S 12 AS 3946/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 3946/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Bei dem Begriff „umgehend“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der Auslegung zugänglich ist.
2. Auch eine Bewerbung innerhalb von zwei Wochen kann noch „umgehend“ sein.
1. Der Bescheid vom 22.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.10.2016 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte erstattet dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Herabsetzung von Leistungen um 100 % für den Zeitraum vom 01.03.2016 bis zum 31.05.2016.

Der am 04.10.1981 geborene Kläger bezieht laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Auf seinen Weiterbewilligungsantrag vom 27.08.2015 wurden ihm mit Bescheid vom 27.08.2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.09.2015 bis zum 31.08.2016 in Höhe von 699,00 EUR monatlich bewilligt. Mit Sanktionsbescheid vom 20.10.2014 wurden die Leistungen um 30 % des maßgebenden Regelbedarfs gekürzt. Mit weiterem Sanktionsbescheid vom 17.12.2014 wurden die Leistungen um 60 % des maßgebenden Regelbedarfs gekürzt. Mit Sanktionsbescheid vom 15.04.2015 wurden die Leistungen schließlich um 100 % des maßgebenden Regelbedarfs gekürzt.

Am 29.12.2015 wurde dem Kläger ein Vermittlungsvorschlag für ein Beschäftigungsverhältnis bei der Fa. Xxx als Lagerhelfer in Vollzeit in Karlsruhe unterbreitet. Der Vermittlungsvorschlag enthielt den Hinweis, dass sich der Kläger umgehend schriftlich oder per E-Mail zu bewerben habe. Alternativ könne ein Vorstellungstermin vereinbart werden. Dem Vermittlungsvorschlag war weiterhin zu entnehmen, dass der Kläger das Ergebnis seiner Bewerbungsbemühung dem Jobcenter mitzuteilen habe. Des Weiteren enthielt der Vermittlungsvorschlag eine umfassende Rechtsfolgenbelehrung, aus der sich entnehmen lässt, dass ein Pflichtverstoß zu einer Leistungskürzung führen könne, soweit ein wichtiger Grund für einen Pflichtverstoß nicht nachweisbar sei. Aus der Rechtsfolgenbelehrung war zudem zu entnehmen, dass das Arbeitslosengeld II zuletzt aufgrund eines wiederholten Pflichtverstoßes vollständig entfallen war (Bescheid vom 15.04.2015). Sollte er sich weigern, die ihm angebotene Arbeit aufzunehmen oder fortzuführen würde das ihm zustehende Arbeitslosengeld II erneut vollständig entfallen.

Am 25.01.2016 teilte die Fa. Xxx auf telefonische Nachfrage des Jobcenters mit, dass sich der Kläger bis dahin weder gemeldet noch schriftlich beworben habe.

Auf das Anhörungsschreiben gemäß § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) vom 25.01.2016 teilte der Kläger am 15.02.2016 mit, der angeführte Sachverhalt treffe nicht zu. Er habe sich am 04.01.2016 beworben. Es liege nicht in seinem Verantwortungsbereich, wenn die Fa. XXX nicht in der Lage sei, ihm seine Bewerbungsunterlagen zurück zu senden oder ihm eine Antwort zu schreiben.

Mit Bescheid vom 22.02.2016 wurden die Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.03.2016 bis zum 31.05.2016 aufgrund der vorangegangenen Pflichtverletzung um 100 % der maßgebenden Regelleistung abgesenkt.

Am 29.02.2016 erhob der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 25.02.2016. Zu dessen Begründung führte er aus, er habe das Bewerbungsschreiben im Beisein seiner Freundin am 04.01.2016 formuliert, ausgedruckt, kuvertiert und ausreichend frankiert durch Einwurf in einen Briefkasten an die XXX übersandt. Diese habe ihm mit Schreiben vom 03.03.2016 seine Bewerbungsunterlagen zurückgesandt und sich bei ihm für die Bewerbung bedankt. Ein sanktionsfähiges Verhalten liege mithin nicht vor.

Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 12.10.2016 als unbegründet zurückgewiesen.

Deswegen hat der Kläger am 17.11.2016 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zu deren Begründung trägt er vor, er habe sich auf den Vermittlungsvorschlag vom 29.12.2015 mit Schreiben vom 04.01.2016 beworben. Wieso die Fa. XXX gegenüber der Beklagten mitgeteilt habe, er habe sich bis zum 25.01.2016 weder gemeldet noch schriftlich beworben sei für ihn unerklärlich und unverständlich. Er habe das Bewerbungsschreiben vom 04.01.2016 zusammen mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin verfasst und ausgedruckt, mit einem Hefter in einen an die Firma Xxx adressierten Umschlag gesteckt und in der Schreibwaren-Postagentur Xxx aufgegeben. Ein sanktionswürdiges Verhalten liege damit nicht vor. In Anbetracht der von ihm zu erbringenden Betreuungsleistung gegenüber seinem am 11.06.2014 geborenen Sohn komme ein Sanktionsfähiges Verhalten schon deshalb nicht in Betracht, weil es dem Kläger entgegen den in der Eingliederungsvereinbarung niedergelegten Bemühungen wegen seiner persönlichen und familiären Situation überhaupt nicht möglich sei, eine Arbeit auszuüben, ohne dass ansonsten die Erziehung/Betreuung des Kindes erheblich gefährdet wäre.

Der Kläger beantragt,

der Bescheid der Beklagten vom 22.02.2016b in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.10.2016 wird aufgehoben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die von ihr getroffene Entscheidung weiterhin für zutreffen und verweist insoweit auf den Inhalt des Widerspruchsbescheids. Ergänzend führt sie aus, das Kind habe seinen Aufenthaltsort im Haushalt der Mutter. Umgangsregelungen könnten nicht dazu führen, dass der Kläger keiner Arbeit nachgehen müsse.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin Xxx in der mündlichen Verhandlung vom 12.12.2017. Wegen des Inhalts der Zeugenaussage wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12.12.2017 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Die zulässige Klage ist begründet. Soweit die Beklagte mit Bescheid vom 22.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.10.2016 die Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.03.2016 bis zum 31.05.2016 um 100 % gemindert hat, ist dies rechtswidrig. Der Kläger ist hierdurch in seinen Rechten verletzt.

1. Gemäß § 31 Abs. 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis

(1) sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Absatz 3 Satz 3 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen,

(2) sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16 d oder ein nach § 16 e gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch deren Verhalten verhindern,

(3) eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben.

Dies gilt nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen.

Gemäß § 31 a Abs. 1 SGB II mindert sich bei einer Pflichtverletzung nach § 31 das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde. Sie liegt nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums länger als ein Jahr zurückliegt. Erklären sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte nachträglich bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann der zuständige Träger die Minderung der Leistungen nach Satz 3 ab diesem Zeitpunkt auf 60 Prozent des für sie nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs begrenzen.

2. Die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Minderung im oben genannten Sinne liegen zur Überzeugung der Kammer beim Kläger nicht vor. Die einzig bei ihm in Betracht kommende Alternative des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II, die Weigerung eine zumutbare Arbeit aufzunehmen oder deren Anbahnung durch sein Verhalten zu verhindern, ist nicht gegeben.

"Weigern" bedeutet die regelmäßig vorsätzliche ausdrückliche oder stillschweigende, schriftlich, mündlich oder in anderer Weise dem Leistungsträger oder dem Arbeitgeber zum Ausdruck gebrachte fehlende Bereitschaft, sich an die durch das Gesetz auferlegte Pflicht zu halten (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12.01.2009, Az.: L 5 B 94/08 AS ER). Die Aufnahme einer Tätigkeit kann mithin durch ausdrückliche Erklärung oder durch konkludentes Verhalten (BSG, Urteil vom 15.12.2010, Az.: B 14 AS 92/09 R; LSG NRW, Beschluss vom 02.05.2008, Az.: L 7 B 321/07 AS ER) verweigert werden. Bei Verweigerung durch schlüssiges Verhalten muss das dem leistungsberechtigten zurechenbare Handeln oder Unterlassen den hinreichend sicheren Schluss erlauben, dass er eine bestimmte Arbeit nicht ausüben will (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 6. Auflage, § 31 Rdnr. 29).

