L 1 U 1663/15

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 1 U 2772/13
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 1663/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 28. September 2015 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Neufassung der Unfallfolgen und die Entziehung einer vorläufig gewährten Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. zum 1. Juni 2013 wegen wesentlicher Besserung der Unfallfolgen.

Der 1991 geborene Kläger erlitt am 1. Juni 2010 als Auszubildender einen Arbeitsunfall, als er während der Arbeit als Dachdecker aus ca. 4 bis 5 m Höhe von einem Gerüst abstürzte. Dabei zog er sich eine Fraktur der Lendenwirbelkörper zu. Deswegen befand er sich vom 1. bis 9. Juni 2010 in stationärer Behandlung im S.-Krankenhaus N ... Prof. Dr. H. erstellte am 23. März 2011 ein Erstes Rentengutachten für die Beklagte und stellte als Unfallfolgen eine knöchern konsolidierte LWK 2 Fraktur mit Bewegungseinschränkungen in diesem Bereich, knöchern konsolidierte initial nicht verschobene Radiusfraktur ohne Einschränkungen und eine OSG-Distorsion rechts mit Schmerzen im Bereich des vorderen Außenbandes fest. Die MdE bezifferte er mit 10 v. H. Der Dipl.-Psych. U. diagnostizierte in seinem psychotraumatologischen Gutachten vom 30. Juni 2011 eine unfallabhängige spezifische Phobie im Sinne einer Höhenangst. Die MdE bewertete er mit 20 v. H. Mit Schreiben vom 23. April 2012 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die erneute Erstellung eines Ersten Rentengutachtens aufgrund des Zeitablaufes durch die bisherigen Sachverständigen erforderlich sei. Daraufhin erstatteten Prof. Dr. H. am 2. Mai 2012 erneut ein Erstes Rentengutachten. Er stellte fest, dass inzwischen das im Rahmen der Erstversorgung in die Lendenwirbelsäule eingebrachte Material komplett wieder entfernt worden war. Als wesentliche Unfallfolge wurde erneut eine knöchern konsolidierte LWK 2 Fraktur mit Bewegungseinschränkungen in diesem Bereich festgehalten und die MdE auf 10 v. H. eingeschätzt. In einem weiteren fachpsychotraumatologischem Gutachten vom 22. Mai 2012 sah der Dipl.-Psych. U. eine spezifische Phobie im Sinne einer Höhenangst erneut als Unfallfolge an. Die MdE wurde mit 10 v.H. eingeschätzt. Der Beratungsarzt der Beklagten, der Chirurg Dr. S., bezifferte in einer Stellungnahme vom 4. Juli 2012 die MdE auf chirurgischem Fachgebiet mit 20 v. H. Dem Vorschlag von Prof. Dr. H., die MdE mit 10 v. H. einzuschätzen, könne nicht gefolgt werden. Nach knöcherner Verletzung des zweiten Lendenwirbelkörpers sei operativ eine Versteifung der Bewegungssegmente LWK 1/2 und LWK 2/3 erfolgt. Die Metallentfernung sei im März 2011 erfolgt. Es müsse von einem Bewegungsverlust der Bewegungssegmente LWK 1/2 und LWK 2/3 ausgegangen werden. Dies rechtfertige eine MdE von 20 v. H. In einer weiteren Stellungnahme vom 11. Juli 2012 schlug er unter Einbeziehung der Höhenphobie eine Gesamt-MdE von 30 v. H. vor.

Daraufhin erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 15. August 2012 das Ereignis vom 1. Juni 2010 sinngemäß als Arbeitsunfall und als Folgen des Arbeitsunfalles an: "Bewegungseinschränkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule nach LWK II Fraktur mit Bewegungsverlust der Segmente LWK 1/2 und LWK 2/3 nach operativer Stabilisierung so-wie nachfolgender Materialentfernung, spezifische Phobie im Sinne einer Höhenangst nach Absturzereignis". Sie bewilligte ab dem 14. Mai 2012 eine Rente als vorläufige Entschädi-gung nach einer MdE von 30 v. H. bis auf weiteres.

