S 19 AS 309/18 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 19 AS 309/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein Leistungsträger hat über die Möglichkeit, einen Widerspruch in elektronischer Form nach § 36a Abs. 2 SGB I einzureichen, in der Rechtsmittelbelehrung zu beleheren.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung.

Der 1983 geborene Antragsteller lebt im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners in einem Haus, welches im Eigentum seiner Eltern steht und auch von ihnen bewohnt wird. Der Antragsteller bezog zunächst ab Januar 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom Antragsgegner. Da er zu dieser Zeit mietfrei wohnte, wurde ihm nur der Regelbedarf bewilligt. Der Antragsteller hielt sich vom 29.09.2016 bis 12.02.2017 im Ausland auf.

Nach seiner Rückkehr beantragte der Antragsteller am 20.02.2017 die Bewilligung von SGB II-Leistungen. Im Antragsformular gab er am selbigen Tag an, dass keine Kosten der Unterkunft entstünden. Mit Bescheid vom 17.03.2017 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller 218,13 Euro für Februar 2017 und 409 Euro monatlich von März 2017 bis Januar 2018. Kosten der Unterkunft wurden nicht bewilligt.

Am 29.05.2017 beantragte der Antragsteller die Überprüfung des Bescheides vom 17.03.2017, da der Antragsgegner im gesamten Bewilligungszeitraum zu geringe Unterkunfts-, Betriebs- und Heizkosten anerkannt habe. Der Antragsgegner habe diese nicht kalkuliert und festgesetzt. Er übersandte eine undatierte Erklärung KdU. Dort ist angegeben, er bewohne 50 qm zu einer Grundmiete von 290 Euro zzgl. 130 Euro Nebenkosten und 40 Euro Heizkosten. Er heize und koche mit Strom, die Warmwassererzeugung erfolge dezentral. In der Wohnung wohnten sonst keine weiteren Personen.

Mit Schreiben vom 06.06.2017 forderte der Antragsgegner unter Fristsetzung einen aktuellen Mietvertrag sowie einen vom Vermieter ausgefüllte und unterschriebene Mietbescheinigung.

Mit Bescheid vom 06.06.2017 lehnte der Antragssteller eine Abänderung der Bescheide vom 08.03.2016, 27.05.2016 und 17.03.2017 für die Zeit von Dezember 2015 bis April 2017 ab, da diese rechtmäßig seien. Am 23.06.2017 widersprach der Antragsteller dem Überprüfungsbescheid vom 06.06.2017, da seit Februar 2017 Mietverpflichtungen bestünden. Bis 2016 habe er mietfrei wohnen können. Er reichte eine Mietbescheinigung seines Vaters und Vermieters vom 23.06.2017 sowie einen Mietvertrag vom 13.02.2017 zur Akte. Später teilte er noch mit, dass er fehlerhaft angegeben hätte, den Brennstoff selber beschaffen zu müssen. Mit Widerspruchsbescheid vom 17.08.2017 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Die Nichtbewilligung von Kosten der Unterkunft beruhe insbesondere auf den eigenen Angaben des Antragstellers. Im Übrigen sei die Ernsthaftigkeit des Mietverhältnisses fraglich und die Vermutung des § 9 Abs. 5 SGB II wäre zu prüfen. Gegen den Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.08.2017 erhob der Antragsteller am 18.09.2017 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt (Az: S 19 AS 838/17) mit dem Ziel der Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung ab dem 13.02.2017. Die Klage wurde nach Erörterung am 15.05.2018 zurückgenommen. Der Antragsteller trug vor, er habe das Ende der mietfreien Zeit bei der Sachbearbeiterin angegeben und ging davon aus, dass weitere Formulare an den Vater geschickt würden.

Mit Bescheid vom 15.09.2017 lehnte der Antragsgegner auch die Überprüfung des Bescheides vom 17.03.2017 (für den Zeitraum 5/2017 bis 1/2018) ab, da der Bescheid rechtmäßig sei. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden. Im Erörterungstermin am 15.05.2018 stellte der Antragsteller einen Überprüfungsantrag.

Am 19.01.2018 beantragte der Antragsteller die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 22.01.2018 bewilligte der Antragsgegner diese vorläufig für die Zeit vom 01.02.2018 bis zum 31.07.2018. In der Rechtsmittelbelehrung heißt es unter anderem: "Eine Widerspruchseinlegung per E-Mail entspricht nicht dem gesetzlich vorgeschrieben Schriftformerfordernis und ist daher unzulässig."

