L 7 AS 512/15

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 10 AS 956/14
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 512/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Anspruch auf Bewilligung von Fahrtkosten zum Schülerpraktikum kann isoliert von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geltend gemacht werden (Anschluss an BSG, Urteil vom 10.09.2013 – B 4 AS 12/13 R, Rn. 14 ff.).
2. Schülern sind die Fahrtkosten im Rahmen eines Schülerpraktikums auch dann zu gewähren, wenn sich der Praktikumsbetrieb außerhalb des Landkreises, in dem der Schüler wohnt, befindet. Für die Auswahl des Praktikumsplatzes ist nämlich grundsätzlich der Schüler verantwortlich. Da Schülerpraktika unter anderem der Vorbereitung und Erleichterung der Berufswahl dienen und ein Beruf nach Fähigkeiten und Neigungen gewählt werden sollte, kommt ein Absolvieren des Praktikums im nächstgelegenen Praktikumsbetrieb nicht in Betracht.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 21. April 2015 abgeändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung seiner Bescheide vom 22. November 2013 und 16. Dezember 2013 und des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2014 verurteilt, dem Kläger Beförderungskosten für das Schülerpraktikum i.H.v. 26,60 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

II. Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.

III. Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers des Rechtsstreits.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Leistungen für Bildung und Teilhabe in Form von Beförderungskosten in Höhe von 51,10 EUR, die dem Kläger im Rahmen eines vom 25.11.2013 bis 06.12.2013 absolvierten Schülerpraktikums entstanden sind.

Dem damals 16-jährigen Kläger und seinen mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Eltern gewährte der Beklagte mit Bescheid vom 25.06.2013 für den Zeitraum vom 01.07.2013 bis 31.12.2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 980,21 EUR monatlich. Er besuchte im Schuljahr 2013/2014 das Y ...-Gymnasium in X ... und nutzte hierzu eine SchülerRegionalKarte des Landkreises Nordsachsen im Wert von 120,00 EUR, für die ihm 115,00 EUR durch den Beklagten erstattet wurden.

Vom 25.11.2013 bis 06.12.2013 absolvierte der Kläger ein Betriebspraktikum, das nach Sächsischem Schulrecht als zweiwöchiges Blockpraktikum verbindliche Schulveranstaltung war. Während dieser Zeit wohnte er in C ... Der Kläger wählte als Praktikumsbetrieb den Deutschen Wetterdienst Niederlassung C ... Der Kläger wandte für eine Einzelfahrkarte (2,90 EUR) und eine Tageskarte (6,00 EUR) zu seinem Vorstellungstermin am 23.11.2013, insgesamt 8,90 EUR, und für zwei Wochenkarten für den Zeitraum vom 25.11.2013 bis 09.12.2013 jeweils 21,10 EUR auf.

Nach einem im Termin der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Leipzig (SG) vom Kläger vorgelegten Ausdruck der Tarifauskunft waren zum damaligen Zeitpunkt Wochenkarten für Auszubildende zum Preis von 15,90 EUR wöchentlich für den Bereich C ... auch für Schüler erhältlich.

Mit Schreiben vom 19.11.2013, ergänzt durch Schreiben vom 12.12.2013, beantragte der Kläger die Erstattung der Fahrtkosten des Schülerpraktikums i.H.v. 51,10 EUR beim Beklagten. Dieser lehnte den Antrag mit Bescheiden vom 22.11.2013 und 16.12.2013 ab. Die Widersprüche wies der Beklagte mit dem dem Kläger am 10.02.2015 bekanntgegebenen Widerspruchsbescheid vom 06.02.2014 zurück.

Sein Begehren hat der Kläger mit der am 10.03.2014 zum Sozialgericht Leipzig (SG) erhobenen Klage weiterverfolgt. Auch Betriebspraktika seien verbindliche schulische Veranstaltungen und damit Schulbesuch im Sinne des § 28 Abs. 4 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Hierfür getätigte Aufwendungen seien daher zu erstatten. Die Schülerbeförderungssatzung des Landkreises Nordsachsen sehe vor, dass bei Leistungsbezug nach dem SGB II ein Ersatz von Schülerbeförderungskosten möglich sei. Zahlreiche andere Gebietskörperschaften, die zum Teil auch in anderen Bundesländern lägen, übernähmen solche Fahrtkosten problemlos.