Mit Gutachten vom 7. Februar 2013 zur Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit stellten Dr. D./Prof. Dr. H. eine knöchern konsolidierte Fraktur des zweiten Lendenwirbelkörpers mit geringen Bewegungseinschränkungen als Unfallfolge fest. Die MdE wurde auf 10 v. H. beziffert. Der Dipl.-Psych. U. bezifferte in einer gutachterlichen Stellungnahme vom 4. April 2013 die MdE aufgrund der nach wie vor vorliegenden Phobie im Sinne einer spezifischen Höhenangst mit 10 v. H. Der Beratungsarzt der Beklagten Dr. M. schloss sich in einer Stellungnahme vom 18. April 2013 diesen Einschätzungen an und bezifferte die Gesamt-MdE auf unter 20 v. H.

Daraufhin hörte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 30. April 2013 zu einer beabsichtigten Entziehung der vorläufig gewährten Verletztenrente an. Entscheidend allein sei die neue Beurteilung der nunmehr vorliegenden Folgen des Versicherungsfalles. Danach bestehe im Bereich der Lendenwirbelsäule nach LWK II Fraktur nur noch eine geringe Bewegungseinschränkung. Mit Bescheid vom 22. Mai 2013 entzog die Beklagte dem Kläger die bislang gewährte Verletztenrente mit Ablauf des Monats Mai 2013. Die MdE könne jetzt für einen längeren Zeitraum beurteilt werden. Aufgrund der nachstehenden Folgen des Arbeitsunfalles "Geringe Bewegungseinschränkung im Bereich der Lendenwirbelsäule nach LWK II Fraktur, spezifische Phobie im Sinne einer Höhenangst nach Absturzereignis" bestehe keine rentenberechtigende MdE mehr. Ein hiergegen durch den Kläger eingelegter Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2013 zurückgewiesen.

Dagegen hat der Kläger vor dem Sozialgericht Nordhausen Klage erhoben, die mit Urteil vom 28. September 2015 abgewiesen wurde. Das Ausmaß der gesamten Einschränkungen im Falle des Klägers erreiche keine rentenberechtigende MdE von 20 v. H. Nach den im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten seien im Bereich der Lendenwirbelkörper nur sehr geringfügige tatsächliche Funktionseinschränkungen verblieben. Hinzu komme die Höhenphobie.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Eine unabhängige Begutachtung seiner Beschwerden im Lendenwirbelbereich sei erforderlich. Er habe Physiotherapie in Anspruch nehmen müssen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 28. September 2015 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2013 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, es sei eine wesentliche Verbesserung in den Unfallfolgen und den tatsächlichen Funktionseinschränkungen des Klägers eingetreten. Dies berechtige nach § 62 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) dazu, sowohl die Unfallfolgen neu zu fassen, als auch die vorläufig gewährte Verletztenrente zu entziehen.

