L 9 AS 462/18 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 21 AS 530/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 462/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Der Beschwerde eines Leistungsträgers gegen eine einstweiligen Anordnung, in der er zur vorläufigen Erbringung von Leistungen verpflichtet wurde, fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis, wenn er vorläufige Leistrungen erbracht hat.

2. Zur Folgenabwägung im Eilverfahren hinsichtlich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 17. Juli 2018 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern auch die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Die Antragsteller sind ghanaische Staatsangehörige. Die 1977 geborene Antragstellerin zu 1. ist die Mutter der Antragsteller zu 2. bis 4. Der Ehemann der Antragstellerin zu 1. und Vater der Antragsteller zu 2. bis 4. ist italienischer Staatsangehöriger. Er reiste 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und nahm eine Tätigkeit als Lagerarbeiter auf. Im Mai 2014 reisten ihm die Antragstellerin zu 1. und die 2010 geborene Antragstellerin zu 4. nach. Im selben Monat wurde der Antragsteller zu 2. geboren. Nachdem der Ehemann der Antragstellerin zu 1. seine Beschäftigung als Lagerarbeiter im November 2015 verlor, beantragte er für sich sowie die Antragsteller zu 1., 2. und 4. Leistungen nach dem SGB II, die die Antragsgegnerin auch bewilligte. Im Februar 2016 wurde der Antragsteller zu 3. geboren. Seit September 2016 besucht die Antragstellerin zu 4. die G schule in A-Stadt. Am 10. Januar 2017 nahm der Ehemann der Antragstellerin zu 1. eine Tätigkeit als Kassierer mit einer regelmäßigen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden auf. Am 7. März 2017 wurde den Antragstellern eine Aufenthaltskarte nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU ausgestellt. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis des Ehemannes der Antragstellerin zu 1. unter dem 3. Juni 2017 ordentlich zum 30. Juni 2017. Dieser verließ am 13. August 2017 die gemeinsame Wohnung und ist seither unbekannten Aufenthalts.

Mit Bescheid vom 30. April 2018 lehnte die Antragsgegnerin eine Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab Mai 2018 ab, weil die Antragsteller keine gültige Aufenthaltserlaubnis hätten. Den hiergegen eingelegten Widerspruch vom 14. Mai 2018 wies die Antragsgegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2018 mit der Begründung zurück, die Antragsteller seien nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a, Nr. 3 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sie kein Aufenthaltsrecht hätten. Nach Wegzug des Ehemannes lägen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nicht vor. Dagegen erhoben die Antragsteller am 27. Juni 2018 Klage beim Sozialgericht Darmstadt.

Ebenfalls am 27. Juni 2018 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Darmstadt einstweiligen Rechtsschutz beantragt.

Am 9. Juli 2018 hat der Vermieter der Antragsteller das Nutzungsverhältnis fristlos gekündigt, weil die Nutzungsgebühren für Juni und Juli 2018 nicht gezahlt worden seien.

Mit Beschluss vom 17. Juli 2018 hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin verpflichtet, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab dem 1. Juni 2018 längstens bis 31. August 2018 zu erbringen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Antragstellerin zu 4. könne sich auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 berufen, woraus die Antragstellerin zu 1. ebenfalls ein Aufenthaltsrecht ableite. Den Antragstellern zu 2. und 3. sei nach §§ 2 Abs. 2 Nr. 6 und 3 Abs. 4 Freizügigkeitsgesetz/EU – zumindest entsprechend – eine Freizügigkeitsberechtigung zuzusprechen. Da Zweifel an der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II mit europäischem Recht bestünden, sei vorliegend eine Folgenabwägung zu treffen, die zugunsten der Antragsteller ausfalle. Angesichts der Kündigung des Mietverhältnisses sei eine rückwirkende Verpflichtung ab dem 1. Juni 2018 angezeigt.

Unter dem 20. Juli 2018 hat die Antragsgegnerin daraufhin den Antragstellern vorläufig Leistungen für Juni bis August 2018 bewilligt.

