Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 2 R 436/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 18 R 1101/17 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 30.11.2017 geändert. Dem Kläger wird für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Aachen Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt U aus B als Rechtsanwalt seiner Wahl beigeordnet. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht (SG) abgelehnt, Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint, §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 114 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Die Rechtsverfolgung, nämlich die Klage gegen den Bescheid vom 24.4.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.6.2017, bietet bei summarischer Prüfung hinreichende Aussicht auf Erfolg. Für die Annahme hinreichender Erfolgsaussicht ist nicht erforderlich, dass dem Kläger die streitige Maßnahme der medizinischen Rehabilitation (Entwöhnungsbehandlung) mit hoher Wahrscheinlichkeit zuzusprechen ist. Es genügt, dass eine - nicht ganz entfernt liegende - Möglichkeit des Obsiegens besteht. Das ist der Fall, wenn der Ausgang des Verfahrens offen ist, weil entweder weitere Ermittlungen von Amts wegen erforderlich sind oder eine schwierige, noch ungeklärte Rechtsfrage zu beantworten ist (stRspr des Senats; vgl. dazu Bundesverfassungsgericht(BVerfG), Beschlüsse vom 20.2.2002, Aktenzeichen (Az) 1 BvR 1450/00, vom 29.9.2004, Az. 1 BvR 1281/04 und vom 19.2.2008, Az. 1 BvR 1807/07 = NJW 2008, 1060 ff). So liegt der Fall hier.
Der Ausgang des Verfahrens ist entgegen der Auffassung des SG offen. Zum einen sind zur abschließenden Beantwortung der streiterheblichen Frage, ob der Kläger die persönlichen Voraussetzungen für die beantragte Rehabilitationsmaßnahme (§§ 10 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), 30 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)) mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit (Beweismaßstab des Vollbeweises) erfüllt, weitere Ermittlungen von Amts wegen erforderlich sind, deren Ausgang offen ist. Zum anderen handelt es sich, soweit das SG die Erfolgsaussicht der Klage mit der Begründung verneint hat, der Ausschlussgrund des § 12 Abs 1 Nr 5 SGB VI finde Anwendung (Anschluss an LSG Hessen, Beschl v 6.1.2011, Aktenzeichen (Az) L 5 R 486/10 B ER und v 9.6.2011, Az L 5 R 170/11 B ER), um eine ungeklärte Rechtsfrage. Eine ungeklärte Rechtsfrage darf nicht bereits im PKH-Verfahren abschließend beantwortet werden (BVerfG NJW 1994, 241f; BVerfG NJW 2003, 1857f BVerfG NJW 2004, 1789f; BVerfG NJW 2008, 1060ff). Entscheidend für die Beantwortung der Rechtsfrage "Ist der Anspruch auch in Fällen des § 35 Abs 1 S 1 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) nach § 12 Abs 1 Nr 5 SGB VI ausgeschlossen?" ist, wie die Normenkollision zwischen diesen Vorschriften zu lösen ist, um das in § 35 Abs 1 BtMG zum Ausdruck kommende Konzept "Therapie statt Strafe" sachgerecht umzusetzen. Denkbar ist eine Lösung nach der allgemeinen Kollisionsregel "lex specialis derogat legi generali". Die Rentenversicherungsträger selbst wenden zur sachgerechten Umsetzung des Konzepts § 12 Abs 1 Nr 5 SGB VI bereits nicht an, wenn eine Zurückstellung nach § 35 Abs 1 S 1 BtMG möglich ist (vgl dazu die Ergänzung der Abteilungsverfügung Nr 3/2015 Reha der DRV Westfalen vom 11.12.2017). Die Beklagte hat zwischenzeitlich zugestanden, auch in diesem Verfahren grundsätzlich entsprechend verfahren zu wollen. Die vom SG in Bezug genommene Rechtsprechung des LSG Hessen spiegelt dagegen nicht die herrschende Auffassung in der Rechtsprechung wider (abweichend zB: LSG Sachsen-Anhalt, Beschl v 30.3.2015, Az L 6 KR 71/14 und OLG Karlsruhe, Beschl v 4.3.2016, Az 2 VAs 72/15 sowie bereits SG Fulda, Beschl v 30.3.2011, Az S 3 R 85/11 ER). Wie die Verfügung des Rentenversicherungsträgers genau zu lauten hat, um den Anforderungen des § 35 Abs 1 S 1 BtMG zu genügen ("[ ...] und deren Beginn gewährleistet ist."), ist an dieser Stelle nicht abschließend zu entscheiden. Denkbar wäre zB eine Kollisionslösung (s.o.) im Sinne einer befristeten Zusage "Die Maßnahme beginnt unverzüglich (oder: binnen [ ...] Tagen/Wochen) nach Aussetzung der Vollstreckung".
