L 18 AS 2586/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 215 AS 15563/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 2586/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. Dezember 2017 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, Gasschulden der Antragsteller in Höhe von 12.888,90 EUR als Darlehen zu übernehmen und den Forderungsbetrag unmittelbar an die GASAG AG zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die einstweilige Anordnung wird davon abhängig gemacht, dass die Antragsteller unverzüglich gegenüber dem Antragsgegner unwiderruflich und schriftlich für die Zeit ab Wiederaufnahme der Gaslieferung für die im Rubrum bezeichnete Unterkunft einer direkten Überweisung der dann anfallenden Abschlagszahlungen an die GASAG AG durch den Antragsgegner aus den bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zustimmen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsteller ist begründet. Ihnen steht ein durch eine gerichtliche Regelungsanordnung iSV § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu sichernder Anordnungsanspruch auf Übernahme der bei der GASAG B (GASAG) aufgelaufenen Gasschulden iHv 12.888,90 EUR (vgl Sperrrechnung vom 24. November 2017) als Darlehen zu.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Abwendung wesentlicher Nachteile zulässig. Der Gesetzgeber hat auf eine beispielhafte Aufzählung der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung verzichtet, denn das Gericht soll ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien eine Einzelfallentscheidung treffen (vgl BTDrucks 14/5943, S 25). Damit begrenzt der Gesetzgeber den einstweiligen Rechtsschutz nicht auf die Beeinträchtigung bestimmter formaler Rechtspositionen, sondern verlangt eine wertende Betrachtung im konkreten Einzelfall. Entsprechend haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in Verfahren des Eilrechtsschutzes zur Übernahme von Energiekostenschulden auch unter Berücksichtigung der Zielsetzung des insoweit einschlägigen § 22 Abs. 8 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) zu prüfen, welche negativen Folgen im konkreten Einzelfall drohen. Daher ist bei der Prüfung, ob neben einem Anordnungsanspruch ein Anordnungsgrund für den Eilrechtsschutz vorliegt, im Rahmen der wertenden Betrachtung zu berücksichtigen, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art eine Unterbrechung der Energieversorgung gerade für den oder die Betroffenen hätte.

Als Anspruchsgrundlage für das Begehren der Antragsteller kommt nur § 22 Abs. 8 SGB II in Betracht. Nach § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II können, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden, auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Es ist allgemein anerkannt, dass vom Regelungsgehalt dieser Vor-schrift nicht nur die Übernahme von Mietschulden, sondern darüber hinaus auch eine Übernahme von sonstigen Schulden – insbesondere auch der hier streitigen Gaskostenrückstände – erfasst werden. Die Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des SGB II-Trägers. Dieses Ermessen verdichtet sich zu einem sogenannten gebundenen Ermessen, wenn die Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II vorliegen. Danach sollen Schulden übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. In diesem Fall sollen Geldleistungen als Darlehen erbracht werden (§ 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II).