Das SG hat den Beklagten mit Urteil vom 21.04.2015 unter Abänderung des Bescheides vom 16.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.02.2014 verurteilt, dem Kläger Fahrtkosten zum Schülerpraktikum in C ... in Höhe von 26,80 EUR zu gewähren und im Übrigen die Klage abgewiesen. Gemäß § 28 Abs. 4 SGB II würden bei Schülerinnen und Schülern, die für den Besuch der nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsganges auf Schülerbeförderung angewiesen sind, die dafür erforderlichen tatsächlichen Aufwendungen berücksichtigt, soweit sie nicht von Dritten übernommen würden und es der leistungsberechtigten Person nicht zugemutet werden könne, die Aufwendungen aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Als zumutbare Eigenleistung gelte in der Regel ein Betrag in Höhe von 5,00 EUR monatlich. Der Bedarf für Schülerbeförderung werde anerkannt für den Besuch der nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsganges. Das zweiwöchige Betriebspraktikum sei Schulbesuch im Sinne des § 28 Abs. 4 SGB II. Nach § 12 Abs. 5 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über allgemeinbildende Gymnasien und die Abiturprüfungen im Freistaat Sachsen ermögliche das Gymnasium eine Berufs- und Studienorientierung durch Beratung und Betriebspraktika. Betriebspraktika seien verbindliche Schulveranstaltungen. Sie würden als zweiwöchiges Blockpraktikum in den Klassenstufen 8, 9 oder 10 durchgeführt. Eine Beschränkung auf den stundenplanmäßigen Unterricht sei § 28 Abs. 4 SGB II nicht zu entnehmen. Sie wäre auch zweckwidrig. § 28 SGB II diene ersichtlich dem Zweck, Ausgrenzung und Benachteiligung von Kindern, die in Bedarfsgemeinschaften nach dem SGB II lebten, zu verhindern. Die Förderung beschränke sich gerade nicht auf den Besuch des stundenplanmäßigen Unterrichts. Eine Beschränkung auf – für Inhaber einer Monatskarte ohne zusätzliche Kosten erreichbare – Praktikumsbetriebe im Landkreis Nordsachsen bestehe nicht. Eine Liste von Praktikumsbetrieben sei von der Schule nicht herausgegeben worden. Auch sonst seien örtliche Vorgaben von Seiten der Schule nicht erfolgt. Eine Beschränkung der Praktikumsbetriebe unter Berücksichtigung des Zwecks des Praktikums, der Studien- und Berufsorientierung zu dienen, auf den Bereich des Landkreises Nordsachsen sei lebens- und praxisfern. Die Universitätsstadt C ... mit einer Vielzahl unterschiedlicher Betriebe sei vom Wohnort des Klägers in A ... aus problemlos erreichbar. Es wäre für die betroffenen Schüler schlechthin unverständlich, wenn sie sich bei der Suche nach dem Praktikumsbetrieb auch dann auf den Landkreis beschränken müssten, wenn sie dort keine Tätigkeit fänden, die ihren Interessen entspräche, wohl aber in der kaum weiter entfernten Großstadt. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Gegen das dem Beklagten am 27.04.2015 zugestellte Urteil hat er am 27.05.2015 Berufung beim Sächsischen Landessozialgericht (SächsLSG) eingelegt. Es sei grundsätzlich die Frage zu klären, ob Fahrtkosten zum Schülerpraktikum im Rahmen des § 28 Abs. 4 SGB II erstattet werden könnten, obwohl diese Kosten in der Schülerbeförderungssatzung des Landkreises Nordsachsen gerade nicht aufgeführt seien, weil ein Praktikum nicht zum Regelunterricht gehöre (§ 2 Abs. 2 Schülerbeförderungssatzung). Nach § 23 Abs. 3 Schulgesetz für den Freistaat Sachsen (SchulG) seien der Landkreis oder die kreisfreie Stadt, in deren Gebiet sich die Schule befindet, Träger der notwendigen Beförderung der Schüler auf dem Schulweg bei öffentlichen und staatlich genehmigten Ersatzschulen freier Träger. Der Wortlaut "auf dem Schulweg bei öffentlichen und staatlich genehmigten Ersatzschulen freier Träger" impliziere bereits, dass eine Beförderung zu einem Betriebsort im Rahmen eines Praktikums gerade keine Beförderung im Sinne der Schülerbeförderung darstelle. § 23 Abs. 3 SchulG weise den Landkreisen/kreisfreien Städten nicht nur die Aufgabe der Schülerbeförderung zu, sondern vermittle den Schülern auch das Recht, die Schülerbeförderungspflicht einzufordern. § 23 Abs. 3 SchulG diene nicht nur öffentlichen Interessen, sondern zumindest auch dem Schutz der Individualinteressen des Schülers, seine Schule zumutbar und zu erschwinglichen Kosten zu erreichen. Allerdings seien die Träger auf der Grundlage dessen zur Beförderung nur im "notwendigen" Umfang verpflichtet, wozu sie alle näheren Einzelheiten der Beförderung in einer Satzung regeln dürften. Im Rahmen dessen bestehe ein Gestaltungsspielraum. Wenngleich § 12 Abs. 5 Satz 2 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über allgemeinbildende Gymnasien und die Abiturprüfung im Freistaat Sachsen normiere, dass Betriebspraktika verbindliche Schulveranstaltungen seien, sei festzuhalten, dass es sich hierbei nicht um die Schülerbeförderung im eigentlichen Sinne des § 23 Abs. 3 SchulG handele. Vielmehr seien die Aufwendungen für derartige Praktika einschließlich der Beförderungskosten dem persönlichen Schulbedarf nach § 28 Abs. 3 SGB II zuzuordnen. Der Kläger habe zudem nicht nachgewiesen, dass Bewerbungen bei Betrieben im Landkreis erfolglos geblieben seien, noch dass er überhaupt Arbeitgeber im Landkreis angesprochen hätte. Die Ziele des Praktikums wären auch in Betrieben des Landkreises zu erreichen gewesen. Im Übrigen werde auf das Informationsschreiben der Schule hingewiesen, nach dem sich die Schüler mit dem Angebotsverzeichnis über die im Territorium befindlichen Unternehmen vertraut machen sollten, da diese der Verwaltungsvorschrift entsprächen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 21.04.2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen und