Der Senat hat im Berufungsverfahren ein orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten vom 25. Oktober 2017 von Dr. N. eingeholt. Als unfallabhängige Gesundheitsstörungen liegt demnach aktuell ein in leichter Keilform verheilter Bruch des zweiten Lendenwirbelkörpers, ein folgenlos ausgeheilter körperferner Speichenbruch rechts und eine folgenlos ausgeheilte Distorsion des rechten oberen Sprunggelenkes vor. Auf psychiatrischem Fachgebiet besteht eine spezifische Phobie im Sinne einer Höhenangst. Hinsichtlich der Höhe der MdE ab dem 1. Juni 2013 sei zu beachten, dass die Fraktur des zweiten Lendenwirbelkörpers unfallnah durch eine hintere Versteifung vom ersten bis dritten Lendenwirbelkörper, also über zwei Segmente, temporär stabilisiert worden sei. Das eingebrachte Material sei am 10. März 2011 entfernt worden. Nach den Feststellungen im Bescheid vom 15. August 2012 bestehe im Bereich der Segmente LWK 1/2 und LWK 2/3 ein Bewegungsverlust. Die Versteifung von zwei Segmenten der Lendenwirbelsäule sei nach den Erfahrungswerten mit 20 v. H. zu bewerten. Diese Feststellungen in dem Bescheid vom 15. August 2012 entsprächen nunmehr aber nicht mehr den Tatsachen. Bei einem Jugendlichen verbleibe nach Entfernung des stabilisierenden Materials aus der Wirbelsäule noch temporär ein Bewegungsverlust von ca. 6 Monaten. Dann stelle sich eine Beweglichkeit der entsprechenden Wirbelsäulensegmente ein. Dies sei beim Kläger der Fall. Eine derartige Beweglichkeit sei bereits im Rahmen des Zweiten Rentengutachtens am 7. Februar 2013 dokumentiert. Die aktuelle Röntgenuntersuchung der Lendenwirbelsäule zeige eine geringe Keilwirbelbildung von 10° und einen stabil ausgeheilten Wirbelbruch. Dies werde nach den Erfahrungswerten mit einer MdE von 10 v. H. bewertet. Unter Einbeziehung der fachspezifischen MdE-Empfehlung von 10 v. H. für die Höhenphobie sei eine Gesamt-MdE von weniger als 20 v.H. in Höhe von 15 v. H. zu empfehlen. Gehe man von dem mit Bescheid vom 15. August 2012 festgestellten Bewegungsverlust zweier Wirbelsäulensegmente aus, ergebe sich eine Gesamt-MdE von 20 v. H.

Der Berichterstatter hat in einem Erörterungstermin vom 22. Januar 2018 die Beteiligten darauf hingewiesen, dass als Rechtsgrundlage des Bescheides vom 22. Mai 2013 hinsichtlich der Entziehung der vorläufig gewährten Verletztenrente § 62 SGB VII und hinsichtlich der neugefassten Folgen des Arbeitsunfalles § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) in Betracht kommt.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass sich aus einer Entscheidung des BSG vom 16. März 2010 - B 2 U 2/09 R (zitiert nach Juris) die Möglichkeit ergibt, auch nach § 62 SGB VII eine Konkretisierung der Unfallfolgen vorzunehmen.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Beklagtenakten, die Gegenstand der Beratung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

In Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Berufung des Klägers ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg (§§ 143, 151 SGG). Gegenstand des Rechtsstreits ist die mit Bescheid vom 22. Mai 2013 verfügte Entziehung der gewährten Rente als vorläufige Entschädigung mit Wirkung ab 1. Juni 2013 und die Frage, ob der Kläger ab diesem Zeitpunkt eine Rente auf Dauer beanspruchen kann. Der geltend gemachte Anspruch kann im Rahmen einer Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG geltend gemacht werden. Denn mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides gelten die Feststellungen des Bescheides der Beklagten vom 15. August 2012, den der Kläger seinerzeit nicht angefochten hatte. Gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII wird eine zunächst nur als vorläufige Entschädigung gewährte Rente mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall durch Zeitablauf kraft Gesetzes als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Dadurch entfällt der Vorläuflichkeitsvorbehalt in dem den Rentenanspruch feststellendem Verwaltungsakt unmittelbar (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 2010 - B 2 U 2/09 R -, zitiert nach Juris). Dementsprechend reicht ein Anfechtungsantrag aus, um die Rechtsschutzziele des Klägers zu erreichen.

Die Berufung hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das Sozialgericht Nordhausen hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 22. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2013 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 SGG).