Ausgangspunkt dieser Regelung ist der Grundsatz, dass die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes der Deckung eines gegenwärtigen Bedarfes dient. Grundsätzlich werden also im Rahmen von Leistungen nach dem SGB II – ebenso wenig wie im Sozialhilferecht – keine Schulden übernommen. § 22 Abs. 8 SGB II stellt eine Ausnahme von diesem Grundsatz dar. Die Übernahme von Miet- bzw Energiekostenschulden erfolgt aber nicht allgemein zur finanziellen Entlastung des Berechtigten, sondern ausschließlich wegen einer gegenwärtigen drohenden Notlage, nämlich weil sonst der Verlust der Wohnung bzw eine dem Verlust der Wohnung gleichzustellende Sperrung der Energieversorgung eintreten würde. Die Schuldenübernahme muss dementsprechend zur Sicherung der Unterkunft gerechtfertigt und notwendig sein. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen nach § 22 Abs. 8 SGB II erfüllt, wird im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Verpflichtung des SGB II-Trägers zur – regelmäßig - darlehensweisen Übernahme der Schulden nur dann erfolgen können, wenn die zu treffende Ermessensentscheidung für die Antragsteller voraussichtlich positiv ausfallen wird. Bei der gebotenen Ermessensentscheidung sind in einer umfassenden Würdigung alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der Rückstände, ihre Ursachen, der be-troffene Personenkreis, die Frage der Betroffenheit von kleinen Kindern oder kranken und behinderten Menschen, das in der Vergangenheit gezeigte Verhalten und ein erkennbarer Wille zur Selbsthilfe. In dieser Gesamtschau kann es von Bedeutung sein, ob ausnahmsweise die Leistungsberechtigten ein missbräuchliches Verhalten an den Tag gelegt haben. Dieser Umstand könnte uU anzunehmen sein, wenn die Hilfesuchenden ihre Mieten oder Energiekostenabschläge bewusst im Vertrauen darauf nicht zahlen, dass diese später doch vom Leistungsträger darlehensweise übernommen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) tritt bei der Gesamtabwägung nach § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II indes auch ein wirtschaftlich unvernünftiges und vorwerfbares Handeln des Hilfebedürftigen, das die drohende Wohnungslosigkeit mitverursacht haben mag, regelmäßig zurück (vgl BSG, Urteil vom 17. Juni 2010 – B 14 AS 68/09 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 41 – Rn 31). Denn Miet- oder Energiekostenschulden werden in aller Regel durch ein (ggf nicht nachvollziehbares) Fehlverhalten des Leistungsberechtigten entstanden sein und die Regelung zur Schuldenübernahme würde ansonsten leerlaufen. Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie hier - kleine Kinder bzw Minderjährige betroffen sind, weil möglicherweise ein erwachsener Leistungsberechtigter in Ausnahmefällen auf die übergangsweise Nutzung einer Notunterkunft verwiesen werden darf, nicht aber minderjährige Kinder bei einem fehlerhaften Verhalten ihrer Eltern (Krauß in: Hauck/Noftz, SGB II-Kommentar, Stand: Oktober 2012, § 22 Rn 355; Link in: Eicher, SGB II-Kommentar, 3. Auflage 2013, § 22 Rn 242). Etwas anderes kann jedoch gelten in Missbrauchsfällen bei gezielter Herbeiführung von Miet- bzw Energierückständen, wenn es trotz entsprechender Unterstützung in der Vergangenheit wiederholt zu Rückständen gekommen und kein Selbsthilfewille erkennbar ist. Von einem derartigen sozialwidrigen und auch gegenüber ihren Kindern verantwortungslosen Verhalten der Antragsteller zu 1) und 2) geht der Senat im vorliegenden Fall indes nicht aus.

Die Antragsteller zu 1) und 2) haben insoweit vorgetragen, im Jahr 2013 aus G in die im Rubrum bezeichnete Wohnung gezogen zu sein. Sie haben sich zwar bei der GASAG für den laufenden Gasbezug nicht angemeldet, dessen ungeachtet aber über mehrere Jahre Gas bezogen, um ihre Wohnung zu beheizen. Die nach erhobener Duldungsklage erfolgte Gassperre steht einem Verlust der Wohnung gleich (vgl Berlit in LPK-SGB II, 6. Auflage 2017, § 22 Rn 255). Zwar ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht abschließend aufzuklären, weshalb keine Anmeldung bei der GASAG und auch keinerlei Zahlung an den Versorger erfolgten, obwohl die Antragsteller zu 1) und 2) mit den Gepflogenheiten bei der Anmietung einer Wohnung vertraut gewesen sein dürften. Da der Versorger indes selbst erst nach mehr als drei Jahren laufender Bereitstellung von Gas im September 2016 (!) tätig wurde, die Antragsteller kontaktierte und die Begleichung der aufgelaufenen Schulden forderte, kann hier zumindest ein missbräuchliches gezieltes Herbeiführen der Gasschulden den Antragstellern zu 1) und 2) nicht ohne weiteres vorgeworfen werden, zumal nicht ersichtlich ist, dass es in der Vergangenheit schon zur Übernahme von Energieschulden gekommen war. Eine weitergehende Sachaufklärung wird insoweit dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Nach Würdigung des Vorbringens der Antragsteller, die neben dem für die Antragsteller zu 3) bis 5) bezogenen Kindergeld kein Einkommen beziehen und im laufenden SGB II-Leistungsbezug stehen, dürfte auch nicht von verwertbaren Vermögensgegenständen auszugehen sein, die eine Schuldentilgung ermöglichen würden. Das Gewerbe wurde bereits am 4. September 2017 abgemeldet. Von einer Sicherung der bewohnten Unterkunft ist im Übrigen auch im Hinblick auf die Kündigung des Mietverhältnisses bereits im Februar 2017 zumindest für absehbare Zeit auszugehen, weil eine Räumungsklage trotz des beträchtlichen Zeitablaufs bislang nicht erhoben worden ist und zudem selbst im Falle seiner solchen Klage in absehbarer Zeit noch nicht mit einem Auszug bzw einer Räumung der Wohnung zu rechnen ist. Der Heizbedarf fällt jedoch aktuell und bis zum Ende des Winters bzw Frühjahrs an.