Am 15. August 2018 hat die Antragsgegnerin Beschwerde beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Sie ist der Auffassung, ein Fachgericht dürfe im Eilverfahren ein formelles Gesetz nur dann nicht anwenden, wenn es von der Europarechtswidrigkeit überzeugt sei. Zudem müsse das Gericht nicht nur den Einzelfall, sondern die Vielzahl der gleich zu behandelnden Fälle im Auge behalten. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II sei europarechtskonform. Nicht gerechtfertigt sei zudem eine rückwirkende Verpflichtung bis zum Monat Juni 2018, weil ein Kündigungsgrund erst bei einem Rückstand von zwei Monatsmieten gegeben sei. Schließlich sei die vom Sozialgericht angenommene entsprechende Anwendung des Freizügigkeitsgesetzes/EU nicht nachvollziehbar.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 17. Juli 2018 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Die Antragsteller beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie halten die erstinstanzliche Entscheidung für richtig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Akte der Antragsgegnerin Bezug genommen, die der Entscheidung zugrunde gelegen haben.

II.

1. Die Beschwerde ist zulässig (a), aber unbegründet (b).

a) Die Beschwerde ist zulässig.

Insbesondere liegt das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis vor, obgleich die Antragsgegnerin dem Beschluss des Sozialgerichts gefolgt ist und vorläufig Leistungen bis August 2018 bewilligt hat.

Die Durchführung des Beschwerdeverfahrens ist zwar bei einer wirtschaftlichen Betrachtung für die Antragsgegnerin wenig sinnvoll, weil eine Realisierung eines eventuellen Rückforderungsanspruches angesichts der finanziellen Verhältnisse der Antragsteller eher unwahrscheinlich ist. Diese tatsächlichen Umstände nehmen ihr aber nicht das Rechtsschutzbedürfnis für eine Beschwerde. Der Senat folgt nicht der Auffassung des LSG Hamburg (Beschluss vom 21. Februar 2018 - L 4 SO 10/18 B ER -, juris, Rn. 2) und des Bayerischen LSG (Beschluss vom 8. Februar 2017 - L 8 SO 269/16 B ER -, juris, Rn. 27), wonach das Rechtsschutzbedürfnis des Sozialleistungsträgers für die Durchführung eines Beschwerdeverfahrens entfalle, wenn er erstinstanzlich im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zur Erbringung von Leistungen verpflichtet wurde und er daraufhin vorläufig Leistungen erbracht hat. Die Begründung des LSG Hamburg, dass die Frage des endgültigen Behaltendürfens im Hauptsacheverfahren zu klären sei (Beschluss vom 21. Februar 2018 - L 4 SO 10/18 B ER -, juris, Rn. 2), berücksichtigt nicht hinreichend, dass der Träger bereits bei einem Obsiegen im Beschwerdeverfahren einen Erstattungsanspruch gegen den Antragsteller hat, entweder entsprechend § 50 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) oder aus allgemeinen Prozessrechtsgrundsätzen (siehe Keller, in: Meyer-Ladewig u. a., SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 22). Der erstinstanzlich unterlegene Träger kann mithin bereits beim Obsiegen im Beschwerdeverfahren die vorläufig erbrachten Leistungen sofort zurückfordern oder die Leistungserbringung einstellen und ist nicht gehalten, das Hauptsacheverfahren durchzuführen. Dadurch wird prinzipiell sein Rechtsschutzbedürfnis begründet (siehe auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 18. März 2014 L 13 AS 363/13 B ER -, juris, Rn. 10). Dies gilt erst recht für die vorliegende Konstellation, in der es um wiederkehrende Leistungen geht, zwischen den Beteiligten eine einzelne Rechtsfrage umstritten ist und der Träger ein berechtigtes Interesse an der Kenntnis der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts hat. Die Argumentation des LSG Bayern, wonach der erstinstanzlich unterlegene Träger der Verpflichtung zur vorläufigen Erbringung von Leistungen durch "seine freie Willensentschließung" nachgekommen sei und sich damit sein prozessuales Ziel – die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung – erledigt habe sowie die in die gleiche Richtung deutende Erwägung, es stehe dem Träger "frei, Beschwerde einzulegen, ohne den Anspruch vorab vorläufig zu erfüllen" (Beschluss vom 8. Februar 2017 - L 8 SO 269/16 B ER -, juris, Rn. 30, 33), verkennen, dass der erstinstanzlich unterlegene Träger bereits aufgrund der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz GG -) verpflichtet ist, der gerichtlichen Entscheidung Folge zu leisten. Aufschiebende Wirkung hat die Beschwerde nämlich nicht (vgl. § 175 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Dass der erstinstanzlich obsiegende Antragsteller nicht (mehr) nach § 929 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) binnen eines Monats die Vollstreckung betreiben muss, um die Unstatthaftigkeit der Vollziehung der einstweiligen Anordnung zu verhindern (vgl. § 86b Abs. 3 Satz 4 SGG), heißt nicht im Umkehrschluss, dass der Träger keine Vollstreckung mehr befürchten und der erstinstanzlichen Entscheidung bis zum Erlass der Entscheidung des Beschwerdegerichts nicht folgen müsste (a. A. LSG Bayern, Beschluss vom 8. Februar 2017 - L 8 SO 269/16 B ER -, juris, Rn. 33). Die Möglichkeit eines Vollstreckungsschutzantrages nach § 199 Abs. 2 SGG ist bereits wegen des unterschiedlichen Maßstabes nicht geeignet, effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) zu garantieren (a. A. offenbar LSG Bayern, Beschluss vom 8. Februar 2017 - L 8 SO 269/16 B ER -, juris, Rn. 35 ff). Schließlich spricht gegen die Ablehnung eines Rechtsschutzbedürfnisses in der vorliegenden Konstellation auch die daraus folgende Konsequenz, dass Träger, die erstinstanzlich zu Leistungen verpflichtet wurden, bis zur zweitinstanzlichen Entscheidung nicht leisten und damit Antragstellern die existenziellen Leistungen nach dem SGB II vorenthalten werden.

b) Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Die Entscheidung des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden.

(1) Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Könnten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden können, sind die Gerichte (nach Art. 19 Abs. 4 GG) verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch zu prüfen, sondern abschließend, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen; ist eine abschließende Prüfung nicht möglich, ist eine Folgenabwägung durchzuführen (BVerfG(K), Beschluss vom 27. Juli 2016 - 1 BvR 1241/16 -, juris, Rn. 11).

(a) Von diesen Maßstäben ausgehend sieht der Senat im Wege einer Folgenabwägung einen Anordnungsanspruch als gegeben an.

Das Verfahren betrifft gegenwärtige existenzielle Ansprüche nach dem SGB II, ohne deren Gewährung schwere und unzumutbare Beeinträchtigungen für die Antragsteller entstehen können. Die zentralen Rechtsfragen des Verfahrens können im Rahmen der Beschwerdeentscheidung nicht abschließend beantwortet werden.

Die Antragstellerin zu 1. erfüllt die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II, sodass sie prinzipiell einen Anspruch dem Grunde nach auf Arbeitslosengeld II hätte (§ 19 Abs. 1 SGB I). Die Antragsteller zu 2. bis 4. bilden mit der Antragstellerin zu 1. eine Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Nr. 4 SGB II) und könnten prinzipiell Sozialgeld beanspruchen (§ 19 Abs. 1 SGB II).

(aa) Den Ansprüchen der Antragsteller zu 1. und 4. steht die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II in der Fassung vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I 2016, 3155) entgegen, wonach Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht alleine oder neben dem Aufenthaltsrecht nach § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 2b SGB II aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ableiten, unter Einschluss ihrer Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind.

