L 15 AY 15/14

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 50 AY 28/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 AY 15/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2014 und der Bescheid des Beklagten vom 29. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 2011 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 29. November 2010 bis zum 31. Dezember 2010 weitere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von 7,65 Euro für den Monat November 2010 und von 114,68 Euro für den Monat Dezember 2010 zu gewähren. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ohne Kürzung ab dem 29. November 2010 bis - nach Teilvergleich nur noch - 31. Dezember 2010, wobei der Beklagte die Kürzung vorgenommen hat, weil er davon ausgeht, dass der Kläger eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen.

Der in B 1971 geborene, also jetzt 46 Jahre alte Kläger ist Palästinenser, dies wurde von der libanesischen Regierung gegenüber der Ausländerbehörde Berlin bzw. der Deutschen Botschaft in Beirut im Jahr 1997 bestätigt. Auch die Generaldelegation Palästinas in der Bundesrepublik Deutschland bestätigte dies am 24. November 2003. Der Kläger lebte als palästinensischer Flüchtling im Libanon. Er reiste - nach eigener Angabe - am 25. Juli 1996 nach Deutschland ein. Im Fragebogen zum Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung von August 1996 ist zu der Frage (Nr. 24), aus welchen Mitteln der Lebensunterhalt bestritten wird, etwas Unleserliches angegeben, was sich wie "Silsolamt" oder "Sitsalamt" liest. Weiter sind die Worte "Kein Geld" als Antwort auf diese Frage durchgestrichen. Die Frage Nr. 23 bzgl. der beabsichtigten Dauer des Aufenthalts in Deutschland wurde mit "10 - Jara" oder "Java" beantwortet. Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts vor dem Landessozialgericht vom 11. Oktober 2017 hat der Dolmetscher bestätigt, dass sich in diesem Fragebogen keine Fragen in arabischer Sprache finden.

In dem Antrag auf Sozialhilfe beim Bezirksamt Neukölln vom 4. Dezember 1997 ist angegeben, dass der Kläger als höchsten allgemeinen Abschluss Abitur habe. In einem Erörterungstermin vor dem Landessozialgericht am 11. Oktober 2017 hat er angegeben, dass dies nicht zutreffe und er dies auch nicht geschrieben habe. Der Kläger bezog zunächst Leistungen nach dem AsylbLG vom Bezirksamt Spandau und wohl ab Dezember 1997 Leistungen vom Bezirksamt Neukölln. Gemäß Bescheid vom 26. Juli 1999 erhielt der Kläger Leistungen nach § 3 Abs. 1 und 2 AsylbLG. Am 1. Januar 2000 ging die Zuständigkeit auf das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf über.

In den Akten des Beklagten findet sich der "Fragebogen für Antragsteller nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)", der vom Kläger wohl am 31. Januar 2000 unterschrieben wurde. Darin war die Frage 7.: "Warum haben Sie Ihr Heimatland verlassen und warum sind Sie nach Deutschland gekommen?" folgendermaßen beantwortet: "weil ich als Palastininser staatenlos im libanon und hoffe ich daß in Deutschland mein Zukunft aufbauen kann". Zu Frage 9.: "Wovon haben Sie Ihren Lebensunterhalt in der Heimat bestritten und wovon wollten Sie hier Ihren Lebensunterhalt bestreiten?" ist angegeben: Oberhalb der Frage: "Ich habe Mit Meinem famiele gelebt, und Ich War Student" und unterhalb der Frage "von Sozialhilfe". Der Fragebogen ist außer in Deutsch auch noch in einer anderen, wohl einer slawischen Sprache gehalten.

Der Kläger erhielt weiter Leistungen nach § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AsylbLG.

Am 5. Mai 2002 stellte der Kläger einen Antrag auf Bewilligung von Analogleistungen gemäß § 2 AsylbLG analog Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 5. Juni 2002 abgelehnt mit der Begründung, der Kläger werde wegen Passlosigkeit geduldet. Passlosigkeit stelle ein tatsächliches Ausreisehindernis dar. Von daher bestünde kein Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG. Der gegen diesen Bescheid erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29. August 2002 zurückgewiesen.

In den Ausländerakten findet sich die Bestätigung der Generaldelegation Palästinas vom 24. November 2003, wonach dem Kläger kein Reisedokument ausgestellt werden konnte.