Am 12.04.2018 hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig ab dem 12.04.2018 weitere 460 Euro monatlich (Kosten für Unterkunft und Heizung) zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.

Am 17.05.2018 widersprach der Antragssteller dem Bescheid vom 22.01.2018.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten – insbesondere auch den Vortrag der Beteiligten und die Aussage des Vaters B. A. im Termin zur Beweisaufnahme im Verfahren S 19 AS 838/17 – wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen. Auch auf den Inhalt der Verwaltungsakte wird verwiesen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist zulässig aber unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, und einen Anordnungsgrund, also einen Sachverhalt, der eine Eilbedürftigkeit begründet, voraus. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 SGG iVm. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung ändert nichts an der weiterhin bestehenden Amtsermittlungspflicht; es reicht aber für die Überzeugungsgewissheit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit aus (Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 30.01.2006, Az: L 7 AS 1/06 ER, L 7 AS 13/06 ER, juris Rn. 31).

Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist der Antrag nicht wegen entgegenstehender Bestandskraft des Bescheides vom 22.01.2018 wegen der Bindungswirkung gemäß § 77 SGG unzulässig. Denn die Bindungswirkung ist noch nicht eingetreten. Sie tritt nur ein, wenn ein Verwaltungsakt mit einem ordentlichen Rechtsbehelf (d.h. auf Widerspruch oder im gerichtlichen Verfahren) nicht mehr abgeändert werden kann (Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 77, Rn. 10). Der Bescheid vom 22.01.2018 kann aber noch mit dem Widerspruch (den der Antragsteller dann auch am 17.05.2018 ausdrücklich erhob) abgeändert werden. Zwar beträgt die Widerspruchsfrist grundsätzlich einen Monat nach Bekanntgabe des Bescheides (vgl. § 84 Abs. 1 SGG) und diese Frist ist abgelaufen. Die Monatsfrist beginnt aber gemäß § 66 Abs. 1 SGG nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Ist die Belehrung hingegen unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei.

Die von dem Antragsgegner im Bescheid vom 22.01.2018 verwendete Rechtsmittelbelehrung ist unrichtig. Unrichtig ist die Belehrung dann, wenn sie nicht den statthaften Rechtsbehelf als solchen (also seine Bezeichnung der Art nach), die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, deren bzw. dessen Sitz und die einzuhaltende Frist angibt (vgl. die in § 66 Abs. 1 SGG genannten Merkmale). Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus ist nach ihrem Sinn und Zweck, den Beteiligten ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte zur (fristgerechten) Wahrung ihrer Rechte zu ermöglichen, aber auch eine Belehrung über den wesentlichen Inhalt der bei Einlegung des Rechtsbehelfs zu beachtenden Formvorschriften erforderlich (ständige Rspr. vgl. nur BSG, Urteil vom 14. März 2013, Az: B 13 R 19/12 R, juris Rn. 16 m. w. Nachw.). Zwar hat das Bundessozialgericht im Jahr 2013 entschieden, dass es für die Belehrung über die Klagemöglichkeit bei Gericht nicht erfordere, dass auch auf die für das betreffende Gericht durch Rechtsverordnung bereits zugelassene Möglichkeit der Übermittlung verfahrensbestimmender Schriftsätze in der Form eines elektronischen Dokuments hingewiesen werde (BSG, Urteil vom 14. März 2013, Az: B 13 R 19/12 R, Rn. 17). Diese Rechtsprechung kann aber heute nicht mehr angewendet werden (vgl. auch ausführlich Köhler, WsZ 2017, 99 S. 102ff.; zudem Müller, NZS 2018, S. 208, 214 für die Belehrung im Widerspruchsbescheid). Dies klang bereits in der Entscheidung des Bundessozialgerichts an, in der es ausdrücklich heißt, dass "es – jedenfalls nach derzeitiger Sach- und Rechtslage – nach § 66 Abs 1 SGG nicht geboten" sei, stets auch auf die Möglichkeit der Verwendung der elektronischen Form hinzuweisen (BSG, ebdenda, Rn. 19). Seit dem 01.01.2018 ist in § 84 SGG ausdrücklich bestimmt, dass der Widerspruch "schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Absatz 2 des Ersten Sozialgesetzbuch oder zur Niederschrift bei der Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen hat", einzureichen ist. Gemäß § 36a Abs. 2 SGB I kann eine gesetzlich angeordnete Schriftform durch die elektronische Form ersetzt werden. Nach Absatz 1 ist die Übermittlung elektronischer Dokumente zulässig, soweit der Empfänger dafür einen Zugang eröffnet. Die Kammer kann offen lassen, ob ein Leistungsträger, der den elektronischen Rechtsverkehr eröffnet hat (wie der Antragsgegner mit der Angabe einer Email-Adresse, vgl. https://www.neue-wege.org/ – Zugriff am 18.05.2018), in der Rechtsbehelfsbelehrung auf die Möglichkeit, Schriftsätze elektronisch einzureichen (§ 36a SGB I), hinweisen muss. Jedenfalls darf in der Rechtsmittelbelehrung nicht – wie in der Rechtsmittelbelehrung im Bescheid vom 22.01.2018 geschehen – darauf hingewiesen werden, dass eine Widerspruchseinlegung per E-Mail nicht dem gesetzlich vorgeschrieben Schriftformerfordernis entspreche und daher unzulässig sei. Denn dies ist zwar für eine einfache Email zutreffend. Ein Widerspruch per E-Mail mit qualifizierter elektronischer Signatur (nach dem Signaturgesetz) ist aber zulässig (vgl. § 36a SGB I, zudem Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG 12. Aufl. 2017, § 84 Rn. 3); ebenso eine De-Mail nach § 5 Abs. 5 des De-Mail-Gesetzes.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist aber unbegründet. Der Antragsteller hat jedenfalls keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft machen kann und ein ernstliches Mietverlangen (vgl. zu diesem Erfordernis BSG, Urteil vom 07. Mai 2009, Az: B 14 AS 31/07 R, juris Rn. 16; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Februar 2016, Az: L 9 SO 145/14, juris Rn. 29) vorliegt, da das Fehlen eines Anordnungsgrundes evident ist.

Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn es dem Antragsteller nicht zuzumuten ist, eine Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 13.11.2013, Az: L 9 AL 102/13 B ER, juris Rn. 13). Ein Anordnungsgrund ist hier aber zu keinem Zeitpunkt hinreichend glaubhaft gemacht oder sonst ersichtlich. Denn ungeachtet der Frage, ob ein ernstliches Mietzinsverlangen zwischen dem Vater des Antragstellers und dem Antragsteller besteht, woran nach der Anhörung des Antragstellers und Vernehmung des Vaters Zweifel bestehen, ist eine dringliche Notlage weder glaubhaft gemacht noch sonst ersichtlich. Diese Feststellung verlangt eine wertende Betrachtung im konkreten Einzelfall. Entsprechend haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in Verfahren des Eilrechtsschutzes zu den Kosten der Unterkunft auch unter Berücksichtigung der Zielsetzung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu prüfen, welche negativen Folgen im konkreten Einzelfall drohen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 01. August 2017, Az: 1 BvR 1910/12, juris Rn. 15). Es ergeben sich hier keinerlei hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass ein Verlust der Wohnung droht. Zwar hatte der Antragsteller erklärt, er müsse befürchten, dass sein Vater ihn aus der Wohnung hinauswerfe. Der Vater selber hatte aber auf die Frage des Gerichts, was geschehe, wenn der Sohn weiterhin keine Mietzahlungen leiste nur zurückgefragt, ob er seinen Sohn denn rauswerfen solle. Aus der Antwort und den übrigen Aussagen des Zeugen, insbesondere auch der Angabe, dass nun erst mal das Verfahren bei Gericht abgewartet werden solle und dem Gesamteindruck, der in dem Termin am 17.05.2018 gewonnen wurde, ergibt sich nicht, dass dem Antragsteller der Verlust der Wohnung droht und seine Existenz insoweit gefährdet ist. Der Vater selber war sich im Termin nicht sicher, ob überhaupt ein gültiger Mietvertrag besteht. Mietrechtliche Maßnahmen hat er folgerichtig auch noch nicht ergriffen und es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass solche beabsichtigt sind. Auch andere wesentliche Nachteile sind weder glaubhaft gemacht noch ersichtlich.

Von daher war der Antrag abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
Rechtskraft
Aus
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