Der Senat hat bei der vorzunehmenden Folgenabwägung berücksichtigt, dass der Sicherung einer – gerade im Winter und bei den derzeit herrschenden Außentemperaturen - ausreichend beheizbaren Unterkunft aus verfassungsrechtlichen Gründen zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz ein überragender Stellenwert zukommt. Dies gilt umso mehr, als hier kleine Kinder betroffen sind und die Antragstellerin zu 1) schwanger ist. Bei einer Ablehnung des Antrags bestünde daher die Gefahr gesundheitlicher Beeinträchtigungen und eines nicht mehr rückgängig zu machenden Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit der Antragsteller, die unter dem besonderen Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung steht (vgl Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz). Der Anordnungsgrund ergibt sich dabei ohne weiteres aus der bereits erfolgten Gassperre, die nach den Hinweisen des Versorgers in der Sperrrechnung erst nach einer vollständigen Begleichung der Schulden wieder aufgehoben werde. Eine realistische Annahme, dass die Antragstellerin zu 1) anstelle des Antragstellers zu 2) kurzfristig einen Gasliefervertrag mit einem anderen Versorger abschließen kann und damit die Versorgung mit Gas (wieder) gewährleistet wäre, ist nach den Erkenntnissen des Senats auszuschließen, da in den entsprechenden Antragsformularen (zB online anzufragen bei der S bzw Y ) bei einem Versorgerwechsel explizit der bisherige Versorger und die Zählernummer erfragt werden. In Anbetracht der exorbitanten familiären Gasrückstände bestehen daher nur geringe Aussichten, tatsächlich einen neuen Versorgungsvertrag abschließen zu können. Entsprechende Versuche der Antragsteller sind daher bislang auch erfolglos geblieben (vgl Schriftsatz vom 10. Januar 2018 nebst Anlagen)

Die Übernahme der Gasschulden hat entsprechend § 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II als Darlehen zu erfolgen. In Anwendung von § 22 Abs. 7 Satz 2 und Satz 3 Nr. 2 SGB II war der Antragsgegner zur Zahlung an den Versorger zu verpflichten, weil Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die zweckentsprechende Verwendung durch die Antragsteller, die auch andere Schulden in beträchtlicher Höhe haben, nicht sichergestellt ist.

Die Übernahme der Energiekostenrückständen kann von flankierenden Maßnahmen abhängig gemacht werden, die dem Auflaufen weiterer Rückständen entgegenwirken, zB der Einwilligung in die Direktüberweisung von Vorauszahlungen an das Energieversorgungsunternehmen. Das Gericht macht vorliegend von der in § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 938 Zivilprozessordnung (ZPO) eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, zum Erreichen des Zwecks der Regelungsanordnung diese von einer Mitwirkungshandlung der Antragsteller abhängig zu machen. Die dauerhafte Versorgung mit Heizgas und damit der Erhalt der Wohnung, der Zweck der Schuldenübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II sein muss, kann nur erreicht werden, wenn die Antragsteller bereit sind, einer direkten Überweisung der Abschlagszahlungen an den Gasversorger zuzustimmen und so ein weiteres Verfahren darüber, ob der zuständige Träger dazu auch ohne ihre Zustimmung berechtigt wäre, zu vermeiden. Dadurch werden die Antragsteller zudem zu einem wirtschaftlichen Heizverhalten angesichts ihres in der Vergangenheit ungewöhnlich hohen Verbrauchs angehalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) sind Kosten kraft Gesetzes nicht zu erstatten (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 4 ZPO).

Der Antrag auf Bewilligung von PKH für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes war abzulehnen, weil die Antragsteller auf den ausgeworfenen Kostenerstattungsanspruch gegen den Antragsgegner verwiesen werden können. Gleiches gilt für das erstinstanzliche Verfahren, so dass die PKH-Beschwerde zurückzuweisen war.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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