L 13 VE 2/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 199 VE 73/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VE 2/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 4/17 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2017 wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung zur Hauptsache wie folgt neu gefasst wird: Der Beklagte wird unter Änderung seines Bescheides vom 19. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 2015 sowie des Bescheides vom 16. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2015 verurteilt, den Klägerinnen als Gesamtrechtsnachfolgerinnen des 2015 verstorbenen P G weitere 1.743,18 EUR nebst Zinsen in Höhe von 4 % p.a. aus 1.743,00 EUR seit dem 25. März 2015 zu zahlen. Der Beklagte hat den Klägerinnen deren notwendige außergerichtliche Kosten auch für das Berufungsverfahren in voller Höhe zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerinnen sind als Erbinnen Gesamtrechtsnachfolgerinnen des 2015 verstorbenen P G (Versorgungsempfänger), dem als Kriegsblinden Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zustanden, insbesondere die sog. erhöhte Pflegezulage auf der Grundlage von § 35 Abs. 2 BVG.

Der Versorgungsempfänger hatte zur Sicherstellung seiner Pflege Arbeitsverträge mit mehreren Personen abgeschlossen. Zu ihnen gehörte Frau Sch (Pflegerin), die sich bei Antritt des Arbeitsverhältnisses bereits im Rentenalter befand, eine Altersrente bezog und daher von der Entrichtung des Arbeitnehmeranteils zur gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung befreit war. Der mit ihr abgeschlossene Arbeitsvertrag entsprach hinsichtlich der Höhe der vereinbarten Brutto-Vergütung den arbeitsvertraglichen Richtlinien der C (AVR), die indes nicht danach unterscheiden, ob der Arbeitnehmer wegen Bezuges einer Altersrente von den genannten Lohnabzügen befreit ist.

Auf Antrag des Versorgungsempfängers setzte der Beklagte mit Bescheid vom 16. September 2011 die erhöhte Pflegezulage ab Juni 2010 fest und lehnte dabei die begehrte Erhöhung in Höhe von jeweils 89,66 EUR für die Monate Juni bis August 2010 und von jeweils 90,55 EUR für die Monate September bis Dezember 2010 ab (insgesamt 631,18 EUR). Zur Begründung führte er aus, die Pflegerin müsse keinen Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung leisten. Eine Vergütungsvereinbarung, die diesem Umstand nicht durch eine Absenkung Rechnung trage, sei daher in Höhe des fiktiven Beitragsanteils des Arbeitnehmers nicht mehr angemessen. Ebenso verfuhr der Beklagte mit Bescheid vom 19. März 2012, in dem er die begehrte Erhöhung in Höhe von jeweils 91,35 EUR für die Monate Januar bis Dezember 2011 sowie für eine Einmalzahlung im Juli 2011 in Höhe von weiteren 15,80 EUR ablehnte (insgesamt 1.112,00 EUR). Die hiergegen gerichteten Widersprüche wies er mit Widerspruchsbescheiden vom 6. und 9. März 2015 als unbegründet zurück.

Mit den am 25. März 2015 erhobenen Klagen, die das Sozialgericht zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat, hat der Versorgungsempfänger sein Begehren weiter verfolgt. Nach seinem Tod führen seine Erbinnen das Klageverfahren fort. Sie sind der Ansicht, der Beklagte habe die beantragte erhöhte Pflegezulage ohne den Abzug in Höhe des fiktiven Arbeitnehmeranteiles der Pflegerin zur gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung zu zahlen, da maßgeblich allein auf den Bruttolohn abzustellen sei. Auch wenn der Beklagte dies in Abrede stelle, laufe seine Ansicht darauf hinaus, es müsse eine Nettolohnvereinbarung getroffen werden. Im Übrigen beruhe die Pflicht des Arbeitgebers zur Zahlung des Beitrages auch für versicherungsfreie Personen auf der Absicht des Gesetzgebers, keinen Wettbewerbsvorteil versicherungsfreier Arbeitnehmer gegenüber versicherungspflichtigen Arbeitnehmern entstehen zu lassen. Genau ein solcher würde aber bei Richtigkeit der Beklagtenansicht erzeugt.

Mit Urteil vom 16. Januar 2017 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Abänderung seines Bescheides vom 19. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 2015 sowie des Bescheides vom 16. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2015 verurteilt, den Klägerinnen die im Rahmen arbeitsvertraglicher Fremdpflege entstandenen Aufwendungen für den Zeitraum 1. Juni 2010 bis 31. Dezember 2011 für die Pflegekraft Frau Sch entsprechend dem vertraglich vereinbarten Bruttoentgelt in vollem Umfang verzinslich zu erstatten.

Gegen das ihm am 23. Januar 2017 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit der am 27. Januar 2017 eingelegten Berufung. Er beruft sich auf ein Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 2. November 2015 und beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit nicht der Rechtsstreit hinsichtlich der Verzinsung teilerledigt ist.