Zunächst ist festzuhalten, dass der hier streitgegenständliche Bescheid vom 22. Mai 2013 zwei Verfügungssätze enthält. Die materielle Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes beschränkt sich nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich auf den Entschei-dungsausspruch, den sogenannten Verfügungssatz. Ein Verwaltungsakt kann dabei mehrere Verfügungssätze enthalten (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 36/03 R -, zitiert nach Juris). Sofern Verwaltungsakte keine strenge Trennung zwischen Verfügungssatz und Begründung aufweisen, ist die gesamte Begründung daraufhin zu prüfen, inwieweit sie für einen Verwaltungsakt typische, der Bindung fähige Regelungen vornimmt. Selbst wenn Verfügungssatz und Begründung klar voneinander getrennt sind, können Teile der Begründung eines Verwaltungsakts als weiterer Verfügungssatz gewertet werden, wenn ihnen unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten nach dem jeweils anzuwendenden materiellen Recht eine solche Bedeutung zukommt. Dies ist hier hinsichtlich der nicht erfolgten förmlichen Trennung von Verfügungssatz und Begründung für die neu festgestellten Unfallfolgen der Fall. Denn neben einem Verfügungssatz über die Entziehung einer Rente als vorläufig gewährte Entschädigung mit Ablauf des Monats Mai 2013 und der Feststellung, dass wegen der Folgen des Arbeitsunfalles kein Anspruch auf Rente auf unbestimmte Zeit besteht, werden die Folgen des Arbeitsunfalles vom 1. Juni 2010 nicht nur im Rahmen der Begründung der von der Beklagten festgesetzten MdE herangezogen, sondern vom Begründungstext des Bescheides abgesetzt in einem Absatz präzise aufgelistet. Die Beklagte hat daher sowohl die Entziehung der vorläufig gewährten Rente mit Ablauf des Monats Mai 2013 als auch die Neufeststellung der Folgen des Arbeitsunfalles vom 1. Juni 2010 mit Bindungswillen getroffen. Die Neufestsetzung der Folgen des Arbeitsunfalles weicht auch von der mit Bescheid vom 15. August 2012 erfolgten Festsetzung der Unfallfolgen ab. Denn damals wurde noch ein Bewegungsverlust in den Segmenten LWK 1/2 und LWK 2/3 als Unfallfolge ausdrücklich festgestellt. Der Bewegungsverlust in den Segmenten war Teil des Verfügungssatzes des Bescheides vom 15. August 2012 und wurde nicht nur zur Begründung der Höhe der MdE herangezogen. Dies folgt bereits daraus, dass der Bewegungsverlust in den Teil des Verfügungssatzes des Bescheides vom 15. August 2012, der die Unfallfolgen definierte, aufgenommen wurde. Die Auslegung des Bescheides anhand der entsprechend anwendbaren §§ 133,157 BGB ergibt, dass auch der Bewegungsverlust in den Segmenten bindend als Unfallfolge anerkannt werden sollte.