Auch im Hinblick auf den Aufenthaltsstatus des Klägers ist der Ausgang des Verfahrens offen. Denn der Landrat des Rhein-Kreises Neuss als zuständige Ausländerbehörde hat die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 4 S 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz-AufEnthG) nicht abgelehnt, sondern das Verfahren ausgesetzt. Er hat gleichzeitig deutlich gemacht, dass ein Bleiberecht in Deutschland bestehe, wenn der Kläger eine Entwöhnungsmaßnahme erfolgreich durchführt, straffrei bleibt und das Umgangsrecht mit seinem 2012 geborenen Sohn weiter wahrnimmt. Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen es sich bei dem genannten Aufenthaltstitel um einen "zukunftsoffenen" Aufenthaltstitel handelt oder ob dem Kläger wegen seiner aufenthaltsrechtlichen Vorgeschichte ggf. ein sonstiger Aufenthaltstitel zusteht, ist ebenfalls nicht vorab im PKH-Verfahren zu entscheiden. Ist ein "zukunftsoffener" Aufenthaltstitel maßgeblich von einer erfolgreichen Entwöhnung abhängig, kann diese nicht a priori wegen des (noch) fehlenden "zukunftsoffenen" Aufenthaltstitels abgelehnt werden. Über den Aufenthaltstitel kann in einem solchen erst nach Durchführung (oder bestandskräftiger Ablehnung) der Rehabilitationsmaßnahme abschließend entschieden werden. Zuvor muss genügen, dass dieser ernsthaft in Betracht kommt. Das ist nach den Äußerungen der Ausländerbehörde vom 6.12.2016 hier der Fall.
Da in Verfahren wie dem vorliegenden regelmäßig nicht einfach zu beurteilende Tatsachen- und Rechtsfragen zu beantworten sind, ist die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich, § 121 Abs 2 ZPO.
Der Kläger ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht, auch nicht zum Teil oder in Raten, in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, § 115 ZPO. Er verfügt nicht über nennenswertes eigenes Einkommen oder Vermögen und hat überdies noch Unterhaltsrückstände auszugleichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 73 a Abs 1 Satz 1 SGG, 127 Abs 4 ZPO.
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Gründe:
Die Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht (SG) abgelehnt, Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint, §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 114 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Die Rechtsverfolgung, nämlich die Klage gegen den Bescheid vom 24.4.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.6.2017, bietet bei summarischer Prüfung hinreichende Aussicht auf Erfolg. Für die Annahme hinreichender Erfolgsaussicht ist nicht erforderlich, dass dem Kläger die streitige Maßnahme der medizinischen Rehabilitation (Entwöhnungsbehandlung) mit hoher Wahrscheinlichkeit zuzusprechen ist. Es genügt, dass eine - nicht ganz entfernt liegende - Möglichkeit des Obsiegens besteht. Das ist der Fall, wenn der Ausgang des Verfahrens offen ist, weil entweder weitere Ermittlungen von Amts wegen erforderlich sind oder eine schwierige, noch ungeklärte Rechtsfrage zu beantworten ist (stRspr des Senats; vgl. dazu Bundesverfassungsgericht(BVerfG), Beschlüsse vom 20.2.2002, Aktenzeichen (Az) 1 BvR 1450/00, vom 29.9.2004, Az. 1 BvR 1281/04 und vom 19.2.2008, Az. 1 BvR 1807/07 = NJW 2008, 1060 ff). So liegt der Fall hier.
