L 4 SO 169/16

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 9 SO 18/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 169/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Wird der Geldleistungsanspruch erst in einem Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X festgestellt, so ist für den Beginn der Verzinsung nach § 44 Abs. 2 SGB I auf das Datum des ursprünglichen Leistungsantrages und nicht des Überprüfungsantrages abzustellen.

2. Zur Frage einer konkludenten Ablehnung der Zinszahlung im Bescheid.
I. Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 24. Juni 2016 teilweise dahingehend abgeändert, dass der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 2. Juli 2015 und des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2015 verurteilt wird, an die Kläger als Gesamtgläubiger Zinsen in Höhe von 3,89 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat den Klägern ¼ der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über den Beginn der Verzinsung nach § 44 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I) im Rahmen eines Überprüfungsantrags nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X).

Der Beklagte setzte auf einen Antrag vom 26. April 2013, vervollständigt am 5. Juni 2013, mit Bescheid vom 13. Juni 2013 gegenüber den Klägern Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) für den Monat April 2013 in Höhe von 8,20 EUR (anteilig) und für den Monat Mai 2013 in Höhe von 87,25 EUR fest. Darüber hinaus wies der Beklagte die Kläger darauf hin, dass ihre Wohnung sowohl hinsichtlich der Wohnfläche von 78 qm als auch der Unterkunftskosten mit 540,00 EUR unangemessen sei. Angemessen seien 60 qm und Unterkunftskosten in Höhe von 345,00 EUR. Mit Bescheiden vom 2. Januar 2014, 4. Juli 2014, 30. Juli 2014, 8. September 2014, 8. Oktober 2014, 15. Januar 2015 und 21. Januar 2015 wurden Leistungen für die Folgemonate bewilligt und vorangegangene Leistungsbescheide abgeändert, u.a. wegen veränderter Rentenzahlbeträge. Die Höhe der Leistungen für Kosten der Unterkunft blieb gleich.

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger stellte mit Schriftsatz vom 23. Februar 2015 einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X hinsichtlich der Kürzung der Kosten der Unterkunft, die "bereits mit Bescheid vom 13. Juni 2013 vorgenommen" worden sei. Die vom Beklagten zugrunde gelegten Koordinaten seien veraltet, es fehle ein schlüssiges Konzept.

Mit Bescheid vom 2. Juli 2015 hob der Beklagte auf den Überprüfungsantrag hin "hinsichtlich der Höhe der gewährten Leistungen" die Bescheide vom 2. Januar 2014, 4. Juli 2014, 30. Juli 2014, 8. September 2014, 8. Oktober 2014, 15. Januar 2015 und 21. Januar 2015 nach § 44 SGB X i.V.m. § 116a SGB XII betreffend der Höhe der Leistungen mit Wirkung ab dem 1. Januar 2014 auf und berechnete die Höhe der Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung der geänderten Verhältnisse für die Monate Januar 2014, Juli 2014, August 2014, Januar 2015, Februar 2015 und Juni 2015 in wechselnder Höhe neu. Berücksichtigt worden seien nunmehr u.a. Kosten der Unterkunft in Höhe von 418 EUR.

Ebenfalls mit hier nicht streitgegenständlichem Bescheid vom 2. Juli 2015 hob der Beklagte den Bescheid vom 21. Januar 2015 mit Wirkung ab dem 1. Februar 2015 bezüglich des Klägers zu 1. auf und berechnete die Höhe der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Monate Februar und Juni 2015 neu.

Der Beklagte überwies den Klägern in der Woche nach dem 8. Juli 2015 die sich aufgrund der Neuberechnung ergebenden Nachzahlung.