Da sich die gerichtliche Prüfung der Höhe der unfallbedingten MdE grundsätzlich auf die anerkannten Unfallfolgen beschränkt, ist zunächst zu überprüfen, ob die in dem Bescheid vom 22. Mai 2013 erfolgte Neufassung der Unfallfolgen von einer Rechtsgrundlage gedeckt ist. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass § 62 SGB VII keine wirksame Rechtsgrundlage für die Aufhebung mit Bindungswirkung festgestellter Unfallfolgen darstellt. § 62 SGB VII verdrängt in seinem Anwendungsbereich die generelle Regelung des § 48 SGB X. Die in § 48 SGB X enthaltene Ermächtigung zur Aufhebung von Verwaltungsakten findet keine Anwendung, wenn und solange es speziell um die Änderung, Aufhebung oder Ersetzung von vorläufigen Feststellungen eines Rentenanspruches in der gesetzlichen Unfallversicherung bis zum Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsunfall geht (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 2010 – B 2 U 2/09 R –, BSGE 106, 43-48). Die Bindungswirkung des die vorläufige Rente gewährenden Bescheides wird lediglich hinsichtlich des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit beseitigt, wie sich § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII deutlich entnehmen lässt. Der Wortlaut der Vorschrift ist insoweit eindeutig. Danach kann bei der Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit nur der Vomhundertsatz der Minderung der Erwerbsfähigkeit abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Im Übrigen bleibt die Bindungswirkung dieses Bescheides jedoch bestehen. Damit besteht grundsätzlich eine Bindung an die Anerkennung des Unfalles als Arbeitsunfall, an die festgestellten Unfallfolgen und an die Festsetzung des Jahresarbeitsverdienstes (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Februar 2013 - L 9 U 1265/09 -, zitiert nach Juris; Heinz in Krasney u.a., SGB VII, Stand: Januar 2018, § 62 Rn.21; Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 2017, § 62 Rn. 10). Der Senat folgt insoweit nicht der Auffassung der Be-klagten, wonach im Urteil des BSG vom 16. März 2010 - B 2 U 2/09 R - insbesondere unter Berücksichtigung der Rdn. 15 und 18 auf eine Befugnis zur Konkretisierung von Unfallfolgen erkannt worden ist. Den dortigen Ausführungen des BSG lässt sich nicht entnehmen, dass über die fehlende Bindung an die Höhe der zunächst vorläufig festgestellten MdE auch die Unfallfolgen in einem gewissen Umfang konkretisiert werden können. Die insbesondere in Rdn. 18 der genannten Entscheidung gemachten Ausführungen des BSG, dass die Vorschrift des § 62 SGB VII der Erfahrung Rechnung trägt, dass die Folgen eines Versicherungsfalles häufig noch auch kurzfristig eintretenden Veränderungen unterliegen, lässt sich nicht entnehmen, dass dies dazu berechtigt, Unfallfolgen losgelöst von bindend festgestellten neu zu definieren. Dafür sprechen schon die vom BSG gewählten Beispiele wie Anpassung und Gewöhnung an die Folgen eines Versicherungsfalles, etwa durch Entwicklung von Ausgleichsfunktionen und durch das Erlernen des Umgangs mit verletzten Gliedmaßen. Damit wird der Erfahrung Ausdruck verliehen, dass die tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigungen bei einem Betroffenen sich im Laufe der Zeit noch bessern können. Dies betrifft aber ausschließlich die Höhe der MdE und ändert an den Unfallfolgen nichts.

Daher kann Rechtsgrundlage hinsichtlich der Neufassung der Unfallfolgen nur § 48 SGB X sein. Soweit der Bescheid vom 22. Mai 2013 als Unfallfolge auf chirurgischem Fachgebiet nunmehr nur noch eine geringe Bewegungseinschränkung im Bereich der Lendenwirbelsäule nach LWK II Fraktur im Gegensatz zu der mit Bescheid vom 15. August 2012 festgestellten Versteifung zweier Segmente der Lendenwirbelsäule feststellt, findet er seine Rechtsgrundlage in § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Letzteres ist nach Erlass des Bescheides vom 15. August 2012, der die zum damaligen Zeitpunkt bestehenden Unfallfolgen rechtmäßig festgestellt hat, erfolgt. Die formellen Voraussetzungen für die Neufassung der Unfallfolgen liegen vor. Insbesondere liegt die erforderliche Anhörung (§ 24 SGB X) vor. Mit Schreiben vom 30. April 2013 hat die Beklagte den Kläger nicht nur hinsichtlich der Entziehung der vorläufig gewährten Verletztenrente angehört, sondern auch hinsichtlich der Neufassung der Unfallfolgen.

