S 8 U 55/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 8 U 55/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 168/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 53/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit wird um die Anerkennung des Ereignisses vom 04.05.2016 als Arbeitsunfall im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII geführt.

Die 1965 geborene Klägerin zog sich am 04.05.2016, um 18:15 Uhr, bei einem Autounfall eine Thoraxprellung, eine Halswirbelsäulen- und eine Brustwirbelsäulenprellung zu.

Die Beklagte ermittelte nach Kenntnisnahme des Unfalls durch die Mitteilung der Klägerin vom 06.06.2016 den Sachverhalt.

Die Klägerin befand sich an diesem Tage zum Zwecke der Wiedereingliederung bei ihrem Arbeitgeber. Sie arbeitete die vereinbarten Stunden von 10 bis 14 Uhr. Gegen 14:10 Uhr verließ die Klägerin das Mitgliedsunternehmen und ging zu ihrem Rechtsanwalt. Dort hielt sie sich von 15 Uhr bis 17 Uhr auf. Auf dem Weg nach Hause erlitt sie dann gegen 18:15 Uhr diesen Autounfall.

Mit Bescheid vom 28.10.2016 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalles ab. Ein Wegeunfall sei nicht anzuerkennen. Es fehle an dem inneren Zusammenhang zwischen Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit, wenn der Weg aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen oder durch einen Um- oder Abweg wesentlich verlängert worden sei. Der unmittelbare Heimweg von der Arbeit sei für mehr als zwei Stunden unterbrochen worden, um einen privaten Termin bei dem Anwalt in B Stadt wahrzunehmen. Die Unterbrechung habe allein privaten Zwecken gedient.

Eine Unterbrechung des Weges umfasse sowohl eine räumliche Abweichung als auch eine zeitliche Komponente und bestehe im Einschieben persönlicher, für die Zurücklegung nicht erforderlicher Handlungen. Die Unterbrechung des Weges allein aus eigenwirtschaftlichen Zwecken, die mit der versicherten Fortbewegung nicht übereinstimmten, führe so lange zur Unterbrechung des Versicherungsschutzes, bis die Fortbewegung in Richtung auf das ursprüngliche Ziel wieder aufgenommen werde. Nach Beendigung der Unterbrechung lebe – trotz zeitlicher Verschiebung eines Teils des Weges aus persönlichen Gründen – mit dem Fortsetzen des Weges der Versicherungsschutz im Allgemeinen wieder auf. Dies sei allerdings dann ausgeschlossen, wenn aus der Art der Verrichtung während der Unterbrechung des Weges eine Beendigung der betriebsbedingten Kausalkette bei natürlicher Betrachtungsweise anzunehmen sei. Abgrenzungskriterium sei eine Zeitgrenze von zwei Stunden.

Der Unfall habe sich zwar auf dem direkten Heimweg von der Arbeitsstelle befunden. Jedoch sei eine Unterbrechung des direkten Nachhauseweges von mehr als zwei Stunden erfolge, um einen Termin bei einem Anwalt wahrzunehmen. Auf dem anschließenden Weg nach Hause bestehe daher kein Versicherungsschutz mehr. Der versicherte Weg sei durch die Unterbrechung von mehr als zwei Stunden endgültig beendet worden.

Den klägerischen Widerspruch vom 25.11.2016 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09.05.2017 zurück. Die Klägerin habe sich zwar auf dem unmittelbaren Weg zwischen der Arbeitsstätte und ihrer Wohnung befunden, jedoch habe sie die versicherte Tätigkeit unterbrochen. Der Besuch des Rechtsanwaltes sei eine private, unversicherte Tätigkeit gewesen. Der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ende durch die Unterbrechung mit einer unversicherten Tätigkeit. Der Heimweg wäre nur dann versichert gewesen, wenn die Klägerin ihn binnen zwei Stunden, als bis 16:10 Uhr, angetreten hätte. Wenn der Versicherte den ursprünglich angetretenen Weg nach Beendigung der eigenwirtschaftlichen Verrichtung wieder aufnehme, handele es sich nur dann erneut um einen versicherten Weg, wenn nach Dauer und Art der Unterbrechung keine endgültige Lösung vom Zurücklegen des Weges als der versicherten Tätigkeit vorliege. Es gelte eine zeitliche Grenze von zwei Stunden, bis zu der der Antritt oder die Fortsetzung des Weges wieder eine versicherte Tätigkeit werde. Werde die genannte Zeitgrenze überschritten, sei die versicherte Tätigkeit grundsätzlich endgültig beendet.