Weitere Anträge auf Analogleistungen wurden mit Bescheiden vom 10. April 2003, 6. Februar 2004, 17. März 2004 und 24. September 2004 abgelehnt.

Am 30. Mai 2006 wurde dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (§ 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz - AufenthG -) erteilt, die mehrfach verlängert wurde, so auch am 24. November 2010 bis zum 27. November 2013.

Mit Bescheid vom 15. September 2006 bewilligte der Beklagte ab Juni 2006 Analogleistungen gemäß § 2 AsylbLG, aber abgesenkt unter analoger Anwendung des § 23 Abs. 3 SGB XII (a.F.). Die Leistungen waren der Höhe nach analog § 3 Abs. 1 und 2 AsylbLG festgesetzt (also gekürzt). Der Kläger sei nachweislich nach Deutschland gekommen, um Sozialhilfe zu erlangen. Aus diesem Grund habe er keinen Anspruch auf Leistungen. Im Ermessen werde eine gekürzte Leistung bewilligt.

Im weiteren Verlauf stellte der Kläger noch mehrere Anträge auf Bewilligung von ungekürzten Leistungen bzw. auf Überprüfung bestandskräftiger Bescheide, die sämtlich vom Beklagen abgelehnt wurden.

Mit Bescheid vom 29. November 2010 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen für November 2010. Es wurde eine Kürzung um 114,68 Euro monatlich vorgenommen. Eine Begründung für die Kürzung wurde nicht gegeben. Am 10. Dezember 2010 beantragte der Kläger volle Leistungen nach § 2 AsylbLG. Diesen Antrag sah der Beklagte als Widerspruch gegen den Bescheid vom 29. November 2010 an. Mit Eingang am 14. Dezember 2010 erhob auch der Prozessbevollmächtigte des Klägers gegen den Bescheid vom 29. November 2010 Widerspruch. Der Kläger sei nicht nach Deutschland eingereist, um hier von Sozialhilfe zu leben. Bei der Frage der Ausländerbehörde, wovon er lebe, habe er wahrheitsgemäß geantwortet, von Sozialhilfe zu leben. Im Übrigen habe die Norm Sanktionscharakter. Der Kläger könne nicht in den Libanon zurückkehren, da er dort als staatenlos gelte. Insoweit liege es nicht in seiner Macht, in den Libanon zurückzukehren.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24. März 2011 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger sei eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen. Die staatliche Sicherung des Lebensunterhaltes sei ihm offensichtlich bekannt gewesen, da sein Bruder bereits zum Zeitpunkt seiner Einreise in Deutschland gelebt habe. Die Einreise nach Deutschland sei nach dem Ende des Bürgerkrieges im Libanon erfolgt. Nach der Einreise sei kein Asylantrag gestellt worden. Die Leistungen nach dem AsylbLG seien allerdings unmittelbar nach der Einreise beansprucht worden. Da der Kläger keine Sprachkenntnisse habe aufweisen können und keine Arbeitserlaubnis besessen habe, sei er nicht in der Lage [gewesen], seinen Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit zu sichern und sei dies immer noch nicht. Genau aus diesem Grund seien die Leistungen mit dem bereits bestandskräftigen Bescheid vom 15. September 2006 nach § 2 AsylbLG in Verbindung mit § 23 Abs. 3 SGB XII am Anfang der Rechtsanwendung des SGB XII als unabweisbar gebotene Hilfe gewährt worden. Die vorgenommene Kürzung des Regelsatzes auf die Höhe der Grundleistung nach § 3 AsylbLG sei mit dem vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland begründet und decke somit den notwendigen Lebensunterhalt. Die Einreisemotive seien unter die Analogregelung des § 23 Abs. 3 SGB XII zu subsumieren. Anderenfalls wäre der Kläger gegenüber den Ausländern, die nach SGB XII leistungsberechtigt seien und sich wegen des Leistungsbezuges in das Bundesgebiet begeben hätten, unbegründet bevorzugt.

Es werde berücksichtigt, dass der Ausreise des Klägers nicht unerhebliche Hindernisse entgegenstünden und der Aufenthalt hier voraussichtlich noch von längerer Dauer sein werde. Daher erhalte der Kläger im Wege des pflichtgemäßen Ermessens die Leistungen, welche den unabdingbar notwendigen Bedarf des Lebensunterhaltes in Höhe der analogen ungekürzten Leistungen nach § 3 AsylbLG für die Dauer des notwendigen Aufenthaltes abdeckten.