Der Verwaltungsakt vom 15. August 2012 unterliegt hinsichtlich der Unfallfolgen der Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, denn er ist ein solcher mit Dauerwirkung. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn eine durch Verwaltungsakt getroffene Regelung in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus Wirkungen erzeugt (vgl. Brandenburg in jurisPK-SGB X § 48 Rn. 51). Da der Verwaltungsakt vom 15. August 2012 Unfallfolgen festgestellt hat, hat er Dauerwirkung. Eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen liegt nicht vor, jedoch ist eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten, wie ein Vergleich der zu den hier maßgeblichen Zeitpunkten bestehenden Unfallfolgen ergibt. Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ist jede Änderung des für die getroffene Regelung relevanten Sachverhalts (vgl. Schütze in von Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014, § 48 Rn. 8). In Betracht kommen für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung insbesondere Änderungen im Gesundheitszustand des Betroffenen (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R -, BSGE 93, 63). Im Rahmen der hier geführten Anfechtungsklage ist die Frage, ob eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist, durch Vergleich der tatsächlichen Verhältnisse zu zwei maßgeblichen Zeitpunkten zu ermitteln. Bei der Prüfung einer wesentlichen Änderung von Unfallfolgen kommt es zum einen auf die - zum Zeitpunkt der letzten bindend gewordenen Feststellung - tatsächlich bestehenden gesundheitlichen Verhältnisse an, die ursächlich auf dem Unfall beruhen. Diese sind mit den bestehenden unfallbedingten Gesundheitsverhältnissen zu vergleichen, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungsbescheids vorgelegen haben (zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Anfechtungsklage, BSG, Urteil vom 23.10.2003 - B 4 RA 27/03 R -). Die jeweils bestehenden gesundheitlichen Verhältnisse kommen insbesondere in den medizinischen Gutachten zum Ausdruck, die über die Unfallfolgen zum Zeitpunkt der maßgeblichen Bewilligung und vor der Entscheidung über eine Aufhebung eingeholt worden sind (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R -, BSGE 93, 63). Dagegen ist für die Beurteilung der (rechtlichen) Wesentlichkeit der Änderung von dem Tenor des bindend gewordenen Verwaltungsakts aus-zugehen.

Damit sind im vorliegenden Fall die medizinischen Befunde Vergleichsgrundlage, die dem Erlass des Bescheides am 15. August 2012 zugrunde lagen, also das Ersten Rentengutachten auf chirurgischem Fachgebiet von Prof. Dr. H ... Auf dieser Grundlage hat die Beklagte die Unfallfolgen mit Bescheid vom 15. August 2012 festgestellt. Die Ausführungen in dem Bescheid hinsichtlich eines Bewegungsverlustes in zwei Wirbelsäulensegmenten nahmen dabei auch an der Bindungswirkung des Bescheides teil. Diese Befunde sind mit den Befunden aus dem Zweiten Rentengutachten durch Prof. Dr. H. zu vergleichen. Daraus ergibt sich, dass die Versteifung zweier Wirbelsäulensegmente nunmehr nicht mehr gegeben ist. Dies wird auch durch das vom Senat in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten von Dr. N. vom 25. Oktober 2017 bestätigt. Dieser hat den Fortfall des vollständigen Bewegungsverlustes nachvollziehbar mit dem weiteren Heilungsverlauf nach der erfolgten Metallentfernung erklärt. Da die Entscheidung nach § 48 SGB X als gebundene Entscheidung ergeht, waren Ermessenserwägungen nicht erforderlich.

Die des Weiteren in dem Bescheid vom 22. Mai 2013 verfügte Entziehung der vorläufig gewährten Verletztenrente mit Ende des Monats 2013 findet ihre Rechtsgrundlage in § 62 SGB VII. Der angefochtene Verfügungssatz ist insoweit formell und materiell rechtmäßig. Die Beklagte hat nach Anhörung des Klägers hinreichend bestimmt erklärt, dass sie die Feststellung des Rechts auf Rente als vorläufige Entschädigung aufhebt. Zwar hat sie den Bescheid vom 15. August 2012 nicht ausdrücklich erwähnt. Dies ist jedoch ausnahmsweise unschädlich, denn ein objektiver Erklärungsempfänger konnte dem Bescheid vom 22. Mai 2013 entnehmen, dass dieser den Verwaltungsakt vom 15. August 2012 aufhob, durch den das Recht vorläufig festgestellt worden war. Auch wenn aus den Umständen des Einzelfalles hier noch hinreichend erkennbar war, ist es generell erforderlich in der Aufhebungsentscheidung den Verwaltungsakt genau zu benennen, der aufgehoben werden soll. Auch der genaue Umfang seiner Aufhebung ist festzulegen.