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger erhob mit Schreiben vom 30. Juli 2015 Widerspruch gegen den Bescheid vom 2. Juli 2015. Der Widerspruch richte sich nicht gegen die dort genannten einzelnen Bewilligungsbeträge. Es sei jedoch versäumt worden, diese auch zu verzinsen. Zinsen stellten eine akzessorische Nebenleistung nach § 44 SGB I dar, weshalb sie zugleich mit der Hauptleistung zu bewilligen seien.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 10. November 2015, dem Prozessbevollmächtigten der Kläger zugegangen am 12. November 2015, zurück. Gehe es um eine antragsabhängige Leistung, beginne die Verzinsung nach § 44 Abs. 2 Hs. 1 SGB I frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger. Ergebe sich ein Nachzahlungsanspruch erst aus einem Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X, sei als "Leistungsantrag" im Sinne von § 44 Abs. 2 SGB I (erst) der Antrag anzusehen, mit dem das Überprüfungsverfahren eingeleitet werde. Der Beklagte verwies auf LSG NRW, Urteil vom 10.06.2013 – L 20 SO 479/12 –, Rn. 35 nach juris.

Die Kläger haben am Montag, den 14. Dezember 2015 Klage erhoben.

Sie haben die Rechtsauffassung vertreten, für den Zinsanspruch sei nach § 44 SGB I auf den Zeitpunkt der Fälligkeit, nämlich auf den Zeitpunkt abzustellen, ab dem der Beklagte hätte leisten müssen. Die Fälligkeit des Anspruchs beginne nicht erst mit der Stellung eines Überprüfungsantrags, sondern mit dem Zeitpunkt, in dem der Kläger einen Anspruch gehabt hätte, wenn der Beklagte rechtmäßig gehandelt hätte. Ferner habe ein Versicherungsträger nach dem Wortlaut des § 44 SGB I über einen etwaigen Zinsanspruch des Leistungsempfängers auch ohne besonderen Antrag von Amts wegen zu entscheiden. Dis entspreche der Rechtsnatur der Zinsen als akzessorischer Nebenleistung (Hinweis auf LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22. März 2010 - L 2 R 68/10). Schließlich sei dem Beklagten auch ohne Antragstellung bewusst, dass er den Klägern zu geringe Leistungen für die Kosten der Unterkunft erbringe, da er kein schlüssiges Konzept habe. Die Kläger haben mit Schriftsatz vom 24. Mai 2016 ihre Anträge für die Forderung für Januar 2014 mit 6,93 EUR, für Juli 2014 mit 7,77 EUR und für August 2014 mit 1,28 EUR beziffert.

Der Beklagte hat vertreten, dass nach der Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen kein Zinsanspruch der Kläger bestehe, insbesondere beginne bei Nachzahlungsansprüchen die Verzinsungspflicht frühestens nach Ablauf von 6 Monaten nach Eingang des Antrags auf Überprüfung nach § 44 SGB I. Das seitens der Kläger angeführte Urteil des LSG Rheinland-Pfalz sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar, da in dem dortigen Fall im Rahmen des Hauptbescheids nicht über die Verzinsung entschieden worden sei. Die Entscheidung sei erst nach erhobenem Widerspruch erfolgt. Im hier zu entscheidenden Fall habe der Beklagte die Verzinsung abgelehnt, weil das Fristerfordernis des § 44 SGB I nicht erfüllt worden sei.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 24. Juni 2016, den Klägern zugestellt am 30. Juni 2016, abgewiesen. Die zulässige Klage sei unbegründet, da der Kläger keinen Anspruch gegenüber dem Beklagten auf Zinsen aus § 44 SGB I habe. Als Leistungsantrag im Sinne von § 44 Abs. 2 SGB I sei (erst) der Antrag anzusehen, mit dem das Überprüfungsverfahren eingeleitet werde. Für die insoweit notwendige Auslegung des § 44 Abs. 2 SGB I sei entscheidend, dass der Nachzahlungsanspruch erst mit Erlass des nach § 44 SGB X ergangenen Bescheides entstanden sei, denn die bis zur Entscheidung über den Überprüfungsantrag geltenden ursprünglichen Entscheidungen über den Leistungsanspruch seien bereits in Bestandskraft erwachsen. Deshalb bestimmten die erst nachträglich mit dem Antrag zur Überprüfung nach § 44 SGB X gestellten Leistungsbescheide bis zur späteren Durchbrechung ihrer Bestandskraft (nach § 44 SGB X) gemäß § 77 SGG für die Beteiligten verbindlich, in welcher Höhe den Klägern gegenüber dem Beklagten Leistungen zugestanden hätten. Diese Lesart des § 44 SGB I entspreche auch dem Normzweck. Die Vorschrift solle dem Betroffenen einen Ausgleich für die verspätete Erfüllung seiner Ansprüche gewähren und zugleich zusätzlicher Ansporn für eine unverzügliche Sachbearbeitung bzw. Zahlung des Sozialleistungsträgers sein. Die abweichende Rechtsauffassung, sei nicht überzeugend. Zwar sei zuzugeben, dass § 44 SGB X eine Durchbrechung der Bestandskraft ex tunc anordne. Mit Blick auf Sinn und Zweck des § 44 SGB I sowie auf den Umstand, dass in dem Zeitraum der Bestandskraft der (erst) nachträglich abgeänderten Bescheide kein Rechtssatz existierte habe, nach welchem den Klägern bereits damals höhere Sozialleistungen zugestanden hätten, erstrecke sich die ex-tunc-Wirkung des § 44 SGB X jedoch nicht auf die Berechnung des Zinsanspruches nach § 44 SGB I. Die Kammer schließe sich daher der zitierten Rechtsauffassung des 20. Senats des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen an. Demzufolge habe die Sechsmonatsfrist erst mit Eingang des Überprüfungsantrags vom 23. Februar 2015 bei dem Beklagten zu laufen begonnen. Der Beklagte habe über den Antrag durch die Bescheide vom 2. Juli 2015 und damit innerhalb der Frist entschieden. Der Beklagte überwies auch innerhalb der Frist den Klägern mit Wochenlauf vom 8. Juli 2015 die sich aufgrund der Neuberechnung ergebenden Leistungen in Höhe von 1.314,00 EUR.

Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.

Die Berufung der Kläger ist am 2. August 2016 bei dem Hessischen Landessozialgericht eingegangen.

Die Kläger neben Bezug auf den bisherigen Vortrag und ergänzen, die Rechtsauffassung des Sozialgerichts führe zu unbilligen Ergebnissen, wenn – wie hier – der Behörde die Umstände, die zur Rechtswidrigkeit ihrer Bescheide führten, von Anfang an bekannt gewesen seien.

Die Kläger beantragen sinngemäß,
unter Aufhebung des Bescheides vom 02. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. November 2015 das Urteil des Sozialgerichts vom 24. Juni 2016 dahingehend abzuändern, den Beklagten zu verurteilen, Zinsen aus der Forderung des Monats Januar 2014 in Höhe von 6,93 EUR, Zinsen aus der Forderung des Monats Juli 2014 in Höhe von 7,77 EUR und Zinsen aus der Forderung für August 2014 in Höhe von 1,28 EUR an die Kläger zu zahlen.

Der Beklage beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er beruft sich auf die angegriffene Entscheidung.

Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 29. Juni 2017 und 26. Juli 2017 mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Berichterstatter hat die Beteiligten mit Verfügung vom 18. September 2017 zur ergänzenden Stellungnahme hinsichtlich einer gesonderten Antragstellung nach dem 5. Juni 2013 aufgefordert; Stellungnahmen sind nicht erfolgt.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

Die Berufung ist zulässig und teilweise begründet.

Die Klage ist zulässig. Das Vorverfahren ist durchgeführt worden. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Kläger im Bescheid vom 2. Juli 2015 eine konkludente Ablehnung der Zahlung von Zinsen erblickt haben, worauf der Beklagte auf den Widerspruch hin formal zutreffend mit einem Widerspruchsbescheid entschieden hat. Zinsen nach § 44 SGB I sind akzessorische Nebenleistungen, weshalb sie zugleich von Amts wegen mit der Hauptleistung zu bewilligen sind (BSG, Urteil vom 11. September 1980 – 5 RJ 108/79 –; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22. März 2010 – L 2 R 68/10 –, juris, Rn. 23 f.). Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob daraus stets folgt, dass das Unterlassen der Entscheidung über den Zinsanspruch auch als konkludente Ablehnung zu verstehen ist (ablehnend im Fall eines offensichtlich nicht bestehenden Zinsanspruchs BSG, Urteil vom 23. Mai 2017 – B 12 KR 6/16 R –, juris Rn. 29). Jedenfalls aber in der vorliegenden Konstellation, in der Leistungsberechtigte allein wegen des Zeitablaufs mit einer Entscheidung über die Zinsen rechnen können und der Bescheid keinen Hinweis auf eine gesonderte Entscheidung über die Zinsen oder sonstige Hinweise darauf enthält, dass es sich nur um eine Teilentscheidung handelt, die die Frage der Zinsen offenlässt, gilt – anders als bei einer unterbliebenen Kostenentscheidung – die Vermutung, dass über das Begehren vollständig entschieden worden ist (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22. März 2010 – L 2 R 68/10 –, juris, Rn. 23 f.).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage teilweise begründet. Die Kläger haben einen Anspruch gegenüber dem Beklagten auf Zinsen aus § 44 SGB I.