Mit der am 18. April 2011 bei dem Sozialgericht Berlin eingegangenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Der Beklagte habe den Tatbestand der Einreise zum Zweck des Sozialhilfebezuges nachzuweisen. Er habe bisher keine Nachweise erbracht, die seine Vermutung, die Einreise sei zum Zweck des Leistungsbezuges erfolgt, stützen könnten. Der Kläger sei eingereist, um hier zu studieren und weil im Libanon Bürgerkrieg geherrscht habe. Eine Rückreise sei ihm als staatenloser Palästinenser nicht möglich. Für eine analoge Anwendung des § 23 Abs. 3 SGB XII bestehe kein Raum, weil § 2 AsylbLG eine Zugunstenregelung für Asylbewerber vorsehe, die nicht ausreisen könnten. Die Einreisegründe seien dabei nicht geregelt worden, obwohl dies dem Gesetzgeber freigestanden habe. Der Beklagte stütze die Kürzung auf eine analoge Anwendung des § 23 Abs. 3 SGB XII, obwohl eine solche Regelung in § 2 Abs. 1 AsylbLG zu Ungunsten des Betroffenen nicht vorgesehen sei. Eine gesetzliche Grundlage sei mithin nicht erkennbar.

Der Beklagte hat ausgeführt, der Kläger habe bei der Einreise nach Deutschland gegenüber der Ausländerbehörde und gegenüber dem Bezirksamt Neukölln übereinstimmend angegeben, dass er seinen Lebensunterhalt von Sozialhilfe bestreiten wolle. Der Bürgerkrieg habe nur bis 1990 gedauert. Der Bruder des Klägers, der 1996 bereits in Berlin gelebt habe, habe diesem offensichtlich die sozialen und wirtschaftlichen Hilfen in Deutschland geschildert. § 2 Abs. 1 AsylbLG sei keine Rechtsfolgen-, sondern eine Rechtsgrundverweisung, so dass auch § 23 Abs. 3 SGB XII zur Anwendung kommen könne.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat erwidert, auch er gehe davon aus, dass eine analoge Anwendung von § 23 Abs. 3 SGB XII möglich sei. Die Voraussetzungen lägen jedoch beim Kläger nicht vor. Die Norm sanktioniere ein unerwünschtes Zuzugsverhalten für Drittstaatsangehörige, denen eine Ausreise möglich und zumutbar sei. Bei einer analogen Anwendung müsse beachtet werden, dass eine zeitlich unbegrenzte Anwendung auf solche Drittstaatsangehörige nicht vorzunehmen sei, denen eine Ausreise gar nicht möglich sei. Eine zeitlich unbegrenzte Anwendung führe zu einer Einschränkung des Existenzminimums auf Dauer, die nicht hinnehmbar sei. Dies sei zumindest dann verfassungskonform zu begrenzen, wenn eine Ausreise unverschuldet gar nicht möglich sei. Die Befragung durch den Beklagten am 31. Januar 2000 bzw. die diesbezüglichen Übersetzungsfehler gingen nicht zu Lasten des Klägers. Der Beklagte habe den Kläger damals befragt, wovon er seinen Lebensunterhalt bestreite und nicht, weshalb er eingereist sei.

Während des erstinstanzlichen Verfahrens sind in der Zeit von September 2011 bis Juli 2013 mehrere Bescheide ergangen, die auf Grund des Teilvergleichs hier nicht mehr streitgegenständlich sind.

Mit Urteil vom 10. Juni 2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Streitgenstand sei die Gewährung ungekürzter Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ab dem 29. November 2010. Gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) seien Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung die Bescheide vom 29. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 2011 in der Fassung der Bescheide vom 13. September 2011, 21. September 2011, 30. Mai 2012, 14. September 2012, 20. März 2013, 18. Juni 2013 und 18. Juli 2013.

