L 4 SO 67/18 RG

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 67/18 RG
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Vereinbarkeit von § 24 SGB XII mit der Garantie der Unionsbürgerfreizügigkeit als Beschränkungsverbot
Die Gegenvorstellung des Antragstellers gegen den Beschluss des Senats vom 26. Februar 2018 wird zurückgewiesen.

Kosten werden nicht erstattet.

Gründe:

Die am 19. April 2018 über das Sozialgericht Kassel vollständig eingegangene Gegenvorstellung mit dem sinngemäß gestellten Antrag,

den Beschluss des Senats vom 26. Februar 2018 – L 4 SO 11/18 B ER – wegen der Verletzung von Unionsrecht abzuändern und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, dem Antragsteller Sozialhilfe für Deutsche im Ausland, zumindest nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII), zu gewähren,

ist jedenfalls unbegründet.

Die mit der Gegenvorstellung umfangreich vorgetragenen unionsrechtlichen Erwägungen greifen nicht durch und geben allein in zwei Punkten Anlass zu einer ergänzenden Begründung.

1. Der Antragsteller hat keinen Leistungsexportanspruch aus Art. 7 i.V.m. Art. 44 ff. der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) 883/2004), unter dem Gesichtspunkt, dass die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auch ein Bezug zum Risiko Invalidität habe und gleichsam eine exportierbare "Mindestrente" wäre. Das Verbot von Wohnortklauseln aus Art. 7 VO (EG) 883/2004 findet nach Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 keine Anwendung, da die Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII als beitragsunabhängige Geldleistungen zu Recht in Anhang X der Verordnung aufgenommen wurden und deshalb nur im Wohnstaat nach dessen Rechtsvorschriften gewährt werden (Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004). Hierfür spricht zunächst der Sozialhilfecharakter der Grundsicherung. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Grundsicherung eine eigenständige, vom Rentenanspruch unabhängige Sozialleistung und nicht lediglich ein vom Rentenversicherungsträger ausgezahlter Aufstockungsbetrag ist (vgl. Padé, jurisPR-SozR 23/2011 Anm. 1).

2. Die angegriffene Entscheidung verstößt auch nicht gegen Art. 20 und 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Zwar trifft es zu, dass unter bestimmten Voraussetzungen Unionsbürger gegen den Staat ihrer Staatsangehörigkeit Leistungsexportansprüche über die Funktion der Unionsbürgerfreizügigkeit als Beschränkungsverbot herleiten können. Eine nationale Regelung, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2006 – Rs. C-406/04 - De Cuyper, C-406/04, Slg. 2006, I-6947, Rn. 39; Urteil vom 23. Oktober 2007 - C-11/06 und C-12/06 - Morgan und Bucher, Slg. 2007, I-9161, Rn. 25; Urteil vom 18. Juli 2013, - C-523/11 und C-585/11 - Prinz und Seeberger, ECLI:EU:C:2013:524, zit. nach juris, Rn. 27; Urteil vom 24. Oktober 2013 – Rs. C-220/12 – Meneses, ECLI:EU:C:2013:683, zit. nach juris Rn. 22; zuletzt EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 – C-359/13 – Martens, ECLI:EU:C:2015:118). Jedoch sind nur solche Voraussetzungen rechtfertigungsbedürftig, die geeignet sind, Unionsbürger davon abzuhalten, ihr Freizügigkeitsrecht auszuüben, d.h. die Ausübung der Unionsbürgerfreizügigkeit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (stRspr zu allen Beschränkungsverboten, zuletzt EuGH, Urteil vom 22. März 2018 – Rs. C-327/16 und C-421/16 –, ECLI:EU:C:2018:210, zit. nach juris, Rn. 74 ff.; vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, § 7, Rn. 30; Mangold, in: Schlachter/Heinig, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EnzEuR Bd. 7), 2016, § 4, Rn. 78).

