S 25 KR 3236/03

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
25
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 25 KR 3236/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 69/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 17. Juli 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. August 2003 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Kosten in Höhe von 1.098,95 Euro für die Dynamic-Soft-Orthese zu erstatten.

2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf eine Versorgung mit Dynamic GPS-Soft-Orthesen.

Die 1995 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet in Folge einer Frühgeburt mit postnataler Hirnblutung an einer rechtsbetonten spastischen Tetraparese (infantile Cerebralparese) mit Adduktoren Hypertonie beidseits und starker Valgusstellung beider Beine. Ein selbständiges Gehen ist ihr daher nicht möglich. Auch die Bewegungsfähigkeit der Arme ist stark eingeschränkt.

Unter Vorlage einer Verordnung der Fachärztinnen für Kinder- und Jugendmedizin Dres. E. und F. vom 11. Februar 2003 und eines Kostenvoranschlags der Firma G. GmbH Zentrum für Technische Orthopädie und Reha - vom 28. Februar 2003 in Höhe von insgesamt 1.098,95 Euro beantragte die Klägerin am 3. März 2003 die Kostenübernahme für ein Paar Dynamic GPS-Soft-Orthesen für Becken und beide Beine. Frau Dr. F. führte in ihrem Attest vom 31. März 2003 aus, durch die Stabilisierung des Beckens soll zum einen das Sitzen verbessert und zum anderen im Stand Stehversuche und erste Schritte angebahnt werden.

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Hessen gelangte in seinen sozialmedizinischen Gutachten nach Aktenlage vom 18. April 2003 (Facharzt für Orthopädie Dr. H.) und vom 19. Mai 2003 (Orthopädin Dr. J.) zu der Beurteilung, dass eine Kostenübernahme ohne den Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit nicht empfohlen werden könne. Ein Wirksamkeitsnachweis nach § 139 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) sei nicht erbracht. Die vorgelegten Veröffentlichungen seien kein wissenschaftlicher Beleg für die Wirksamkeit des Hilfsmittels, da es sich um Fallbeobachtungen an 15 Kindern bzw. 16 Erwachsenen handele.

Hierauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. August 2003 den Antrag ab. Zur Begründung ihrer Entscheidung führte sie im Wesentlichen aus, die Versorgung mit dynamischen Soft-Orthesen sei medizinisch nicht notwendig und entspreche daher nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs.1 SGB V. Nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (Urteil 28. März 2000, B 1 KR 11/98 R, SozR 3- 2500 § 135 Nr. 15 = BSGE 86, 54; Urteil vom 31. August 2000, B 3 KR 21/99 R, SozR 3- 2500 § 139 Nr. 1 = BSGE 87,105) dürften Behandlungsweisen, deren therapeutischer Nutzen nicht erwiesen sei bzw. für die ein Wirksamkeitsnachweis nicht erbracht werden könne, nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden.

Am 8. September 2003 hat die Klägerin hiergegen beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben und geltend gemacht, die Dynamic GPS-Soft-Orthese sei medizinisch notwendig und ihre Wirksamkeit durch Studien nachgewiesen. Die auf eigene Rechnung zwischenzeitlich selbst beschaffte GPS-Soft-Orthese habe in den Jahren 2003/2004 bei der Klägerin für eine deutliche Besserung bei der Vertikalisierung gesorgt.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 17. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. August 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten in Höhe von 1.098,95 Euro für die Dynamic GPS-Soft-Orthese zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid für zutreffend. Ergänzend beruft sie sich auf sozialmedizinische Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 23. März 2004, 2. September 2005 und 27. April 2006.

Das Gericht hat im Rahmen seiner Ermittlungen Befundberichte der Fachärzte für Orthopädie Dres. K. und L. vom 22. Dezember 2003, des Kinderarztes Dr. M. vom 12. Januar 2004 und der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin Dr. F. vom 20. Januar 2004 eingeholt. Des Weiteren wurde Beweis erhoben durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens des Facharztes für Orthopädie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. N., Chefarzt im LVA-Zentrum für Rehabilitation Bad Nauheim, vom 23. März 2005.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Beteiligtenvorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Sie ist auch sachlich begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. August 2003 war aufzuheben, denn die Klägerin hat gemäß § 33 Abs. 1 SGB V einen Anspruch auf Kostenerstattung für die von ihr selbstbeschaffte Dynamic GPS-Soft-Orthese als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Krankenkasse darf anstelle der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit das SGB V dies vorsieht. Ausnahmen vom Sachleistungsprinzip (§ 2 Abs. 2 SGB V) sind abschließend in § 13 Abs. 3 SGB V normiert. Hiernach dürfen Versicherte Kostenerstattung in Anspruch nehmen, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war.

Die Beklagte hat die Versorgung mit der streitgegenständlichen Soft-Orthese zu Unrecht verweigert, so dass die Klägerin gezwungen war, sich eine notwendige Leistung selbst zu beschaffen.

Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Variante), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Variante) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Variante), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).