Die Klage sei unbegründet. Die Voraussetzungen des § 2 AsylbLG seien erfüllt. Unstreitig sei, dass der Kläger seinen Aufenthalt nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst habe. § 23 Abs. 3 SGB XII sei jedoch analog anwendbar. Der Kläger sei eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen. Das Sozialgericht hat gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf den Widerspruchsbescheid verwiesen und ergänzend ausgeführt, der Beklagte habe den Beweis erbringen können durch die Antworten in den Fragebögen der Ausländerbehörde und des Bezirksamts Neukölln. Der Kläger habe sich nicht überzeugend darauf berufen können, er habe alles, was er selbst geschrieben und unterschrieben habe, nicht verstanden. Immerhin sei er bei Abgabe dieser Erklärung schon einige Jahre in Deutschland und dem Grunde nach der deutschen Sprache mächtig gewesen, jedenfalls soweit um deutlich zu machen, dass er die Fragen gar nicht verstehe und Hilfe beim Übersetzen brauche. Da sich hierfür überhaupt kein Anhalt finde, müsse davon ausgegangen werden, dass er sehr wohl verstanden habe, was er da antworte. Auch handele es sich beim Kläger nach seinen Angaben um einen Studenten, also durchaus nicht um eine bildungsferne Person. Es sei aus dem Gesamtzusammenhang ersichtlich, dass er nicht meinte, im Libanon als Student von Sozialhilfe gelebt zu haben, sondern sich die Antwort auf sein zukünftiges Leben in Deutschland bezogen habe. In seinem Herkunftsland gebe es ein vergleichbares Sozialsystem gar nicht.

Auch sei die Argumentation des Beklagten überzeugend, dass im Gespräch mit der Ausländerbehörde am 29. Juli 2004 Bezug genommen worden sei auf den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung vom 30. August 1996, mit dem eine Duldung für 10 Jahre beantragt worden sei. In diesem Antrag habe der Kläger angegeben, am 25. Juli 1996 eingereist zu sein, um hier zehn Jahre verbleiben zu wollen und den Lebensunterhalt aus "Sozialamt" zu bestreiten, da "kein Geld".

Die Anwendung des § 23 Abs. 3 SGB XII sei auch dauerhaft möglich, da der deutsche Staat auch nach Jahren ein sozialschädliches Verhalten nicht dulden müsse.

Gegen das am 30. Juli 2014 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22. August 2014 Berufung bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Die Begründung entspricht im Wesentlichen dem erstinstanzlichen Vortrag.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2014 und den Bescheid des Beklagten vom 29. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 2011 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, für die Zeit vom 29. November 2010 bis zum 31. Dezember 2010 höhere Leistungen ohne Kürzung analog § 23 Abs. 3 Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch alte Fassung zu gewähren.

Der Beklage beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat sich auf das seines Erachtens zutreffende Urteil des Sozialgerichts bezogen.

Mit Bescheid vom 3. Februar 2015 hat der Beklagte die Leistungen mit Ablauf des 28. Februar 2015 eingestellt, weil der Kläger ab dem 1. März 2015 wegen einer Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) habe. Das Jobcenter Neukölln bewilligte dem Kläger dann Leistungen nach dem SGB II.

In einem Erörterungstermin am 11. Oktober 2017 ist der Kläger angehört worden. Wegen des Ergebnisses wird auf die Niederschrift der Nichtöffentlichen Sitzung vom 11. Oktober 2017 verwiesen. Auf Vorschlag des Senats haben die Beteiligten einen Teilvergleich dahingehend geschlossen, dass Gegenstand des Verfahrens L 15 AY 15/14 nur noch der Bescheid vom 29. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 2011 und die Höhe der Leistungen für die Zeit vom 29. November 2010 (wie zuletzt beantragt) bis zum 31. Dezember 2010 ist und die Höhe der Leistungen für die Zeit vom 1. Januar 2011 bis zum 28. Februar 2015 entsprechend dem Ergebnis des Verfahrens L 15 AY 15/14 berechnet werden wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der eingereichten Schriftsätze der Beteiligten und den übrigen Akteninhalt verwiesen.

Die den Kläger betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin - Ausländerbehörde - (in Kopie) haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 SGG). Sie ist auch begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2014 und der Bescheid des Beklagten vom 29. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 2011 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Er hat Anspruch auf ungekürzte Analogleistungen für die Zeit vom 29. November 2010 bis zum 31. Dezember 2010. Auf Grund des Teilvergleichs war nur noch über den genannten Zeitraum zu entscheiden.

