S 10 SO 41/13

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
10
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 10 SO 41/13
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Gewährung von Eingliederungsleistungen für die Durchführung von Gemeinschaftsreisen erfolgt nach pflichtgemäßer Ausübung der Ermessenserwägungen.

2. Die Verweisung auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist dann nicht ermessensfehlerfrei, wenn diese Nutzung aufgrund der körperlichen und geistigen Einschränkungen der Reiseteilnehmer kein geeignetes Mittel ist.
Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern unter Abänderung des Bescheides vom 29.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.5.2013 weitere Leistungen in Höhe von insgesamt 861,00 Euro zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger.

Tatbestand:

Die Kläger begehren die Übernahme weiterer Fahrkosten als Eingliederungsleistung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch für eine im Juni 2012 durchgeführte Gemeinschaftsreise nach H ...

Die Kläger wohnen überwiegend in der Außenwohngruppe "A. Pf." in G., welche von der Prozessbevollmächtigten der Kläger betrieben wird. Drei Kläger leben in einem Wohnheim in D.

Die 1963 geborene Klägerin zu 1) ist geistig behindert mit einem anerkannten Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen "G", "H" und "RF". Der 1958 geborene Kläger zu 2) hat einen anerkannten Grad der Behinderung von 70 vom Hundert. Der 1958 geborene Kläger zu 3) ist geistig behindert mit einem Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen "G" und "H". Die 1983 geborene Klägerin zu 4) ist geistig eingeschränkt. Für sie wurde ein Grad der Behinderung von 80 mit dem Merkzeichen "G" anerkannt. Der 1957 geborene Kläger zu 5) ist geistig behindert. Er hat einen Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen "G" und "H". Für die 1968 geborene Klägerin zu 6) wurde ein Grad der Behinderung von 80 sowie das Merkzeichen "G" anerkannt. Die 1961 geborene Klägerin zu 7) ist geistig behindert mit einem anerkannten Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen "H" und "G". Der 1974 geborene Kläger zu 8) ist geistig behindert und hat einen anerkannten Grad der Behinderung von 80 und das Merkzeichen "G". Für alle Kläger bis auf den Kläger zu 2) ist die Notwendigkeit ständiger Begleitung nachgewiesen und ein "B" im Schwerbehindertenausweis eingetragen.

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger schloss in ihrer Funktion als Trägerin des Wohnheims "A. Pf." am 11.6.2013 mit dem Beklagten eine Vergütungsvereinbarung nach § 75 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch mit einer Leistungsbeschreibung vom 12.4.2013. Über die Vergütungsverhandlungen vom 14.8.2012 wurde ein Protokoll verfasst. Die Unterlagen liegen dem Gericht vor. Die Leistungsvereinbarungen wurden rückwirkend zum Januar 2012 geschlossen.

In dem Protokoll über die Vergütungsverhandlungen zwischen der Prozessbevollmächtigten als Trägerin der Einrichtung und dem Beklagten vom 14.8.2012 ist unter Punkt (3) "Treib- und Schmierstoffe" festgehalten: " [Einrichtungsträger] beantragt insgesamt 6.500,00 Euro, der Wohnverbund hält insgesamt drei VW-Busse und drei PkW vor, die auch von allen Leistungstypen genutzt werden und die Kosten verursachungsgerecht zugeordnet wurden; Das H. ist kaum durch öffentliche Verkehrsmittel (wenn, dann nicht barrierefrei) erreichbar. Praktisch jeglicher Transport ist daher mit Dienstfahrzeugen zu bewältigen. Entsprechend wird auch die Mehrzahl der Treib- und Schmierstoffe verursachungsgerecht dem H. zugerechnet ".

Mit Datum vom 4.6.2012 erließ der Beklagte eine Arbeitshinweis AH 05/2012 (Durchführung von Gemeinschaftsreisen für behinderte Menschen in stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe), der den vorherigen Arbeitshinweis "Rundschreiben Nr. 10/97 (Gemeinschaftsreisen für Behinderte in Heimen)" ersetzen soll. Entsprechend der in dem Arbeitshinweis 05/2012 enthaltenen Randziffer 16 heißt es: " Das Reiseziel der Gemeinschaftsreise soll grundsätzlich so gewählt werden, dass es mit einer unentgeltlichen Bahnfahrt erreicht werden kann." Weiter heißt es: " Folgende Ausnahmen können bei der Bewilligung von Fahrtkosten unter Beachtung von RZ 14 [kostenfreie Beförderung schwerbehinderter Menschen durch die Deutsche Bahn]: häufiges Umsteigen mit langen Zwischenwartezeiten, die für behinderte Menschen unzumutbar sind; Gruppenreise mit überwiegend schwerstbehinderten Menschen, denen auf Grund der Schwere ihrer Behinderung eine (längere) Bahnfahrt nicht zuzumuten ist ". Der Arbeitshinweis ist mit seiner Bekanntgabe in Kraft getreten.