das Urteil des SG Leipzig vom 21.04.2015 abzuändern und die Bescheide des Beklagten vom 22.11.2013 und 16.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.02.2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Fahrtkosten für das Schulpraktikum des Klägers in Höhe von 51,10 EUR zu gewähren.

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 03.08.2015 sinngemäß (Anschluss-)Berufung gegen das Urteil des SG eingelegt. Er erachtet es grundsätzlich für zutreffend. Allerdings seien ihm die vollständigen Beförderungskosten für das Praktikum zu gewähren.

Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte des Beklagten vor.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist teilweise begründet. Daher ist das Urteil des SG abzuändern. Der Beklagte ist unter Aufhebung der Bescheide vom 22.11.2013 und 16.12.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 06.02.2014 zu verurteilen, dem Kläger Fahrtkosten für das Schülerpraktikum in C ... in Höhe von 26,60 EUR zu gewähren. Im Übrigen sind die Klage ab- und die Berufung des Beklagten sowie die Anschlussberufung des Klägers zurückzuweisen.

1. Die Berufung des Beklagten ist gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, weil das SG die Berufung im Urteil zugelassen hat. Sie ist auch im Übrigen zulässig. Die Berufung des Klägers ist nicht innerhalb der Klagefrist des § 87 Abs. 1 SGG beim SächsLSG eingegangen. Ausweislich der Postzustellungsurkunde ist dem Kläger das Urteil am 27.04.2015 zugestellt worden. Die Berufung ist am 11.08.2015 beim SächsLSG eingegangen. Sie stellt daher eine (unselbstständige) Anschlussberufung gemäß § 202 SGG i.V.m. § 524 Zivilprozessordnung (ZPO) dar (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 143 Rn. 5 ff.).