Ein Anspruch des Klägers entfällt nicht von vornherein, weil ihm entsprechende Leistungen, nicht nachzuzahlen wären. Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 9. Juni 2011, Az. B 8 AY 1/10 R, juris Rn. 14 = SozR 4-1300 § 44 Nr. 22, entschieden, dass bei Nachzahlungen, die auf einer Überprüfung gemäß § 44 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) beruhen, die Differenz zwischen den erbrachten Grundleistungen und dem Regelsatz nachzuzahlen ist. Auch der nach dem AsylbLG Leistungsberechtigte muss nicht nachweisen, dass er konkrete Bedarfsanteile der jeweiligen Abteilung der Regelsatzverordnung tatsächlich hatte und durch Selbsthilfe oder Hilfe Dritter gedeckt hat; es ist vielmehr von einem fortbestehenden Bedarf auszugehen. Dies rechtfertigt es, die Differenz zwischen der nach dem AsylbLG und der nach dem SGB XII pauschalierten Leistung in voller Höhe nachzuzahlen und nicht auf eine konkrete Bedarfsdeckung im Einzelfall abzustellen und im Übrigen nur einen Spitzbetrag für im Regelsatz enthaltene Ansparbeträge nachzuzahlen. Eine andere Auffassung liefe der gesetzlichen Pauschalierung zuwider. Diese Ausführungen, die für die Nachzahlung aus einem Überprüfungsverfahren gelten, müssen erst recht gelten, wenn es sich um einen Anspruch handelt, der mit einem noch nicht bestandskräftigen Bescheid abgelehnt wurde. Anderenfalls wären auch die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtsweggarantie verletzt, weil fehlerhafte Entscheidungen der Behörden nicht mehr korrigiert werden könnten.

Rechtsgrundlage für die Leistungen ist § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. Diese Vorschrift lautete:

Abweichend von den §§ 3 bis 7 ist das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger - unstreitig - vor. Er hat mehr als 48 Monate vor November 2010 bzw. vor Juni 2006, dem Zeitpunkt, zu dem ihm zum ersten Mal Analogleistungen (allerdings mit Kürzung gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII a.F.) gewährt wurden, Leistungen gemäß § 3 AsylbLG erhalten. Der Kläger hat seinen Aufenthalt auch nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Er ist Palästinenser und hat als Flüchtling im Libanon gelebt. Bei Palästinensern aus dem Libanon ist angenommen worden, dass sie tatsächlich nicht in der Lage sind, einen Pass oder Passersatz von der zuständigen libanesischen Auslandsvertretung zu bekommen. Daher ist davon auszugehen, dass staatenlose, von der UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) registriertePalästinenser ohne Rückreisepapiere in den Libanon weder einreisen noch abgeschoben werden können (Oppermann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand 31. Oktober 2014, § 2 AsylbLG Rn. 85). Darüber besteht bei den Beteiligten auch kein Streit, so dass weitere Ausführungen hierzu entbehrlich sind.

Die Leistungen des Klägers sind auch nicht analog § 23 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. SGB XII a.F. zu kürzen. Diese Vorschrift lautete:

Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Es kann dahinstehen, ob die Kürzungsmöglichkeit gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII a.F. auch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG entsprechend anzuwenden ist, was jedoch von der wohl herrschenden Meinung vertreten wird (vgl. z.B. Oppermann, aaO., § 2 AsylbLG, Rn. 131; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII, 4. Auflage 2012, § 2 AsybLG, Rn. 41f). Auch wenn diese Vorschrift analog anwendbar wäre, wären ihre Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt, zumindest hat der Beklagte, der insoweit beweispflichtig ist, dies nicht beweisen können.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist Voraussetzung für die Anwendung des § 23 Abs. 3 SGB XII a.F., dass der Zweck, Sozialhilfe zu erlangen, den Einreiseentschluss geprägt hat, d.h. es muss ein finaler Zusammenhang zwischen Einreise und Sozialhilfebezug bestehen (BSG, Urteil vom 18. November 2014, Az. B 8 SO 9/13 R, juris Rn. 25 = SozR 4-3500 § 25 Nr. 5), und zwar im Sinne eines ziel- und zweckgerichteten Handelns (Coseriu in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, Stand 2. November 2017, § 23 SGB XII, Rn. 55). Hierfür genügt ein nur fahrlässiges Verhalten bei der Einschätzung der Hilfebedürftigkeit und der Möglichkeit, sich selbst helfen zu können, nicht. Erforderlich ist vielmehr, dass nach den objektiven Umständen von einem Wissen und Wollen mindestens im Sinne eines Vorsatzes ausgegangen werden kann, der für den Entschluss zur Einreise von prägender Bedeutung gewesen sein muss, ohne dass hierin auch ein "unlauteres Verhalten" gesehen werden müsste. Das Wissen und Wollen setzt nicht die Kenntnis des deutschen Sozialhilferechts mit seinen vielfältigen Möglichkeiten voraus. Der erforderliche Zusammenhang zwischen der Einreise und der missbilligten Inanspruchnahme von Sozialhilfe besteht nicht nur, wenn der Wille, Sozialhilfe zu erlangen, der einzige Einreisegrund ist. Beruht die Einreise des Ausländers auf verschiedenen Motiven, ist das Erfordernis des finalen Zusammenhangs auch erfüllt, wenn der Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für den Einreiseentschluss von zumindest prägender Bedeutung ist; es genügt aber nicht, dass der Sozialhilfebezug beiläufig verfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne (nur) billigend in Kauf genommen wird (Coseriu, aaO.).