Nach § 44 Abs. 1 SGB I sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit vier vom Hundert zu verzinsen. Gemäß § 44 Abs. 2 SGB I beginnt die Verzinsung frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger, beim Fehlen eines Antrags nach Ablauf eines Kalendermonats nach der Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung.

Bei den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt handelt es sich um Geldleistungen. Dass ein Nachzahlungsanspruch bestand, wurde mit Bescheid vom 2. Juli 2015 hinsichtlich dieser Nachzahlung selbst bestandskräftig festgestellt.

Die Anwendung von § 44 Abs. 2 SGB I führt entgegen der Ansicht des Sozialgerichts nicht zu einer Verlagerung des Zeitpunkts des Beginns des zu verzinsenden Zeitraumes. Maßgeblich für den Zinsbeginn nach Ablauf von sechs Kalendermonaten im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB I ist das Datum des Eingangs des vollständigen Leistungsantrages, also der 5. Juni 2013. Mit dem Eingang der weiteren Unterlagen an diesem Tag war der Leistungsantrag zur Überzeugung des Senats vollständig, da aus dem weiteren Verfahrensgang nichts darauf hindeutet, dass zur Bearbeitung weitere Unterlagen oder Angaben erforderlich gewesen wären. Auch aus den Verwaltungsakten ergibt sich für die nachfolgenden Bewilligungszeiträume weder eine Antragstellung noch weiterer Aufklärungsbedarf. Auf die Berichterstatterverfügung vom 18. September 2017 hin sind weder Umstände vorgetragen worden noch sonst erkennbar geworden, die auf eine spätere maßgebliche Antragstellung für nachfolgenden Bewilligungszeiträume hindeuten.

Der hier zu entscheidende Fall, in dem der Leistungsanspruch erst im sog. Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X durch den Sozialhilfeträger festgestellt wird, gibt entgegen der Auffassung des Sozialgerichts keinen Anlass dafür, ausnahmsweise nicht dem Wortlaut entsprechend auf den Leistungsantrag, sondern auf den Überprüfungsantrag abzustellen (wie hier: BSG, Urteil vom 17. November 1981 9 RV 26/81 –, juris Rn. 17 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29. April 2014 - L 2 R 387/13 -, juris Rn. 32 ff.; Bigge, in: Eichenhofer/Wenner, SGB I - SGB IV - SGB X, 2012, § 44 SGB I Rn. 19 f.; Lilge, in: Lilge, SGB I, 4. Aufl. 2016, § 44 Rn. 22, 49; Mrozynski, SGB I, 5. Auflage 2014, § 44 Rn. 13; Schütze, in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 44 Rn. 32; Wagner, in: jurisPK-SGB I, 2. Aufl. Stand: 27. September 2017, § 44 Rn. 31; Bigge, jurisPR-SozR 22/2010 Anm. 3; speziell im Sozialhilferecht zuletzt SG Karlsruhe, Urteil vom 28. Juli 2016 – S 3 SO 3787/15 –, Rn. 23, juris; a.A. LSG NRW, Urteil vom 10. Juni 2013 – L 20 SO 479/12 –, Rn. 35 ff., juris; wohl auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2010 – L 10 R 2516/08 –, juris; offen gelassen von BSG, Urteil vom 26. August 2008 – B 8 SO 26/07 R –, juris Rn. 24).