2. Streitgegenstand des Verfahrens sind ausschließlich die Fahrtkosten zum Schülerpraktikum. Der Anspruch auf Bewilligung von Fahrtkosten zum Schülerpraktikum kann nämlich isoliert von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geltend gemacht werden. Das BSG hat im Urteil vom 10.09.2013 – B 4 AS 12/13 R, Rn. 14 ff. entschieden:

Tenor:

"Dieser Anspruch kann isoliert gerichtlich durchgesetzt werden (zu Klassenfahrten nach altem Recht vgl: BSG vom 23.3.2010 - B 14 AS 1/09 R - SozR 4-4200 § 23 Nr 9 RdNr 11; BSG vom 23.3.2010 - B 14 AS 6/09 R - BSGE 106, 78 = SozR 4-4200 § 37 Nr 2, RdNr 9; so auch BSG vom 13.11.2008 - B 14 AS 36/07 R - BSGE 102, 68 = SozR 4-4200 § 23 Nr 1, RdNr 13 und Erstausstattung: BSG vom 19.9.2008 - B 14 AS 64/07 R - BSGE 101, 268 = SozR 4-4200 § 23 Nr 2, RdNr 11; BSG vom 1.7.2009 - B 4 AS 77/08 R - SozR 4-4200 § 23 Nr 4 RdNr 9; BSG vom 27.9.2011 - B 4 AS 202/10 R - SozR 4-4200 § 23 Nr 13 RdNr 11). Durch die Einführung der Bildungs- und Teilhabeleistungen nach § 28 SGB II aufgrund von Art 2 Nr 31 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und Änderung des SGB II und SGB XII ((RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG) vom 24.3.2011, BGBl I 453, mWv 1.1.2011) ist insoweit keine Änderung gegenüber der bisherigen Rechtslage eingetreten. Im Gegenteil: Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischer Zusammenhang sowie Sinn und Zweck der Norm verdeutlichen, dass es sich auch weiterhin um einen abtrennbaren Streitgegenstand handelt. Nach § 28 Abs 1 S 1 SGB II werden Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen neben dem Regelbedarf nach Maßgabe der Absätze 2 bis 7 gesondert berücksichtigt. Sie sind mithin zusätzlich zum Regelbedarf (s auch Thommes in Gagel, SGB II/SGB III, § 28 SGB II, RdNr 2, Stand III/2013; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, § 28 RdNr 5, Stand XII/12) bzw anknüpfend an die Forderung des BVerfG (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 Bvl 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12, RdNr 203) ggf auch ausschließlich zur Gewährleistung des Existenzminimums zu erbringen, wenn nur durch sie allein Hilfebedarf ausgelöst wird (s hierzu § 19 Abs 3 S 3 SGB II). Dies wird in der Begründung zum Entwurf des RBEG/SGBII/SGB XII-ÄndG ausdrücklich unterstrichen, wenn es dort heißt, dass die materielle Ausstattung von Schülerinnen und Schülern für die Teilnahme an schulischen Aktivitäten sowie außerschulischer Bildung durch gesonderte und zielgerichtete Leistungen zu gewährleisten sei. Die Bedarfe seien vorbehaltlich des § 19 Abs 3 S 3 SGB II selbständig zu gewähren (BT-Drucks 17/3404, S 104). Auch die systematische Betrachtung belegt die Möglichkeit der Abtrennbarkeit der Bildungs- und Teilhabeleistungen als eigenständigen Streitgegenstand. Zwar bleiben die Bildungs- und Teilhabeleistungen Bestandteil der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von Kindern und Jugendlichen, also der Maßnahmen zur Sicherung deren Existenzminimums (s hierzu BSG vom 28.3.2013 - B 4 AS 12/12 R - RdNr 44, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR 4-4200 § 20 Nr 18; s auch Luik in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 28 RdNr 8; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, § 28 RdNr 7, Stand XII/12). Sie sind jedoch mit Ausnahme der Leistungen nach § 28 Abs 3 SGB II (persönlicher Schulbedarf) gemäß § 37 Abs 1 S 2 SGB II gesondert zu beantragen. Dies spricht dafür, dass auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers Bildungs- und Teilhabeleistungen eigenständig einklagbar sein sollen. Die Regelung des § 37 Abs 1 S 2 SGB II begründet keine Zweifel an dieser Auslegung. Insoweit folgt der Gesetzgeber lediglich der Rechtsprechung des BSG zur Rechtslage vor dem 1.1.2011. Es hatte eine gesonderte Antragstellung für den persönlichen Schulbedarf nicht für erforderlich gehalten, weil dieses Begehren vom Antrag auf Alg II/Sozialgeld umfasst sei (ausführlich BSG vom 23.3.2010 - B 14 AS 6/09 R - BSGE 106, 78 = SozR 4-4200 § 37 Nr 2, RdNr 14 f). Die Möglichkeit der isolierten Einklagbarkeit entspricht auch dem Sinn und Zweck der Leistungen für Bildung und Teilhabe. Sie sollen dazu dienen, besondere Bedarfslagen bei Kindern und Jugendlichen im Einzelfall und unabhängig von der übrigen Bedarfsgemeinschaft gezielt zu decken (BT-Drucks 17/3404, S 104)." 3. Die Berufung des Beklagten ist teilweise begründet. Die Anschlussberufung des Klägers ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Gewährung von Fahrtkosten in Höhe von 26,60 EUR für das Schülerpraktikum zu.