Die Klägerin hat am 02.06.2017 Klage beim Sozialgericht Fulda erhoben.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Ereignis vom 04.05.2016 als Arbeitsunfall im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII anzuerkennen sei.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 28.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 04.05.2016 als Arbeitsunfall im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte bezieht sich auf den angegriffenen Verwaltungsakt.

Auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 18.09.2017 wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten (Blatt 1 bis 72). Diese Vorgänge sind auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Bescheid vom 28.10.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.05.2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren subjektiven Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass das Ereignis vom 04.05.2016 als Arbeitsunfall in Form eines Wegeunfalls anerkannt wird.

Arbeitsunfälle sind gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeit ist gem. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Durch das Wort "infolge" drückt § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII aus, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der in innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung und dem Unfall als auch zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden erforderlich ist. Diese sogenannte doppelte Kausalität wird nach herkömmlicher Dogmatik bezeichnet als die haftungsbegründende und die haftungsausfüllende Kausalität. Der Bereich der haftungsbegründenden Kausalität ist u.a. betroffen, wenn es um die Frage geht, ob der Unfall wesentlich durch die versicherte Tätigkeit oder durch eine sogenannte innere Ursache hervorgerufen worden ist, während dem Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität die Kausalkette – Unfallereignis (primärer) Gesundheitsschaden und (sekundärer) Gesundheitsschaden – weitere Gesundheitsstörungen zuzuordnen ist.

Es fehlt jedoch unter Zugrundelegung der gesetzlichen Anforderungen, konkretisiert durch die ständige Rechtsprechung, am Vorliegen eines Arbeitsunfalls im Sinne von § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII, da die Klägerin zur Zeit des Unfalls keine versicherte Tätigkeit verrichtet hat. Die Klägerin steht zwar auf dem Weg von Zuhause zur Arbeit bzw. von der Arbeit nach Zuhause unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Jedoch fehlt es an dem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit an dem Versicherungsschutz aufgrund des Überschreitens der Zweistundengrenze.

Keller in Hauck/Noftz, SGB, 05/15, § 8 SGB VII, Rn. 264 ff. führt wie folgt aus:

"Für Wege vom Tätigkeitsort i. S. d. Abs. 2 Nr. 1 geht die Rechtsprechung von einer festen Zeitgrenze aus: Eine Lösung von der versicherten Tätigkeit tritt ein, nachdem der Versicherte den Weg vom Tätigkeitsort um mehr als zwei Stunden durch private Verrichtungen (einschließlich der damit im Zusammenhang stehenden Wege) unterbrochen hat (BSG, 2. 12. 2008, B 2 U 26/06 R Rz 28, BSGE 102, S. 111 ff.; BSG, 27. 10. 2009, B 2 U 23/08 R, UV-Recht Aktuell 2010, S. 114 ff.; Krasney, SGb 2013, S. 313 ff., 318 f.; Schur/Spellbrink, SGb 2014, S. 589 ff., 592 f.; offengelassen von BSG, 13. 11. 2012, B 2 U 19/11 R, BSGE 112, S. 177 ff. Rz 25; anders das beamtenrechtliche Dienstunfallrecht, dazu Leube, ZTR 2012, S. 682 ff., 684; unentschieden gelassen von OVG Lüneburg, 15. 4. 2011, 5 LA 79/10, NVwZ-RR 2011, S. 573 f., 574; abw. für das österreichische Recht OGH Wien, 2. 10. 2012, 10 ObS 139/12g, SSV-NF 26, S. 423 ff., 427: nur grobe Orientierung an der Zweistundengrenze; zur objektiven Beweislast Rz 340a-b).