Es ist nicht bewiesen, dass der Kläger im Sinne eines zielgerichteten Handelns eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen. Der Senat konnte sich nicht die notwendige Gewissheit verschaffen, dass diese Voraussetzung bei dem Kläger erfüllt ist. Das Gericht muss sich grundsätzlich die volle Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Norm verschaffen. Ausreichend ist eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, wobei der Richter persönlich Gewissheit haben, sich aber mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage, § 128 RdNr. 3 b m.w.N.). Wahrscheinlich hingegen ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt; es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit erbeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts – BSG – vom 22. September 1977, Az. 10 RV 215777, juris Rn. 32 = SozR 3900 § 40 Nr. 9). An diesen Maßstäben gemessen ist der Beweis, dass der Kläger eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen, dem Beklagten nicht gelungen. Der Kläger hat angegeben, nach Deutschland gekommen zu sein, weil die Verhältnisse im Libanon für Palästinenser derart waren, dass er dort keine Perspektive gehabt habe. Er habe studieren wollen. Als Palästinenser im Libanon dürfe man nicht arbeiten. Abitur dürfe man zwar machen, wenn man es selbst bezahlen könne. Er habe sich in Deutschland weiterbilden wollen, einen Beruf erlernen und möglicherweise Abitur machen und sich absichern wollen. Dies korrespondiert mit den Angaben, die er bei der Übernahme der Zuständigkeit des Bezirksamts Marzahn-Hellersdorf am 31. Januar 2000 gemacht hat, indem er angegeben hat, zu hoffen, in Deutschland eine Zukunft aufbauen zu können. Weiter hat er gegenüber einer Sprachschule im Juni 1997 angegeben, das Ziel zu haben, an einer Universität zu studieren. Seine Schilderungen entsprechen auch den Umständen, unter denen Palästinenser im Libanon leben mussten und auch aktuell noch leben müssen. "Die Einschränkung des Rechts, arbeiten zu dürfen, hat vermutlich die größten Auswirkungen auf das Leben der Palästinenser im Libanon. Sie sind von den meisten Berufen ausgeschlossen. Dies beschränkt ihre Beschäftigungsmöglichkeiten auf die Flüchtlingslager, wo es aber nur eine geringe Zahl an Klienten und wenig finanzielle Ressourcen gibt, oder auf eine illegale Beschäftigung. Illegal beschäftigte Palästinenser müssen aber in Kauf nehmen, dass sie weniger verdienen als libanesische Arbeitskräfte im selben Beruf und ihnen am Arbeitsplatz keine Rechte gewährt werden. Trotz der fehlenden Arbeitsmöglichkeiten versuchen viele Familien, in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren und ermuntern sie dazu, die vom UNRWA geführten Schulen zu besuchen, sich um Stipendien zu bewerben oder Entbehrungen in Kauf zu nehmen, um Plätze an privaten Schulen oder Universitäten zu finanzieren" (vgl. Rebecca Roberts, Flüchtlinge zweiter Klasse: Palästinenser im Libanon, 26. Mai 2016, Bundeszentrale für politische Bildung zu finden unter http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/228365/palaestinenser-im-libanon). Auch Noura Maan führt in ihrer Reportage "Palästinenser am Rand der libanesischen Gesellschaft", Der Standard vom 27. Dezember 2017, zu finden unter https://derstandard.at/2000070281556/Palaestinenser-am-Rand-der-libanesischen-Gesellschaft, aus: "Im Libanon sind die Rechte der Palästinenser stark eingeschränkt, sie werden als Ausländer betrachtet und haben nur begrenzten Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Gesundheitsversorgung und Wohnraum. Grund oder Eigentum dürfen die Palästinenser nicht besitzen, wirklich leistbar ist für sie nur das Leben in den insgesamt zwölf Flüchtlingscamps oder den umliegenden "informellen Ansiedlungen". Weiter heißt es: "Insgesamt 39 Berufe dürfen Palästinenser im Libanon nicht ausüben – zu zahlreichen Tätigkeiten, die ein Studium beziehungsweise eine Spezialisierung erfordern, etwa in den Bereichen Medizin, Jura und Ingenieurwesen, haben sie keinen Zugang. Gründe für den Ausschluss sind entweder das Fehlen der libanesischen Staatsbürgerschaft (auf die Palästinenser keinen Anspruch haben) oder die fehlende "Reziprozität" – ihre Heimat räumt Libanesen also nicht die gleichen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt ein". Angesichts dieser Umstände ist es glaubhaft, dass der Kläger nach Deutschland kam, um hier ein besseres Leben zu finden als im Libanon und sich durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhat verdienen zu können, es ist zumindest gut möglich, dass dies sein - absolut vorrangiges - Ziel war. Es ist allerdings auch durchaus denkbar, dass der Kläger eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen. Sein Bruder lebte zum Zeitpunkt der Einreise des Klägers bereits in Deutschland, und war wohl auch auf Sozialhilfeleistungen angewiesen. Es ist möglich, dass der Kläger durch seinen Bruder darüber informiert war, welche Leistungen Ausländer in Deutschland erhalten, er hat dies allerdings bei seiner Anhörung im Erörterungstermin vor dem LSG bestritten. Es ist aber nicht bewiesen in Sinne der oben genannten Anforderungen an einen Beweis.