Gemäß § 28 Abs. 4 SGB II in der vom 01.08.2013 bis 31.07.2016 geltenden Fassung werden bei Schülerinnen und Schülern, die für den Besuch der nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs auf Schülerbeförderung angewiesen sind, die dafür erforderlichen tatsächlichen Aufwendungen berücksichtigt, soweit sie nicht von Dritten übernommen werden und es der leistungsberechtigten Person nicht zugemutet werden kann, die Aufwendungen aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Als zumutbare Eigenleistung gilt in der Regel ein Betrag in Höhe von 5,00 EUR monatlich.

a) Der Kläger war im streitigen Zeitraum Schüler des Y ...-Gymnasiums X ... Hierbei handelt es sich für den Kläger um die nächstgelegene Schule des gewählten Bildungsganges. Das steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der übereinstimmenden Stellungnahmen der Beteiligten in ihren Schriftsätzen jeweils vom 06.11.2017 fest.

b) Auch während des Absolvierens des zweiwöchigen Betriebspraktikums vom 25.11.2013 bis 06.12.2013 besuchte der Kläger die nächstgelegene Schule des gewählten Bildungsganges im Sinne des § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB II. Im Rahmen des Besuches der nächstgelegenen Schule steht es Schülern frei, einen Praktikumsbetrieb im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen auszuwählen und ihr Praktikum dort zu absolvieren. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei den Schülerbeförderungskosten gemäß § 28 Abs. 4 SGB II um die zum nächstgelegenen Praktikumsbetrieb handeln müsste. Nach der Intention des § 12 Abs. 5 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über die allgemeinbildenden Gymnasien und die Abiturprüfung im Freistaat Sachsen vom 27.06.2012 (Schulordnung für Gymnasien) soll das Praktikum die Schüler befähigen, Entscheidungen zum Übergang in das Erwerbsleben zu treffen.

Nach § 12 Abs. 5 der Schulordnung für Gymnasien ermöglicht das Gymnasium eine Berufs- und Studienorientierung durch Beratung und Betriebspraktika. Betriebspraktika sind verbindliche Schulveranstaltungen. Sie werden als zweiwöchiges Blockpraktikum in den Klassenstufen 8, 9 oder 10 durchgeführt. Nach Ziffer III.2.1. der Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus zur Durchführung von Betriebspraktika im Freistaat Sachsen vom 03.03.2009 (VwV Betriebspraktika) sollen Betriebspraktika den Schülern die Möglichkeit bieten, die Berufs- und Arbeitswelt unmittelbar kennenzulernen und dadurch die Berufswahl zu erleichtern. Sie sind damit Bestandteil einer kontinuierlichen und systematischen Berufsorientierung. Gemäß Ziff. III Nr. 2 der genannten VwV sind sie verbindliche Schulveranstaltungen. Nach Ziff. III 1. VwV Betriebspraktika sind für die Auswahl des Praktikumsplatzes grundsätzlich die Schüler verantwortlich. Das Praktikum kann gemäß Ziff. III Pkt. 2. VwV Betriebspraktika in Betrieben der Industrie, des Handwerks, des Handels und Verkehrs, der Landwirtschaft, des Dienstleistungs- und Versorgungsektors, der Stellen der öffentlichen Verwaltung und in sozialen Einrichtungen, außer in datenschutzrechtlich besonders relevanten Bereichen (z. B. Personalreferate, Polizei, Sozialbehörden), abgeleistet werden. Gemäß Ziff. IV Pkt. 5. soll jeder Schüler während seiner Schulzeit mindestens ein Betriebspraktikum ableisten.