Der Ausgang des Verfahrens ist entgegen der Auffassung des SG offen. Zum einen sind zur abschließenden Beantwortung der streiterheblichen Frage, ob der Kläger die persönlichen Voraussetzungen für die beantragte Rehabilitationsmaßnahme (§§ 10 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), 30 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)) mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit (Beweismaßstab des Vollbeweises) erfüllt, weitere Ermittlungen von Amts wegen erforderlich sind, deren Ausgang offen ist. Zum anderen handelt es sich, soweit das SG die Erfolgsaussicht der Klage mit der Begründung verneint hat, der Ausschlussgrund des § 12 Abs 1 Nr 5 SGB VI finde Anwendung (Anschluss an LSG Hessen, Beschl v 6.1.2011, Aktenzeichen (Az) L 5 R 486/10 B ER und v 9.6.2011, Az L 5 R 170/11 B ER), um eine ungeklärte Rechtsfrage. Eine ungeklärte Rechtsfrage darf nicht bereits im PKH-Verfahren abschließend beantwortet werden (BVerfG NJW 1994, 241f; BVerfG NJW 2003, 1857f BVerfG NJW 2004, 1789f; BVerfG NJW 2008, 1060ff). Entscheidend für die Beantwortung der Rechtsfrage "Ist der Anspruch auch in Fällen des § 35 Abs 1 S 1 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) nach § 12 Abs 1 Nr 5 SGB VI ausgeschlossen?" ist, wie die Normenkollision zwischen diesen Vorschriften zu lösen ist, um das in § 35 Abs 1 BtMG zum Ausdruck kommende Konzept "Therapie statt Strafe" sachgerecht umzusetzen. Denkbar ist eine Lösung nach der allgemeinen Kollisionsregel "lex specialis derogat legi generali". Die Rentenversicherungsträger selbst wenden zur sachgerechten Umsetzung des Konzepts § 12 Abs 1 Nr 5 SGB VI bereits nicht an, wenn eine Zurückstellung nach § 35 Abs 1 S 1 BtMG möglich ist (vgl dazu die Ergänzung der Abteilungsverfügung Nr 3/2015 Reha der DRV Westfalen vom 11.12.2017). Die Beklagte hat zwischenzeitlich zugestanden, auch in diesem Verfahren grundsätzlich entsprechend verfahren zu wollen. Die vom SG in Bezug genommene Rechtsprechung des LSG Hessen spiegelt dagegen nicht die herrschende Auffassung in der Rechtsprechung wider (abweichend zB: LSG Sachsen-Anhalt, Beschl v 30.3.2015, Az L 6 KR 71/14 und OLG Karlsruhe, Beschl v 4.3.2016, Az 2 VAs 72/15 sowie bereits SG Fulda, Beschl v 30.3.2011, Az S 3 R 85/11 ER). Wie die Verfügung des Rentenversicherungsträgers genau zu lauten hat, um den Anforderungen des § 35 Abs 1 S 1 BtMG zu genügen ("[ ...] und deren Beginn gewährleistet ist."), ist an dieser Stelle nicht abschließend zu entscheiden. Denkbar wäre zB eine Kollisionslösung (s.o.) im Sinne einer befristeten Zusage "Die Maßnahme beginnt unverzüglich (oder: binnen [ ...] Tagen/Wochen) nach Aussetzung der Vollstreckung".
Auch im Hinblick auf den Aufenthaltsstatus des Klägers ist der Ausgang des Verfahrens offen. Denn der Landrat des Rhein-Kreises Neuss als zuständige Ausländerbehörde hat die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 4 S 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz-AufEnthG) nicht abgelehnt, sondern das Verfahren ausgesetzt. Er hat gleichzeitig deutlich gemacht, dass ein Bleiberecht in Deutschland bestehe, wenn der Kläger eine Entwöhnungsmaßnahme erfolgreich durchführt, straffrei bleibt und das Umgangsrecht mit seinem 2012 geborenen Sohn weiter wahrnimmt. Ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen es sich bei dem genannten Aufenthaltstitel um einen "zukunftsoffenen" Aufenthaltstitel handelt oder ob dem Kläger wegen seiner aufenthaltsrechtlichen Vorgeschichte ggf. ein sonstiger Aufenthaltstitel zusteht, ist ebenfalls nicht vorab im PKH-Verfahren zu entscheiden. Ist ein "zukunftsoffener" Aufenthaltstitel maßgeblich von einer erfolgreichen Entwöhnung abhängig, kann diese nicht a priori wegen des (noch) fehlenden "zukunftsoffenen" Aufenthaltstitels abgelehnt werden. Über den Aufenthaltstitel kann in einem solchen erst nach Durchführung (oder bestandskräftiger Ablehnung) der Rehabilitationsmaßnahme abschließend entschieden werden. Zuvor muss genügen, dass dieser ernsthaft in Betracht kommt. Das ist nach den Äußerungen der Ausländerbehörde vom 6.12.2016 hier der Fall.
Da in Verfahren wie dem vorliegenden regelmäßig nicht einfach zu beurteilende Tatsachen- und Rechtsfragen zu beantworten sind, ist die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich, § 121 Abs 2 ZPO.
Der Kläger ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht, auch nicht zum Teil oder in Raten, in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, § 115 ZPO. Er verfügt nicht über nennenswertes eigenes Einkommen oder Vermögen und hat überdies noch Unterhaltsrückstände auszugleichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 73 a Abs 1 Satz 1 SGG, 127 Abs 4 ZPO.
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
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