Im vorliegenden Fall geht es um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfasst wird. Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel, wenn es erforderlich ist, um das Gebot eines möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen (BSG SozR 2200 § 187 Nr. 1; BSG SozR 3- 2500 § 33 Nr. 18 und 20). Der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 19/03 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 7, BSG, Urteil vom 26. März 2003, B 3 KR 23/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 3) gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines körperlichen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen.

Im Falle der Klägerin ist das allgemeine Grundbedürfnis der Bewegungsfreiheit betroffen, das bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens usw. sichergestellt wird (vgl. BSG, Urteil vom 8. Juni 1994, 3/1 RK 13/93, SozR 3-2500 § 33 Nr. 7). Vorliegend ist die streitgegenständliche Dynamic GPS-Soft-Orthese erforderlich im Sinne von § 33 SGB V, um eine Behinderung der Klägerin auszugleichen. Denn bei ihr besteht eine Behinderung, die sie an der Fortbewegung hindert. Dies steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund des nach einer Untersuchung der Klägerin erstellten, ausführlich begründeten, nachvollziehbaren und schlüssigen Gutachtens des Facharztes für Orthopädie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. N. vom 23. März 2005. Danach ist der Klägerin ein selbständiges Gehen ohne Hilfsmittel nicht möglich. Dr. N. gelangte zu der begründeten Feststellung, dass die Soft-Orthese notwendig ist, da sie die Situation der Klägerin verbessere und eine medizinische Indikation nachweislich besteht. Mit der dynamischen GPS-Soft-Orthese für Becken und Beine könne eine Verbesserung der Steh- und Gehfähigkeit der Klägerin erreicht werden und ein besseres Gangbild sei möglich.

Der hiergegen vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung erhobene Einwand, der gerichtliche Sachverständige habe die Wirkung der Orthese nicht im Sinne einer Einzelfallprüfung an der Klägerin überprüfen können, ist unsachlich und steht dem Klageanspruch nicht entgegen. Zum einen kann der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen, dass sie zum Untersuchungszeitpunkt nicht mit einer Orthese versorgt war, da die im Juli 2003 selbst beschaffte GPS-Soft-Orthese zwischenzeitlich zu klein geworden war. Zum anderen ist das Argument des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung grundsätzlich nicht tragfähig, da bei einer Hilfsmittelversorgung im Wege der Sachleistungsgewährung eine Überprüfung der Wirkung an dem Versicherten in der Regel nicht möglich und auch nicht erforderlich ist. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Medizinische Dienst der Krankenversicherung selbst sachwidrig keine Begutachtung der Klägerin durchgeführt hatte.

Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten ist es nicht erforderlich, den therapeutischen Nutzen der Dynamic GPS-Soft-Orthese durch Ergebnisse klinischer Prüfungen nachzuweisen, da ein derartiger Beweismaßstab in der gesetzlichen Krankenversicherung nur bei der Beurteilung der Wirksamkeit von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie von Arzneimitteln gilt. Derartige Zulassungsvoraussetzungen bestehen für die Versorgung mit Hilfsmitteln nicht. Soweit nur ein Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V in Betracht kommt und keine Behandlung durch das Hilfsmittel angestrebt wird, verlangt die Rechtsprechung nicht, dass die Zweckmäßigkeit eines neuen Hilfsmittels nach den Maßstäben des § 135 SGB V festgestellt wird, insbesondere klinische Studien vorliegen (Bundessozialgericht, Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 8 = BSGE 93, 183). Soweit § 139 Abs. 2 SGB V für Hilfsmittel den Nachweis eines therapeutischen Nutzens verlangt, bedeutet dies nicht, dass für Hilfsmittel jeglicher Art auch die Ergebnisse klinischer Prüfungen vorgelegt werden müssen. Deshalb ist es zulässig, sich zum Nachweis der Vorzüge eines derartigen Hilfsmittels auf Gutachter, ihr ärztliches Erfahrungswissen und die von ihnen ausgewertete Fachliteratur zu stützen, während es weitergehender klinischer Prüfungen nicht bedarf (BSG, a. a. O.). Die Produktsicherheit und Zweckmäßigkeit eines Hilfsmittels wird durch eine Kennzeichnung nach dem Medizinproduktegesetz gewährleistet, der das Bundessozialgericht Tatbestandswirkungen für Entscheidungen nach dem SGB V zuspricht. Soweit die Beklagte einen Wirksamkeitsnachweis für die streitgegenständlichen Orthesen nach § 139 Abs. 2 SGB V fordert, verkennt sie im Übrigen auch, dass für den Leistungsanspruch des Versicherten nach § 33 SGB V die Aufnahme eines Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht erforderlich ist (BSG, Urteil vom 3. August 2006, B 3 KR 25/05 R; Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 8; Urteil vom 23. August 1995, 3 RK 7/95, SozR 3-2500 § 33 Nr. 16; Urteil vom 16. April 1998, B 3 KR 9/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 27; Urteil vom 29. September 1997, 8 RKn 27/96, SozR 3 § 33 Nr. 25; Urteil vom 17. Januar 1996, 3 RK 16/95, SozR 3-2500 § 33 Nr. 20).

Aus den vorstehend dargelegten Gründen war der Klage daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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