Da ein Beruf nach Fähigkeiten und Neigungen gewählt werden sollte, kommt ein Absolvieren des Praktikums im nächstgelegenen Praktikumsbetrieb nicht in Betracht. § 28 SGB II dient dem Zweck, Ausgrenzung und Benachteiligung von Kindern aus Bedarfsgemeinschaften nach dem SGB II zu verhindern. Eine Beschränkung auf Praktikumsbetriebe im Landkreis bzw. dem Wohnort der Kinder sieht § 28 Abs. 4 SGB II nicht vor und wäre auch im Hinblick auf den Zweck des Praktikums, der Studien- und Berufsorientierung, zweckwidrig. Die Universitätsstadt C ... mit einer Vielzahl unterschiedlicher Betriebe ist vom Wohnort des Klägers in A ... 20 km entfernt und problemlos erreichbar. Sie befindet sich vom Wohnort des Klägers im Tagespendelbereich. In der heutigen Berufswelt wird von den Beschäftigten Flexibilität erwartet. Selbst Hilfebedürftigen ist jede Arbeit im Bundesgebiet gemäß § 10 SGB II zumutbar. Angesichts dessen kann die Wahl des Praktikumsbetriebs nicht auf den Landkreis beschränkt werden.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Kläger eine Liste der ausschließlich möglichen Praktikumsbetriebe zur Verfügung gestellt worden wäre. Nach den glaubhaften Einlassungen des Klägers vor dem SG und dem Senat hat der Kläger vor Absolvierung des Praktikums keine Liste von Praktikumsbetrieben erhalten. Seine Einlassungen decken sich mit der schriftlichen Aussage seiner Eltern im Schriftsatz vom 20.08.2014.

c) Eine Beschränkung der Aufwendungen für Schülerbeförderung auf den stundenplanmäßigen Unterricht ist § 28 Abs. 4 SGB II nicht zu entnehmen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Verweis von Leopold (in Schlegel/Voelzke, Juris-PK SGB II, 4. Aufl. 2015, Rn. 104) auf das Urteil des SG Stade vom 06.12.2011 (S 28 AS 740/09, Juris, Rn. 24). Beide beschäftigen sich lediglich mit der Erstattung von Arbeitsmaterialien für Schülerpraktika gemäß § 28 Abs. 3 SGB II. Für Beförderungskosten ist jedoch § 28 Abs. 4 SGB II lex specialis zu § 28 Abs. 3 SGB II.

d) Die Kosten der Beförderung zum Schülerpraktikum werden auch nicht von einem Dritten übernommen (§ 28 Abs. 4 Satz 1 SGB II). Die Schülerbeförderungskosten werden nämlich nicht vom Landkreis Nordsachsen getragen. Nach § 23 Abs. 3 SächsSchulG, gültig vom 10.08.2004 bis 15.05.2017, ist der Landkreis Träger der notwendigen Beförderung der Schüler auf dem Schulweg bei öffentlichen Schulen. Dieser regelt Einzelheiten durch Satzung. Nach § 2 Abs. 2 der Satzung des Landkreises Nordsachsen werden Schülerbeförderungskosten für Schülerpraktika nicht übernommen.

e) Für den Kläger waren Kosten in Höhe von 26,60 EUR erforderlich im Sinne des § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB II. Die übernahmefähigen Kosten werden dadurch begrenzt, dass die Schüler das kostengünstigste Verkehrsmittel und die kostengünstigste Reisemöglichkeit wählen müssen (Voelzke, a.a.O., Rn. 69; Burkiczak in Estelmann, SGB II, Stand: 10/2017, § 28 Rn. 84). Die Erforderlichkeit ist ein gerichtlich voll überprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff (vgl. Bundesverfassungsgericht, 31.05.2011 – 1 BvR 857/07, Juris, Rn. 70 ff.). Er enthält regelmäßig das Element der Geeignetheit und das Element der Verhältnismäßigkeit, letzteres im Bereich der Leistungsverwaltung auch in der Ausprägung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (Luik in Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 28, Rn. 35).