Entsprechendes gilt für eine Unterbrechung vor dem Beginn des Weges vom Tätigkeitsort (BSG, 18. 12. 1979, 2 RU 53/78, SozR 2200 § 555 Nr. 42), z. B. wegen der Teilnahme an einer privaten Feier im Betrieb vor Antritt des Heimwegs. Bei der Zweistundengrenze handelt sich um eine ‚gegriffene Größe‘, die Orientierungs- und Rechtssicherheit schafft (Schur/Spellbrink, SGb 2014, S. 589 ff., 593). Bei mehrmaligen Unterbrechungen werden die Unterbrechungszeiten im Rahmen der Prüfung der Einhaltung der Zweistundengrenze zusammengezählt (BSG, 28. 3. 1985, 2 RU 30/84, SozR 2200 § 550 Nr. 70). Hat der Versicherte einen erheblichen Umweg (vgl. Rz 246a) gewählt und in Verbindung mit diesem eine private Tätigkeit verrichtet, kommt es darauf an, ob er die Stelle, an der er wieder auf die übliche Wegstrecke trifft, maximal zwei Stunden später als ohne den Umweg erreicht hat (Schulin, HS UV, § 33 Rz 113).

Ausnahmen von der strikten Zeitgrenze von zwei Stunden (vgl. Rz 264) kommen aus Gründen der Rechtssicherheit nicht zu Lasten des Versicherten mit der Begründung in Betracht, dieser habe sich bereits endgültig der privaten Lebensgestaltung zugewandt (st. Rspr., vgl. BSG, 2. 12. 2008, B 2 U 26/06 R, BSGE 102, S. 111 ff., 117; abw. die frühere Rechtsprechung, vgl. BSG, 28. 6. 1963, 2 RU 132/62, SozR Nr. 41 zu § 543 RVO a. F.; dieser folgend KassKomm-Ricke, § 8 Rz 199). Entgegen älterer Rechtsprechung (BSG, 19. 5. 1983, 2 RU 79/82, SozR 2200 § 550 Nr. 55; BSG, 30. 1. 1985, 2 RU 59/83, SozR 2200 § 548 Nr. 67; neuere Entscheidungen des BSG nicht vorhanden) können Ausnahmen von der Zweistundengrenze auch nicht zugunsten des Versicherten zugelassen werden, wenn sich dieser bemüht hat, den Weg innerhalb von nicht mehr als zwei Stunden fortzusetzen (ebenso Benz, WzS 1997, S. 263 ff., 267; a. A. Krasney, SGb 2013, S. 313 ff., 318; Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 8 Rz 12.38). Der Versicherte kann mögliche Verzögerungen in seiner Zeitplanung einkalkulieren. Zudem ist es nicht unbillig, dass der Versicherte, der sich einer privaten Tätigkeit zuwendet, das Risiko einer entgegen seiner ursprünglichen Absicht längeren Unterbrechung als zwei Stunden trägt."

Die Kammer schließt sich den dargestellten Ausführungen an. Durch das Überschreiten der Zweistundengrenze für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit der Klägerin fehlt es an der Wiederaufnahme des versicherten Heimweges. Ein Wegeunfall ist nicht festzustellen.

Im Übrigen nimmt die Kammer Bezug auf den Widerspruchsbescheid vom 04.05.2017, § 136 Abs. 3 SGG.

Die klägerischen Einwände haben nicht rechtserheblich durchgegriffen, so dass die Klage vollumfänglich abzuweisen ist.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 S. 1 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache. Das Verfahren ist für die Klägerin gemäß § 183 S. 1 SGG gerichtskostenfrei. Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich aus § 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
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