Die Prozessbevollmächtigte der Kläger beantragte am 7.5.2012 beim örtlich zuständigen Landkreis A. die Kostenübernahme für die Durchführung einer Gemeinschaftsreise mit acht Menschen mit Behinderung und zwei Betreuern nach H. für den Zeitraum vom 18.6.2012 bis zum 25.6.2012. Die Bevollmächtigte der Kläger erbat die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie Kosten für die Gepäckbeförderung und die Übernahme der Fahrkosten für die Hin- und Rückreise. Dabei seien Fahrkosten für die Reise mit der Deutschen Bahn in Höhe von 492,40 Euro für acht Erwachsene und die Gepäckkosten in Höhe von 268,80 Euro zu berücksichtigen. Alternativ seien für die Inanspruchnahme eines Busses laut Kostenvoranschlag des Verkehrsunternehmens "D. E." 1.100,00 Euro, der Firma "V." über netto 1.050,00 Euro oder der "H." in Höhe von netto 1.020,00 Euro zu veranschlagen.

Mit Bescheid vom 29.5.2012 gewährte der Landkreis A. als örtlicher Träger der Prozessbevollmächtigte den Klägern für die geplante Gemeinschaftsreise mit den acht Klägern und zwei Begleitpersonen Kosten in Höhe von insgesamt 1.426,60 Euro. Darin enthalten sind die Kosten für Unterkunft und Verpflegung in Höhe von insgesamt 1.073,00 Euro sowie Gepäck- und Fahrkosten in Höhe von insgesamt 352,80 Euro. Dabei wurden Fahrkosten für den Kläger zu 2) in Höhe von 84,00 Euro berücksichtigt, da das Versorgungsamt für ihn keine Merkzeichen anerkannte, die ihn zu einer kostenfreien Nutzung der Züge der Deutschen Bahn AG berechtigten.

Dagegen erhoben die Kläger mit Schreiben vom 12.6.2012 Widerspruch mit der Begründung, die Reise sei mit einem Bus durchzuführen gewesen. Wegen drei Umsteigen auf der Strecke nach H. sei eine Bahnfahrt nicht zumutbar. Ein Teilnehmer leide an Panikattacken. Eine andere Leistungsberechtigte leide an Diabetes, zwei Leistungsberechtigte seien auf psychosoziale Hilfen angewiesen.

Die Kläger führten die Reise mit einem Bus der Firma "H." durch. Die Fahrkosten für diese Reise betragen ausweislich der Rechnung vom 21.6.2012 netto insgesamt 1.020,00 Euro. Das Gepäck der Kläger wurde mit dem Reisebus transportiert.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13.5.2013 mit der Begründung zurück, Reisekosten werden nur in Ausnahmefällen bewilligt. Vorwiegend seien die Züge der Deutschen Bahn AG zu nutzen, da Schwerbehinderte hier kostenfrei reisen dürften. Die Prozessbevollmächtigte der Kläger hätte bei der Planung das Reiseziel so auswählen müssen, dass eine Fahrt mit der Bahn möglich gewesen wäre. Belastungen wie mehrfaches Umsteigen und Wartezeiten sowie die Reisedauer führten nicht dazu, dass solche Reisen für behinderte Menschen unmöglich seien. " Gerade die öffentlichen Verkehrsgesellschaften haben sich auf behinderte Menschen derart eingestellt, dass Reisen möglichst hindernisfrei durchgeführt werden. Bei entsprechender Reiseplanung und vorheriger Anmeldung besteht auch die Möglichkeit, Hilfe beim Umsteigen auf den Bahnhöfen zu erhalten. Darüber wird die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel der Kontakt zu nichtbehinderten Menschen gefördert ". Die Nutzung eines Busses stehe den Klägern dennoch frei. Die Übernahme dieser Kosten sei jedoch nicht gerechtfertigt.