Insoweit bestehen bereits Zweifel daran, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 24 SGB XII geeignet sind, die Ausübung der Unionsbürgerfreizügigkeit zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Zum einen hindert in vielen Fällen das Fehlen ausreichender Existenzmittel das Entstehen eines Aufenthaltsrechts (vgl. Art. 7 Abs. 3 c) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004). Daher kann ein Leistungsexportanspruch bei existenzsichernden Leistungen grundfreiheitlich nicht geboten sein, wenn das Fehlen der Existenzmittel bereits die Grenzen der Freizügigkeit markiert. Zum anderen darf sich der Staat der Staatsangehörigkeit darauf verlassen, dass bei gewöhnlichem und materiell-rechtmäßigem Aufenthalt (vgl. EuGH, Urteil vom 11. November 2014, Rs. C-333/13 – Dano -, ECLI:EU:C:2014:2358) seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 i.V.m. Art. 21 AEUV jedenfalls vorübergehend bis zum Wegfall des Aufenthaltsrechts zu einem Leistungsanspruch im Aufenthaltsstaat verhilft (zur hier nicht einschlägigen Ausnahme beim Aufenthaltsrecht für Arbeitsuchende vgl. EuGH, Urteil vom 15. September 2015, Rs. C-67/14 – Alimanovic, ECLI:EU:C:2015:597). Hiervon geht auch § 24 Abs. 2 SGB XII aus. Im Übrigen dient die Regelung des § 24 Abs. 1 Satz 2 SGB XII dem Lückenschluss und als Härtefallkompensation, weshalb sie die Ausübung der Unionsbürgerfreizügigkeit gerade nicht weniger attraktiv machen dürfte. Den verbleibenden Fällen, in denen die hilfebedürftige Person zwar freizügigkeitsberechtigt ist, aber weder nach dem Recht des Aufenthaltsstaates noch unter den Bedingungen des Konsulargesetzes noch nach Maßgabe von § 24 SGB XII eine Leistungsgewährung in Betracht kommt, dürfte Ausnahmecharakter zukommen, so dass diese seltene Konstellationen nicht geeignet sein dürften, die Ausübung der Unionsbürgerfreizügigkeit generell zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.

Selbst wenn man im vorliegenden Fall, in dem der in A-Stadt wohnende deutsche Staatsangehörige wohl deshalb freizügigkeitsberechtigt ist, weil er aufgrund des Witwerrentenbezuges allein nach spanischem Maßstab nicht bedürftig ist und sein Krankenversicherungsschutz sichergestellt ist, im Leistungsausschluss des § 24 SGB XII eine Beschränkung sieht, so ist diese gerechtfertigt.

Die Anwendung des § 24 SGB XII verstößt im vorliegenden Fall nicht gegen die Unionsbürgerfreizügigkeit als Beschränkungsverbot, da der Antragsteller keine hinreichende tatsächliche Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland aufweist. Sowohl die (vorherige) Integration der antragstellenden Person als auch der Wille, das Bestehen einer gewissen Verbindung zwischen der Gesellschaft des leistenden Mitgliedstaats und dem Empfänger einer Sozialleistung zu überprüfen, sind objektive Erwägungen des Allgemeininteresses, die es rechtfertigen können, dass die Freizügigkeit der Unionsbürger möglicherweise durch die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung berührt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Oktober 2013 – Rs. C-220/12 – Meneses, ECLI:EU:C:2013:683, zit. nach juris Rn. 34 ; Urteil vom 26. Februar 2015 C 359/13 – Martens, ECLI:EU:C:2015:118, zit. nach juris Rn. 36). Die Verschärfungen in § 24 SGB XII im Vergleich zur ursprünglichen Fassung von § 119 BSHG haben den Zweck, die missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen zu reduzieren (Schlette, in: Hauck/Noftz, SGB, 09/16, § 24 SGB XII, Rn. 2), sie sind wegen dieser Zweckrichtung einer europarechtskonformen Auslegung am Maßstab des Kriteriums der "tatsächlichen Verbindung" zugänglich.

Insoweit ist festzustellen, dass der Antragsteller die Bundesrepublik Deutschland im Mai 2014 in Richtung Kuba verließ, wo er geboren wurde. Er reiste nur kurz im Februar 2015 nach Deutschland zurück und lebte bis März 2016 auf Kuba, von dort verzog er nach Spanien. Er spricht nach eigenen Angaben kaum die deutsche Sprache und will auch nicht in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren. Unter Würdigung all dieser Umstände ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller eine hinreichende tatsächliche Verbindung zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland aufweist, die den Leistungsausschluss als unangemessen erscheinen lassen könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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