Die weiteren Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII liegen vor. Die Beklagte hatte mit Bescheid vom 15. August 2012 dem Kläger eine Rente als vorläufige Entschädigung gewährt. Der Vorbehalt erleichterter Abänderbarkeit ist nicht kraft Gesetzes nach § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII entfallen, weil der Dreijahreszeitraum bei Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes noch nicht verstrichen war. Seit dem Versicherungsfall vom 1. Juni 2010 waren keine drei Jahre vergangen. Der Bescheid vom 22. Mai 2013 ist hinsichtlich der Entziehung der vorläufig gewährten Rente bereits zum 1. Juni 2010 auch materiell wirksam geworden.

Der Kläger hat wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 1. Juni 2010 ab dem 1. Juni 2013 keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente. Die Folgen des Arbeitsunfalles errei-chen nicht die für eine Rentenberechtigung erforderliche Höhe.

Nach § 56 Abs. 1 SGB VII haben Versicherte in Folge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus Anspruch auf Gewährung von Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. gemindert ist. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die durch den Arbeitsunfall am 1. Juni 2010 verursachte MdE ist mit unter 20 v. H. einzu-schätzen. Bei dem Kläger sind an dem rechten Arm keine funktionellen Störungen vorhanden, die eine MdE in rentenberechtigendem Grade rechtfertigen oder vergleichbar sind mit solchen Einschränkungen, die eine MdE in rentenberechtigendem Grade bedingen.

Die Bemessung des Grades der MdE ist eine Tatsachenfeststellung, die das Gericht nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermö-gen des Versicherten ist dabei die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an (vgl. BSG, Urteil vom 2. Mai 2001 - B 2 U 24/00 R -, zitiert nach Juris). Bei der Bewertung der MdE ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher maßgebend, sondern vielmehr der damit verbundene Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (vgl. BSG, Urteile vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R - und vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R -, beide zitiert nach Juris). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind (vgl. BSG, Urteil vom 23. April 1987 - 2 RU 42/86 -, zitiert nach Juris). Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und medizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend sind, aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden (vgl. BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 11/15 R -, zitiert nach Juris).

In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich für den Kläger in Ermangelung eines Stützren-tentatbestandes kein Rentenanspruch. Denn die durch den Arbeitsunfall vom 1. Juni 2010 verursachten Funktionsbeeinträchtigungen rechtfertigen keine MdE in Höhe von 20 v. H.

Beim Kläger fand sich am Tag der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. N. und im Rahmen der Untersuchung des Zweiten Rentengutachtens an tatsächlichen Funktionsein-schränkungen eine geringe Keilwirbelbildung von 10° bei stabil ausgeheiltem Wirbelbruch. Hierfür hat der Sachverständige Dr. N. in seinem Gutachten vom 25. Oktober 2017 entspre-chend den Erfahrungswerten (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 465) eine MdE von 10 v. H. vorgeschlagen. Dem entsprechen die durch den Sachverständigen und auch im Rahmen der zweiten Rentenbegutachtung durch Prof. Dr. H. festgestellten Bewegungsausmaße. Hinzu kommt auf psychiatrischem Fachgebiet die MdE für die spezifische Phobie im Sinne einer Höhenangst im Umfang von 10 v.H. Dies entspricht ebenfalls den Erfahrungswerten (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 171). Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung hier unzutreffend sein sollte, bestehen nicht. Im Rahmen der Bildung der Gesamt-MdE ergibt sich, dass die MdE insgesamt mit unter 20 v. H. zu bemessen ist. Eine Addition einzelner Teil-MdE Werte ist grundsätzlich ausgeschlossen. Vielmehr sind die Werte in "Gesamtschau der Gesamteinwirkung aller einzelner Schäden auf die Erwerbsfähigkeit" integrierend zusammenzufassen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 131). Die Funktionseinbußen des Klägers auf psychiatrischem und chirurgischem Fachgebiet überschneiden sich. Denn bestimmte handwerkliche Tätigkeiten sind sowohl aufgrund der verbliebenen Beeinträchtigung im Rahmen der Lendenwirbelsäule als auch aufgrund der bestehenden Höhenangst verschlossen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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