Die Kläger haben Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben.

Sie sind der Auffassung, der Beklagte habe den noch offenen Betrag in Höhe von 936,00 Euro zu tragen. Die Reise hätte ohne Nutzung des hauseigenen Busses nicht durchgeführt werden können. Die Kläger leiden an unterschiedlichen Einschränkungen und Behinderungen, so dass ihnen eine Reise mit der Bahn in dieser Reisegruppenzusammensetzung nicht zuzumuten gewesen sei. Die Klägerin zu 1) sei eine sehr ängstliche und sensible Frau. Sie brauche Zuspruch der Mitarbeiter, wenn sie sich außerhalb ihres gewohnten Umfelds bewegen soll. Ihr fehlt das Gefühl von Sicherheit, das die Mitarbeiter ihr geben müssen. Der Kläger zu 2) sei alkoholkrank. Er sei kein trockener Alkoholiker. In den Bahnhöfen bestehe die Gefahr, dass er sich Alkohol beschafft. Er sei nur teilorientiert. Probleme habe er insbesondere in großen Bahnhöfen, wie Berlin. Er benötige stets Begleitung und Hilfestellung. Der Kläger zu 3) sei neben seiner geistigen Behinderung auch seelisch beeinträchtigt. Er leide unter anderem an Stimmungsschwankungen. Er sei mitunter auch schwer zu motivieren. Dies sei in Stresssituationen, beispielsweise beim Umsteigen, besonders ausgeprägt. Der Kläger zu 3) habe schizophrene Züge. Der Kläger zu 5) sei zeitlich und örtlich nicht orientiert. Hinzu komme, dass er sehr langsam gehe und zwischenzeitlich einfach stehen bleibe oder sich hinsetze. Zudem hat er einen starken Harndrang, dem er unmittelbar nachkommen müsse. Dies würde sich bei einer Bahnreise als sehr schwierig gestalten. Die Klägerin zu 6) leide an einer schweren Diabetes, die ständig überwacht werden müsse. In Stresssituationen könne sich der Zustand verschlimmern. Insbesondere sei sie in Stresssituationen nicht in der Lage, rational zu handeln. Sie werde dann sehr unruhig und sei sehr schnell reizbar. Die Klägerin zu 7) sei zwar in gewohnter Umgebung orientiert; nicht aber in fremder Umgebung. Sie benötige Unterstützung bei den Toilettengängen. Das würde sie auf der Reise nicht alleine schaffen. Im Risikoplan ist insbesondere vermerkt, dass sie Unterstützung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel benötige.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter entsprechender Änderung des Ablehnungsbescheides des Landkreises A. vom 29.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 13.5.2013 zu verurteilen, den Klägern weitere Kosten für eine Gemeinschaftsreise für behinderte Menschen in Höhe von 936,00 Euro zuzüglich vier Prozent Zinsen zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält an seiner Auffassung im Widerspruchsbescheid fest. Die Kläger seien in der Lage gewesen, die Reise mit der Bahn durchzuführen. Dafür waren den Klägern zwei Begleitpersonen zur Seite gestellt. Die Bahnhöfe auf der Reisestrecke seien behindertengerecht ausgebaut. Bei rechtzeitiger Abstimmung könne auf die Hilfen der Bahnhofsmissionen zurückgegriffen werden.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt wird auf die Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Klage ist zulässig und begründet.

Streitgegenständlich ist die Kostenübernahme für die Durchführung einer Gemeinschaftsreise, welche mit streitgegenständlichem Bescheid vom 29.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.5.2012 nicht in voller Höhe erfolgte. Die Kläger sind aktivlegitimiert. Sie sind wirksam vertreten durch die Prozessbevollmächtigte. Die jeweiligen gesetzlichen Betreuer haben ihre Zustimmung zur Durchführung dieses Rechtsstreits erteilt. Die subjektive Klagehäufung ist zulässig.

Die Kläger haben Anspruch auf höhere Leistungen der Eingliederung für die Durchführung einer Gemeinschaftsreise nach Heringsdorf. Der Bescheid vom 29.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.5.2013 ist, soweit durch ihn zu geringe Leistungen gewährt wurden, rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten.