Auch durch die Angaben des Klägers in den im Tatbestand zitierten Fragebögen ist nicht bewiesen, dass ein ganz wesentliches Motiv für die Einreise nach Deutschland der Bezug von Sozialhilfe gewesen ist. Zunächst ist nicht sicher, dass diese Angaben vom Kläger selber stammen und er sie auch verstanden hat. Weder in dem Fragebogen, den er kurz nach seiner Einreise bei der Ausländerbehörde ausgefüllt hat bzw. der für ihn ausgefüllt wurde, noch in dem von dem Beklagten verwendeten Fragebogen sind die Fragen in arabischer Sprache gestellt, sondern jeweils auf Deutsch und einer bzw. mehreren anderen Sprachen, derer der Kläger nicht mächtig war und ist. Auch Deutsch konnte er zum damaligen Zeitpunkt, zumindest 1996, nicht. Ein Dolmetscher war offensichtlich auch nicht zugezogen worden, dafür sind die Antworten - zu einem großen Teil - in einem grammatikalisch und orthographisch zu schlechten Deutsch gehalten. Bei dem Fragebogen von 2000 kommt hinzu, dass die Antworten offensichtlich von unterschiedlichen Personen gegeben wurden, es sind mindestens drei unterschiedliche Handschriften und Kugelschreiber zu identifizieren. Auffällig ist, dass die Antwort "von Sozialhilfe" mit einem anderen Stift und in einer anderen Schrift und in richtigem Deutsch geschrieben ist, so dass sie angesichts der sonstigen, nicht in korrektem Deutsch verfassten Antworten, nicht vom Kläger selbst stammen dürfte. Bei dieser Sachlage sind die Einlassungen des Klägers nicht zu widerlegen, es hätte jeweils ein Helfer die Antworten gegeben. Um dem Kläger die Antworten zurechnen zu können, hätte zumindest eine Übersetzung in seine Muttersprache stattfinden müssen.

Nach alldem ist eine Einreise, um Sozialhilfe zu erlangen, nicht erwiesen. Der Kläger hat daher Anspruch auf Analogleistungen ohne Kürzung. Da die Leistungen im November und Dezember 2010 um jeweils 114,68 Euro gekürzt wurden, war dem Kläger für Dezember 2010 dieser Betrag zuzusprechen und für November 2010 ein anteiliger Betrag für zwei Tage, also in Höhe von 7,65 Euro (114,68 geteilt durch dreißig mal zwei).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Sie entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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