ 211-217, Rn 8; Zöller, in: Anwaltkommentar StGB, 2. Aufl. 2015, § 223 Rn 5; aA Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 223 Rn 1b). Auch wenn eine vorsätzliche Begehung möglich wäre, wäre hier ein Körperverletzungsvorsatz nicht bewiesen. Im Strafrecht muss der Vorsatz auch den Körperverletzungserfolg umfassen (vgl. BGH, Beschluss vom 11.07.2012 - 2 StR 60/12, juris Rn 8). Ein versuchter Schwangerschaftsabbruch ist erst recht nicht erwiesen.

Selbst wenn im Rahmen des OEG ein auf die unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Opfers, nicht aber auf den entstandenen Körperschaden gerichteter Vorsatz ausreichend ist (vgl. BSG, Urteil vom 03.02.1999 - B 9 VG 7/97 R, Rn 12), ist auch ein solcher nicht bewiesen. Die klägerische Behauptung, auch in den 1950er Jahren sei es Allgemeinwissen gewesen, dass Alkoholkonsum während der Schwangerschaft für das ungeborene Kind gefährlich sei und deshalb sei anzunehmen, dass die Mutter des Klägers die Gefährlichkeit des Alkoholkonsums kannte und dann auch zumindest billigend in Kauf nahm, ist eine durch nichts belegte Unterstellung. Die vom Kläger vorgelegten aktuellen Zeitungsartikel legen vielmehr nahe, dass die Schädlichkeit von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft bis zuletzt nicht Allgemeinwissen gewesen ist (Zeit online vom 10.07.2014: "früher hieß es, ab und zu ein Gläschen Sekt in der Schwangerschaft schade nicht"; "vor wenigen Jahren war das noch anders"; Süddeutsche Zeitung vom 08.08.2014: "dabei trinken ungefähr 30 Prozent aller Frauen während der Schwangerschaft Alkohol"; Spiegel 38/2015: "halten immer noch 18% der Bundesbürger gelegentlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft für vertretbar; 10% geben zu, dass sie nicht wissen, ob ein Gläschen Sekt oder Bier schädlich ist für ein ungeborenes Kind").

Aus den vorgenannten Gründen ist auch § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG - vorsätzliche Beibringung von Gift - nicht erfüllt. In der Literatur (vergleiche Dau, in: jurisPR-SozR 21/2015, Anm. 5, C.) wird zudem überzeugend darauf hingewiesen, dass es bei der während der Schwangerschaft Alkohol konsumierenden Mutter regelmäßig an der Rechtsfeindlichkeit bzw. der feindseligen Willensrichtung fehlt (zur Relevanz dieses Merkmals LSG NRW, Beschluss vom 22.02.2010 - L 10 (6) B 8/09 VG, juris Rn 10 in einem Contergan-Fall), was sich daran zeigt, dass zivilrechtliche Zwangsmaßnahmen gegen einen Alkoholkonsum der Mutter des werdenden Kindes nicht möglich sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht. Die Rechtssache hat insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Dabei kann dahinstehen, ob die hier zugrunde liegenden Rechtsfragen für sich genommen klärungsbedürftig sind. Jedenfalls scheitert die Klage aus tatsächlichen Gründen, nämlich am fehlenden Nachweis eines Alkoholkonsums der Mutter des Klägers in der Schwangerschaft und eines Schädigungsvorsatzes.
Rechtskraft
Aus
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