Der Anspruch der Kläger ergibt sich aus § 53 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Danach erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein Mensch behindert, wenn seine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Jeder der Kläger leidet unstreitig an einer Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Die Kläger sind schwerbehindert, da ihr anerkannter Grad der Behinderung mindestens 50 beträgt.

Zwar haben Menschen mit Behinderung keinen gesetzlichen Anspruch auf die Durchführung einer Ferienfahrt. Vielmehr liegt die Entscheidung im Ermessen des Leistungsträgers. Bei einer Ermessensentscheidung ist Rechtswidrigkeit gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechender Weise Gebrauch gemacht ist, § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG. Dem Gericht obliegt dabei lediglich eine Überprüfung, ob Ermessensfehler (Ermessensnichtgebrauch, Ermessensfehlgebrauch, Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung) vorliegen (Castendiek in Lüdtke, SGG, 4. Auflage 2012, § 54, Rz. 95; vgl. u. a. Bundessozialgericht, Urteil vom 19.8.2015 – B 14 AS 1/15 R). Zu differenzieren ist dabei zwischen dem Entschließungsermessen einerseits und dem Auswahlermessen andererseits. Während das Entschließungsermessen das "Ob" der Durchführung der beantragten Reise meint, bezieht sich das Auswahlermessen auf das "Wie", mithin der Wahl des richtigen Mittels zur Durchführung der Reise.

Das Entschließungsermessen hat der Beklagte in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Die Eingliederungsleistungen als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX umfassen insbesondere auch die Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Zu diesen Hilfen gehören nach § 58 Nr. 2 SGB IX auch die Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen. Dazu gehören auch Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nichtbehinderten Menschen, § 58 Nr. 1 SGB IX, mithin Ferienfahrten (vgl. Landessozialgericht – LSG – Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.7.2016 – L 15 SO 73/16 B PKH; Thüringer LSG, Urteil vom 23.5.2012 – L 8 SO 640/09). Mit seiner Entscheidung vom 29.5.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.5.2012 ging der Beklagte davon aus, dass die beantragte Reise diese Voraussetzungen erfüllt. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 29.05.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.5.2013 hat der Beklagte die Durchführung der Reise nach Heringsdorf dem Grunde nach genehmigt. Weder für die Beteiligten noch für das Gericht bestehen Zweifel an der Richtigkeit der Ausübung des Entschließungsermessens.

Das Auswahlermessen war jedoch fehlerhaft.

Der Beklagte trägt zwar vor, die Reise hätte kostengünstiger ausfallen können, wenn die Kläger mit ihren zwei Begleitpersonen den öffentlichen Nahverkehr, sprich die Deutsche Bahn, genutzt hätten. Hierin liegt ein Ermessensfehler. Der Beklagte hat nicht umfassend alle Gegebenheiten beachtet und gegeneinander abgewogen. Zwar ist es durchaus richtig, Wirtschaftlichkeitserwägungen in die Ermessensentscheidung einzubeziehen. Nach §§ 2 und 9 Abs. 2 sowie § 10 Abs. 2 SGB XII muss der Sozialhilfeträger bei mehreren geeigneten Maßnahmen die kostengünstigere Leistung unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit auswählen (Hessisches LSG, a.a.O.). Insoweit ist die Entscheidung des Beklagten nachvollziehbar, wenn er den Klägern nahelegt, die (kostenfreie) Bahnfahrt zu wählen, statt mit einem (kostenverursachenden) Bus zu reisen. Die Entscheidung des Beklagten geht jedoch an einem entscheidenden Punkt fehl. Eine Auswahl des kostengünstigeren Mittels und damit ein Ermessen bestehen nur dann, wenn beide Mittel (Bus und Bahn) gleichermaßen geeignet sind.

Dies ist in dem hier vorliegenden Einzelfall nicht gegeben. Nach den vorliegenden Besonderheiten bei den körperlichen und gesundheitlichen Einschränkungen der Kläger ist die Bahn gerade kein geeignetes Mittel zur Durchführung der Reise nach H ... Dies hat der Beklagte in seiner Ermessensentscheidung fehlerhaft nicht berücksichtigt. Das Gericht folgt der Auffassung der Kläger.