Ein "Weigern" in diesem Sinne liegt im Falle des Klägers nicht vor. Er hat weder ausdrücklich noch durch sein Verhalten zum Ausdruck gebracht, dass er die ihm angebotene Stelle nicht annehmen will. Der Kläger hat auch nicht durch sein Verhalten die Anbahnung einer Arbeit verhindert. Das "Verweigerungsverhalten" muss seiner Art nach objektiv geeignet sein, das Zustandekommen eines Tätigkeitsverhältnisses zu vereiteln, in Bezug hierauf von einigem Gewicht sein und von dem Leistungsberechtigten zielgerichtet trotz Möglichkeit eines beschäftigungsförderndes Alternativverhaltens zurechenbar eingesetzt worden sein, um einen Abschluss zu vereiteln (vgl. Berlit, a.a.O. Rdnr. 30).

Zur Überzeugung der Kammer steht vielmehr fest, dass sich der Kläger mit Schreiben vom 04.01.2016 bei der Fa. Xxx schriftlich beworben hat. Zum einen ergibt sich dies aus der Tatsache, dass der Kläger im Rahmen seiner Widerspruchsbegründung eine Mehrfertigung dieses Bewerbungsschreibens der Beklagten vorgelegt hat. Zum anderen zeigt dies aber auch das Antwortschreiben der Fa. XXX vom 03.03.2016, mit welchem sich XXX bei dem Kläger für seine Bewerbung bedankt hat und ihm seine Bewerbungsunterlagen zurück geschickt hat. Dass es eine Bewerbung gegeben haben muss, ist deswegen unstreitig.

Soweit die Beklagte dem entgegengehalten hat, es sei nicht nachgewiesen, dass sich der Kläger tatsächlich am 04.01.2016 beworben hat, steht dem die Aussage der Zeugin Xxx in der mündlichen Verhandlung vom 12.12.2017 entgegen. Diese hat bestätigt, dass die Bewerbung am 04.01.2016 in ihrer Wohnung an ihrem Laptop geschrieben und ausgedruckt wurde und anschließend zur nächsten Postfiliale gebracht wurde. Für die entscheidende Kammer ergeben sich keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieser Aussage.

Doch selbst wenn sich der Kläger nicht am 04.01.2016, sondern zu einem späteren Zeitpunkt bei der Fa. XXX beworben haben sollte, führt dies nicht zu einer Pflichtverletzung im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II. Der Vermittlungsvorschlag enthielt lediglich den Hinweis, der Kläger müsse sich "umgehend" bewerben. Bei dem Begriff "umgehend" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der Auslegung zugänglich ist. "Umgehend" bedeutet "so schnell wie möglich". Aus der Sicht eines nichtjuristischen Laien, kann dieser Begriff aber durchaus auch weiter auszulegen sein, sodass auch eine Bewerbung innerhalb von zwei Wochen noch "umgehend" sein kann. Möchte die Beklagte solche Diskussionen umgehen, obliegt es ihr, den Leistungsberechtigten für ihre Bewerbungsbemühungen eine Frist vorzugeben und sie gar zu verpflichten, die Bewerbung mittels Einschreiben zu versenden. Damit ließe sich der Zeitpunkt der Bewerbung konkret bestimmen. Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen.

Ein Pflichtverstoß im Sinne von § 31 Abs. 1 SGB II ist daher nicht nachgewiesen. Die objektive Beweislast für das Vorliegen eines Pflichtverstoßes liegt bei der Beklagten. Der Bescheid vom 22.02.2016 kann daher keinen Bestand haben.

II. Die Entscheidung hinsichtlich der Kosten basiert auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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