Die Klägerinnen haben auf die Geltendmachung einer Verzinsung vor Rechtshängigkeit der Klage verzichtet und beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet, denn das Sozialgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Allerdings ist der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung mangels vollstreckbarer Formulierung im Wege der Maßgabe neu zu fassen. Entgegen der Ansicht des Beklagten haben die Klägerinnen als Erbinnen des Versorgungsempfängers Anspruch auf Zahlung der Pflegezulage in der geltend gemachten Höhe aus § 35 Abs. 2 Satz 1 BVG. Nach dieser Vorschrift wird die Pflegezulage um den übersteigenden Betrag erhöht, wenn fremde Hilfe im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG von Dritten aufgrund eines Arbeitsvertrages geleistet wird und die dafür aufzuwendenden angemessenen Kosten den Betrag der pauschalen Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 übersteigen. Zwischen den Beteiligten ist allein streitig, ob es sich bei den vollen Kosten für die Beschäftigung der Pflegerin um angemessene Kosten im Sinne der genannten Vorschrift handelt, oder aber nur ein um den tatsächlich nicht anfallenden und daher fiktiv zu bestimmenden Anteil der Pflegerin zur Renten- und Arbeitslosenversicherung geminderter Bruttolohn angemessen ist. Hingegen sind das Ausmaß der Pflegeleistungen und die Eingruppierung der Pflegerin in die Vergütungsstufen nach den AVR zwischen den Beteiligten zu Recht nicht im Streit.

Angemessen im Sinne von § 35 Abs. 2 BVG sind die tatsächlich erforderlichen Kosten für Wartung und Pflege (vgl. BSG, Urteil vom 2. Februar 2010, B 9 V 2/10 R, juris, Rdnr. 41). Erforderlich bedeutet nach Überzeugung des Senates in diesem Zusammenhang, dass es maßgeblich darauf ankommt, zu welchen Kosten der Versorgungsempfänger in der Lage ist, sich die nach Art und Umfang notwendige Hilfeleistung durch eine dazu qualifizierte Hilfskraft zu beschaffen. Hierfür bieten die AVR der Caritas nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18. September 2003, B 9 V 12/01 R, juris) eine geeignete Beurteilungsgrundlage. Soweit der Beklagte unter Hinweis auf das Rundschreiben des BMAS vom 2. November 2015 und die ihm wohl zugrundeliegende Intervention des Bundesrechnungshofes meint, es sei ein Abschlag vorzunehmen bei Pflegekräften, die bereits Altersrente beziehen, folgt dem der Senat nicht. So stünde eine solche Verfahrensweise nur dann im Einklang mit den o.a. Grundsätzen, wenn es tatsächlich einen nennenswerten Arbeitsmarkt gäbe, auf dem bereits in Altersrente befindliche und daher von der Renten- und Arbeitslosenversicherungspflicht freie Pflegekräfte ihre Dienstleistungen zu einem geringeren Bruttolohn als in den AVR ausgewiesen anböten und damit auf die mit dem Rentenbeginn einhergehende Erhöhung des Nettolohnes verzichteten. Die konkrete Existenz eines solchen Angebots an Arbeitskräften wird vom Beklagten nicht einmal behauptet. Angesichts des gerichtsbekannten Mangels an qualifiziertem Pflegepersonal hält der Senat sie auch für ausgeschlossen. Ein pflegebedürftiger Versorgungsempfänger muss zur Sicherstellung seiner Pflege durch Arbeitnehmer also stets dieselben Kosten aufwenden.

Aber selbst wenn es ein derartiges Angebot an berenteten, zur Hinnahme eines abgesenkten Bruttolohnes und der einhergehenden verringerten Nettovergütung bereiten Pflegekräften tatsächlich gäbe, wäre nach Überzeugung des Senates dem Beklagten die Berufung auf eine Unangemessenheit der im Falle einer Beschäftigung nicht bereits berenteter Pflegekräfte unstreitig angemessenen Kosten aus Rechtsgründen versagt. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung in § 172 Abs. 1 SGB VI dem Arbeitgeber eines wegen des Erreichens der Regelaltersgrenze rentenversicherungsfreien Arbeitnehmers die Tragung des hälftigen fiktiven Rentenversicherungsbeitrages auferlegt. Mit dieser Regelung sollten ein Wettbewerb zwischen Arbeitnehmern zulasten versicherungspflichtiger Arbeitnehmer und eine Wettbewerbsverzerrung zwischen Arbeitgebern wegen unterschiedlicher Bruttolohnkosten vermieden werden. Im Sinne einer Einheitlichkeit der Rechtsordnung kann daher § 35 Abs. 2 BVG nicht in einer Weise ausgelegt werden, die pflegebedürftige Versorgungsempfänger geradezu dazu anhielte, versicherungsfreien Pflegekräften eine verringerte Bruttovergütung zu zahlen und so den gesetzgeberisch unerwünschten Wettbewerb erzeugte.

Der Versorgungsempfänger hatte daher einen Anspruch gegen den Beklagten auf antragsgemäße weitere Erhöhung der Pflegezulage um 631,18 EUR für die Zeit von Juni bis einschließlich Dezember 2010 und um 1.112,00 EUR für das Jahr 2011. Der Gesamtbetrag in vollen Euro (§ 44 Abs. 3 SGB I) ist antragsgemäß ab dem Eintritt der Rechtshängigkeit am 25. März 2015 mit dem sich aus § 44 Abs. 1 SGB I ergebenden Zinssatz von 4 v.H. zu verzinsen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war hier gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Sache im Hinblick auf die unterschiedliche Praxis der Bundesländer und das insoweit ergangene Rundschreiben des BMAS vom 2. November 2015 grundsätzliche Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
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