Aufgrund ihrer Behinderungen wäre die Reise der Kläger nach H. mit der Bahn nicht durchführbar gewesen. Unter der Reisegruppe der Kläger waren mindestens zwei Teilnehmer, die nicht oder teilorientiert waren. Sie benötigen nach Überzeugung der Kammer Unterstützung außerhalb ihres Wohnumfeldes und auf großen Bahnhöfen. Dazu zählt auch Berlin, welcher als Umsteigeort auf der Reise mit der Bahn von G. nach H. hätte passiert werden müssen. Zudem hätten die zwei Betreuer einen nicht trockenen Alkoholiker intensiv betreuen müssen, um einen Alkoholkauf zu unterbinden; einen weiteren Reiseteilnehmer mit einem erhöhten Harndrang unterstützen müssen. Zudem hätten die Betreuer eine weitere Teilnehmerin im Blick behalten müssen, dass die für die Kammer nachvollziehbare Stresssituation aufgrund der Diabeteserkrankung nicht zu einer Über- bzw. Unterzuckerung führt. Der Kammer war es nicht vorstellbar, wie diese Reisegruppe mit zwei Betreuern die Umsteige, Ein- und Ausstiege bei einer Reise mit der Bahn unter normalen Gegebenheiten hätten bewältigen können. Erst recht wäre die Reise mit der Bahn nicht durchführbar gewesen, wenn weitere durchaus denkbare Umstände hinzutreten, wie beispielsweise ein defekter Aufzug am Bahnhof, eine defekte behindertengerechte Toilette in der Bahn oder am Bahnhof oder ein verspäteter Zug, der die Umsteigezeit reduziert. Auch in so einer Situation hätten nur zwei Begleiter zur Unterstützung bereit gestanden.

Ohne die Reise mit einem Bus wäre die Reise nicht durchführbar gewesen. Das getroffene Entschließungsermessen hinsichtlich des "Ob" zur Durchführung der Reise läuft ins Leere, wenn die Kläger auf eine Bahnreise verwiesen werden.

Der Beklagte kann dem nicht entgegenhalten, dass die Prozessbevollmächtigte der Kläger die Reisegruppe so zusammensetzen müssen, dass eine kostengünstigere Reise mit der Deutschen Bahn AG hätte durchgeführt werden können. Mit Bescheid vom 29.5.2012 genehmigte der Landkreis A. die Reise dem Grunde nach (verbindliches Entschließungsermessen), mithin auch die Gruppenzusammenstellung. Im Übrigen dürfte es eine grundrechtsrelevante Beeinträchtigung sein, wenn die Bewohner einer Einrichtung für behinderte Menschen nicht mehr selbst entscheiden dürften, mit wem sie im Urlaub verreisen.

Dem Anspruch der Kläger auf Kostenübernahme steht die Vereinbarung, die der Träger der Einrichtung mit dem Land Sachsen-Anhalt nach § 75 SGB XII geschlossen hat, nicht entgegen. Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vergütungsvereinbarung und den Vergütungsverhandlungen am 14.8.2012 und am 12.4.2013 wurde die Reise bereits angetreten und durchgeführt. Das Argument, die Vereinbarungen seien in der Regel rückwirkend auf den Jahresanfang geschlossen worden, schlägt fehl, da bei der Planung der Gemeinschaftsreisen Kenntnis vom Inhalt der Vergütungsvereinbarungen mit dem Träger der Wohneinrichtung erlangt sein muss. Dieser Rechtsgedanke der Warn- und Schutzfunktion, der dem Sozialhilferecht nicht unbekannt ist, muss dem Beklagten hier vorgehalten werden. Offen bleiben konnte daher die Frage, ob der in der Vergütungsvereinbarung festgelegte Betrag in Höhe von 6.500,00 Euro für Treib- und Schmierstoffe auch für die Einrichtung in Großpaschleben gilt und ob dieser Betrag für Ferienfahrten der Bewohner einzusetzen ist.