Zweck und Rechtsfolge des § 44 SGB X belassen keinen Raum für die Auffassung, wonach wegen der zwischenzeitlich bestehenden Bestandskraft auf den Überprüfungsantrag abzustellen sei. Zutreffend weist das Sozialgericht selbst darauf hin, dass § 44 SGB X eine Durchbrechung der Bestandskraft mit Wirkung ex tunc anordnet, und dass sich dies leistungsrechtlich dahingehend auswirkt, dass die Adressaten der Überprüfungsbescheide wirtschaftlich so gestellt werden, als hätten sie Leistungen in der ihnen materiell-rechtlich zustehenden Höhe schon von Anfang an erhalten. Mit der Beseitigung der Bestandskraft ex tunc wird der das Sozialverwaltungsverfahrensrecht beherrschende Grundsatz verwirklicht, dass der materiellen Gerechtigkeit auch für die Vergangenheit Vorrang vor der Rechtsbeständigkeit behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen und damit vor der Rechtssicherheit gebührt (allgemein zu § 44 SGB X: BSG, Urteil vom 11. November 2003 – B 2 U 32/02 R –, juris Rn. 19). Daher kann auch nicht damit argumentiert werden, dass während des Zeitraums der Bestandskraft formal kein Zinsanspruch bestand, weil diese Bestandskraft ja gerade rückwirkend beseitigt wurde. Auf eine "Rechtstreue" während dieses Zeitraums kann sich die Behörde nicht berufen, da sie auch damals zur Korrektur der rechtswidrigen Entscheidung verpflichtet gewesen wäre. Nach einhelliger Ansicht ist Rechtsfolge des § 44 SGB X, dass die Person in den Grenzen des § 44 Abs. 4 SGB X so zu stellen ist, als wäre aufgrund des ersten vollständigen Leistungsantrages ein nicht rechtswidriger Verwaltungsakt ergangen (Bilge, in: Eichenhofer/Wenner, SGB I - SGB IV - SGB X, 2012, § 44 SGB I Rn. 20).

Es ist deshalb nicht ersichtlich, weshalb von der Verwirklichung des Grundsatzes des Vorrangs materieller Gerechtigkeit der Zinsanspruch ausgeklammert bleiben sollte; für eine solche Ausnahme findet sich weder in § 44 SGB X noch in § 44 SGB I ein Anhaltspunkt. Andernfalls trüge die betroffene Person die wirtschaftlichen Folgen dafür, dass bei einem vollständig aufgeklärten Sachverhalt eine Behörde rechtswidrig entscheidet. Bei zutreffendem Verständnis der Tatbestandsvoraussetzung des vollständigen Antrages sind keine schutzwürdigen Belange des Staates erkennbar, die eine solche Risikoverlagerung zu Lasten der sozialleistungsberechtigten Person tragen könnten. Der Zinsanspruch besteht nämlich frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach dem Zeitpunkt, ab dem die antragstellende Person die notwendigen Antragsvordrucke vollständig ausgefüllt und die hierin aufgeführten beizubringenden Unterlagen eingereicht hat, jedenfalls alles Erforderliche getan hat, um dem Leistungsträger die zügige Bearbeitung seines Antrags nach Grund und Höhe zu ermöglichen (vgl. BSG, Urteil vom 31. Januar 2008 – B 13 R 17/07 R –; juris Rn. 12; Lilge, in: Lilge, SGB I, 4. Aufl. 2016, § 44 Rn. 38). Eine Besserstellung über das Zugunstenverfahren gegenüber dem im Erstverwaltungsverfahren erreichbaren Zustand ist damit von vornherein ausgeschlossen.

Dass der Erstantrag auch bei der Verzinsung nach einem Zugunstenverfahren maßgeblich ist, entspricht auch dem Normzweck des § 44 SGB I. Die Vorschrift soll dem Betroffenen – wie vom Sozialgericht zutreffend dargestellt – einen Ausgleich für die verspätete Erfüllung seiner Ansprüche gewähren und zugleich zusätzlicher Ansporn für eine unverzügliche Sachbearbeitung bzw. Zahlung des Sozialleistungsträgers sein (Wagner, in: jurisPK-SGB I, 2. Aufl. Stand: 27. September 2017, § 44 Rn. 10). Dieser Steuerungszweck würde verfehlt, wenn eine Behörde gleichsam dafür belohnt werden würde, dass ihr rechtswidriges Handeln der betroffenen Person während des Laufs der Widerspruchsfrist nicht aufgefallen ist.