Erforderlich in diesem Sinne war unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit die kostengünstigste Variante. Ausweislich der Auskünfte der MDV GmbH vom 30.10.2017 und 27.11.2017 sowie der Anlage zum Schriftsatz der Klägerseite vom 06.11.2017 war die kostengünstigste Möglichkeit während des zweiwöchigen Praktikums, während der der Kläger ausweislich der glaubhaften Einlassung seines Vertreters in der mündlichen Verhandlung in C ... wohnte und zum Deutschen Wetterdienst Niederlassung C ... fuhr, die Nutzung einer Wochenkarte Azubi Tarifzone C ... für 15,90 EUR. Für zwei Wochen fielen folglich 31,80 EUR an.

Zum Vorstellungsgespräch am 23.11.2013, zu dem der Kläger aus seinem Heimatort A ... anreiste, benötigte er ausweislich der Auskünfte der MDV vom 27.11.2017 und 30.10.2017 neben der für ein Schuljahr geltenden SchülerRegionalKarte für den gesamten Landkreis Nordsachsen, deren Kosten der Beklagte mit Bescheid vom 01.08.2013 bis auf den Eigenanteil von 5,00 EUR übernommen hatte, als preiswerteste Variante zwei Einzelfahrkarten für C ... für jeweils 2,40 EUR. Erforderlich i.S.d. § 28 Abs. 4 SGB II waren daher Fahrtkosten für das Schülerpraktikum einschließlich des Vorstellungsgesprächs i.H.v. 36,60 EUR.

f) Dem Kläger war es nicht zumutbar, mehr als 5,00 EUR monatlich der Beförderungskosten aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Zur Konkretisierung der zumutbaren Eigenleistung hat der Gesetzgeber ab 01.08.2013 eine Regelung in § 28 Abs. 4 Satz 2 SGB II aufgenommen. Danach gilt als zumutbare Eigenleistung ein Betrag in Höhe von 5,00 EUR monatlich (Voelzke in Haugk/Nofz, SGB II, Stand: 10/2017, § 28 Rn. 67c; Burkiczak in Estelmann, SGB II, Stand: 10/2017, § 28 Rn. 85; Lenze in LPK-SGB II, 6. Aufl., § 28 Rn. 22). Die Einführung eines regelmäßig zu beachtenden Betrages ist mit Rücksicht darauf erfolgt, dass sich die Ableitung des zumutbaren Eigenbetrages aus der EVS als insgesamt ausgesprochen verwaltungsaufwendig erwiesen hatte. Der nunmehr gesetzlich vorgesehene Wert von 5,00 EUR soll eine gleichmäßige Handhabung sichern und dem Kriterium der Zumutbarkeit in angemessenem, aber auch ausreichendem Umfang Rechnung tragen. Der Durchschnittswert von 5,00 EUR ist aus der Erfahrungspraxis der kommunalen Träger abgeleitet (BT-Drucks. 17/12036 S. 7; Voelzke, a.a.O.). Anhaltspunkte für ein Abweichen von diesem Betrag sind vorliegend nicht gegeben.

Daher beträgt der Eigenanteil für die Monate November und Dezember 2013 jeweils 5,00 EUR, mithin insgesamt 10,00 EUR. Der Eigenanteil war für diese Monate ausweislich der Stellungnahme des Beklagten vom 16.11.2017 auch nicht bereits für andere Fahrtkosten berücksichtigt worden. Das wird bestätigt durch die Anlage zum Schriftsatz der Klägerseite vom 19.11.2017. Danach hat der Kläger seine für ein Schuljahr geltende SchülerRegionalKarte für den gesamten Landkreis Nordsachsen im Sommer 2013 erworben und hierbei einmalig einen Eigenanteil von 5,00 EUR berücksichtigt.

Nach alledem ist das Urteil des SG abzuändern.

5. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich die Antwort aus der gesetzlichen Regelung des § 28 Abs. 4 SGB II SGB II i.V.m. § 12 Abs. 5 der Schulordnung für Gymnasien ergibt (vgl. BSG, Beschluss vom 22.07.2013 – B 9 SB 15/13 B, Rn. 15; BSG, Beschluss vom 14.08.1981 – 12 BK 15/81, Rn. 2; BSG, Beschluss vom 30.03.2005 – B 4 RA 257/04 B, Rn. 8).
Rechtskraft
Aus
Saved