Gleiches gilt für den aktualisierten Arbeitshinweis. Dieser ist als innere Verwaltungsvorschrift für eine gerichtliche Entscheidung zwar nicht bindend. Dennoch hat sich der Beklagte als überörtlicher Träger der Sozialhilfe an seine eigenen Vorschriften zu orientieren. Für den hier vorliegenden Fall, dass die Reise in dem Zeitraum vom 18.6.2012 bis zum 25.6.2012 stattfand, konnten weder die Kläger noch ihre Bevollmächtigte als Trägerin der Einrichtung Kenntnis von der neuen Verwaltungsvorschrift haben. Der Arbeitshinweis 5/2012 datiert auf den 4.6.2012 und sollte mit seiner Bekanntgabe in Kraft treten. Die Reise traten die Kläger am 18.6.2012, also nach Bekanntgabe des neuen Arbeitshinweises an. Die Kläger hatten nicht die Möglichkeit, ihren Reisewunsch noch abzuändern. Insoweit haben die Kläger glaubhaft vorgetragen, dass kurzfristig die Reise nicht mehr hätte angepasst oder storniert werden können. Im Übrigen dürfte die von den Klägern durchgeführte Reise der in der neuen AH 05/2012 formulierten Öffnungsklausel entsprechen. Auch nach dieser neuen Regelung können Antragsteller nur dann auf die Nutzung der Bahn verwiesen werden, wenn sie als Reisemittel zumutbar ist. Die Zumutbarkeit ist wie oben dargelegt aufgrund der komplexen, unterschiedlich ausgeprägten gesundheitlichen, körperlichen und geistigen Einschränkungen eines jeden Klägers einzeln und in der Gruppenkonstellation zusammen betrachtet, nicht gegeben.

Die Ermessensentscheidung ist auf null reduziert, so dass ein Anspruch der Kläger auf Kostenübernahme des noch offenen Betrages in Höhe von insgesamt 861,00 Euro besteht. Im Rahmen einer Ermessensentscheidung besteht ein Leistungs- und Zahlungsanspruch (und nicht nur ein Anspruch auf erneute Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts), wenn das Ermessen des Beklagten bei der Auswahl der "richtigen" Leistung auf null reduziert ist (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 24.2.2016 – L 4 SO 27/14). Dies ist hier der Fall, da nur die Entscheidung, mit dem Reisebus des günstigsten Anbieters (HAJA Transport GmbH) zu fahren, ermessensfehlerfrei gewesen wäre.

Die Kläger haben für ihre Reise das Transportunternehmen in Anspruch genommen, welches von den drei Kostenvoranschlägen das günstigste Angebot abgegeben hat. Ein kostengünstigeres und geeignetes Mittel gab es nach den Umständen des Einzelfalls zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung nicht. Hinsichtlich der Höhe der Kosten bleibt keine andere Verwaltungsentscheidung denkbar, so dass bei dieser Ermessensreduzierung auf null das Gericht ein Leistungsurteil aussprechen konnte.

Der tenorierte Leistungsumfang errechnet sich wie folgt. Von dem Rechnungsbetrag des Busunternehmens in Höhe von insgesamt 1.213,80 Euro brutto ist der durch den Beklagten gewährte Betrag für die Gepäckkosten und die Kosten für eine Bahnfahrt für einen Kläger in Höhe von insgesamt 352,80 Euro entgegenzurechnen, da das Gepäck nicht gesondert, sondern mit dem Reisebus transportiert worden war. Es verbleibt ein offener Betrag in Höhe von insgesamt 861,00 Euro. Bei der Leistungsberechnung kommt es nicht darauf an, ob der Beklagte die gewährten Leistungen für Gepäck- und Fahrkosten in Höhe vom 352,80 Euro tatsächlich ausgezahlt hat. Dies verbleibt der Abrechnung der Prozessbevollmächtigten gegenüber dem Beklagten auf Sekundärebene vorbehalten. Das Gericht entscheidet lediglich über die zu gewährenden Leistungen auf Primärebene unter Beachtung der mit dem streitgegenständlichen Bescheid gewährten Leistungen. Bezogen auf den der Kläger insgesamt geltend gemachten Betrag in Höhe von 936,00 Euro war die Klage im Übrigen (in Höhe von 75,00 Euro) abzuweisen.

Über die beantragten Zinsen konnte das Gericht mangels vorausgehenden Verwaltungsverfahrens keine Entscheidung treffen, § 44 Erstes Buch Sozialgesetzbuch.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

3. Die Berufung ist nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG für den Beklagten zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 Euro übersteigt. Die Kläger unterliegen mit einem Betrag in Höhe von 75,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von ca. 37,00 Euro; der Beklagte ist in Höhe von 861,00 Euro beschwert.
Rechtskraft
Aus
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