Der Anspruch besteht indes nicht in der geltend gemachten Höhe.

Nur der Leistungsanspruch für Januar 2014 (ursprüngliche Bewilligung 100,43 EUR mit Bescheid vom 2. Januar 2014; mit Bescheid vom 2. Juli 2015: 173, 43 EUR) ist in Höhe von 73,00 EUR zu verzinsen. Für die Monate Juli 2014 und August 2014 ergibt sich kein Nachzahlungsbetrag, da die ursprüngliche Bewilligung die Neuberechnung mit Bescheid vom 2. Juli 2015 überstieg. So stand für Juli 2014 der Bewilligung in Höhe von 392, 14 EUR (Bescheide vom 4. und 30. Juli 2014) eine Neuberechnung von 388, 61 EUR gegenüber, im August 2014 der Bewilligung von 81,10 EUR eine Neuberechnung von 77,07 EUR.

Die Kläger sind offenbar fälschlich davon ausgegangen, dass die im Bescheid vom 2. Juli 2015 genannten Beträge die Nachzahlungen und nicht die gesamten neuberechneten Grundsicherungsleistungen sind. Sowohl aus dem Bescheid selbst als auch aus der Anlage ergibt sich aber eindeutig, dass die Ausgangsbescheide insgesamt aufgehoben wurden und die Leistungen komplett neu berechnet wurden. Da die Bescheide hinsichtlich dieser Leistungen bestandskräftig sind, gibt das Verfahren keinen Anlass, die wegen der Aufhebung auch der rechtmäßigen Leistungsgewährung an sich teilweise rechtswidrige Verwaltungspraxis zu beanstanden. Sollte der Beklagte irrig die Beträge komplett ausgezahlt haben, entstünde auch kein höherer Zinsanspruch, da auf den überzahlten Betrag kein "Anspruch auf Geldleistung" i.S.d. § 44 Abs. 1 SGB I bestand.

Zu verzinsen ist der Zeitraum von Februar 2014 bis Juni 2015. Der Anspruch auf die hier bestandskräftig gewährten Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt wurde ebenso wie ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mit Entstehung zum Ersten des Monats fällig. Dies folgt für die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt aus ihrem Zweck zur Sicherung des Lebensunterhalts in dem jeweiligen Monat sowie den Rechtsgedanken der § 41 SGB II und § 41 SGB I (vgl. Coseriu, in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. Stand: 23. März 2017, § 17 Rn. 34.2) sowie für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aus § 44 Abs. 2 SGB XII i.V.m. § 41 SGB I. Der Nachzahlungsbetrag wurde nach unwidersprochen gebliebenen Angaben des Beklagten – die damit Grundlage der Überzeugung des Gerichts sind – im Juli 2015 überwiesen.

Aus dem für Januar 2014 nachgezahlten Betrag folgt ein Zinsanspruch in Höhe von 3,89 EUR (73,00 EUR x 4/100 x 16/12).

Hinsichtlich des Gläubigers des Anspruchs war ebenfalls von der Bestandskraft der Bewilligung der der Zinsforderung zugrunde liegenden Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt auszugehen. Der Bescheid beziffert die Individualansprüche der Beteiligten nicht getrennt, sondern bestimmt nur die Gesamtsumme, weshalb insoweit von einer Gesamtgläubigerschaft beim Zinsanspruch auszugehen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Die Entscheidung folgt der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, an der der für Sozialhilfe zuständige Senat offenbar auch weiter festhalten will (vgl. Terminbericht des BSG Nr. 64/14 vom 18. Dezember 2014). Allein der Umstand, dass dieser Senat des Bundessozialgerichts die hier zu entscheidenden Rechtsfrage zur einmal im Jahr 2008 ausdrücklich offen gelassen hat, begründet keine grundsätzliche Bedeutung, da dies gegenwärtig keine Klärungsbedürftigkeit herstellt.
Rechtskraft
Aus
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