Nach Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 können Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates beschäftigt ist oder gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Dieses Ausbildungsrecht des Kindes setzt voraus, dass das Kind in Ausbildung mit seinen Eltern oder einem Elternteil in einem Mitgliedstaat in der Zeit lebte, in der dort zumindest ein Elternteil als Arbeitnehmer wohnte (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 43/15 R -, juris, Rn. 30). Es beinhaltet gleichzeitig ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der sich weiterhin in Ausbildung befindlichen Kinder, das grundsätzlich bis zum Abschluss der Ausbildung und insbesondere besteht, solange sie tatsächlich im Aufnahmemitgliedstaat in das Schulsystem eingegliedert sind (EuGH, Urteil vom 17. September 2002 - Rs C-413/99 (Baumbast und R) -, juris, Rn. 53 ff.; Urteil vom 23. Februar 2010 - Rs. C-480/08 (Teixeira) -, juris, Rn. 36, 53; BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 43/15 R -, juris, Rn. 30).

Der Antragsteller zu 4. kann sich (ausschließlich) auf dieses Aufenthaltsrecht berufen. Er hat zu einem Zeitpunkt, zu dem sein als EU-Bürger aufenthaltsberechtigter Vater in Deutschland eine Beschäftigung als Arbeitnehmer ausgeübt hat, mit diesem zusammengewohnt und seine Grundschulausbildung begonnen. Entgegen vereinzelter Ansichten in der Literatur (Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 3 FreizügigkeitsG/EU Rn. 90) ist das Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 bei einem Besuch der Grundschule nicht ausgeschlossen und auch nicht auf den Zeitraum begrenzt, in dem ein Schulwechsel unzumutbar ist. Eine solche Einschränkung findet in der Rechtsprechung des EuGH keine Stütze. Die Verordnung will den Kindern ehemaliger Wanderarbeiter ermöglichen, im Aufnahmemitgliedstaat "die Schule" zu besuchen und eine Ausbildung zu absolvieren und ihre Ausbildung gegebenenfalls erfolgreich abzuschließen (EuGH, Große Kammer, Urteil vom 23. Februar 2010 - Rs C-310/08 (Ibrahim) -, juris, Rn. 43, zur inhaltsgleichen Vorgängerregelung Art. 12 EWGV 1612/68). Dass der Antragsteller zu 4. selbst kein EU-Bürger ist, ist hierbei unerheblich (vgl. EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - Rs C-480/08 (Teixeira) -, juris, Rn. 37).

Von dem Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 4. kann die Antragstellerin zu 1., die sich auf kein anderes Aufenthaltsrecht berufen kann, als sorgeberechtigte Mutter ebenfalls ein Aufenthaltsrecht ableiten. Auch insoweit ist unerheblich, dass sie Drittstaatsangehörige ist. Soweit und solange die in der Regel minderjährigen Kinder eines (ehemaligen) Arbeitnehmers für die Wahrnehmung ihrer Ausbildungsrechte aus Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 weiterhin die Anwesenheit und Fürsorge des Elternteils bedürfen, um ihre Ausbildung fortzusetzen und abschließen zu können, besteht in gleicher Weise für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - Rs. C-480/08 (Teixeira) -, juris, Rn. 36, 53, 86). Ohne Belang hierfür ist, ob die Eltern inzwischen geschieden sind oder der (die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmende) Elternteil nicht mehr Wanderarbeiter im Aufnahmemitgliedstaat ist (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 43/15 R -, juris, Rn. 31 m. w. N.).

Die einmal erworbenen (Ausbildungs- und) Aufenthaltsrechte der Kinder und der die tatsächliche elterliche Sorge ausübenden Elternteile bestehen unabhängig von der in der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen ausreichender Existenzmittel sowie eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes (§ 4 Freizügigkeitsgesetz/EU) fort und sind autonom gegenüber den unionsrechtlichen Bestimmungen anzuwenden, welche die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Aufnahme in einem Mitgliedstaat regeln (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - Rs. C-310/08 (Ibrahim) -, juris, Rn. 42 ff.; BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 43/15 R -, juris, Rn. 32).

Der Anspruch der Antragsteller zu 1. und 4. auf Leistungen nach dem SGB II hängt somit davon ab, ob der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Denn die Norm ist auf alle Ausländer anzuwenden, die ihr Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ableiten, nicht nur auf EU-Ausländer. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hält der Senat dies nicht für zweifelhaft.

In der Literatur wird zumindest ganz überwiegend die Auffassung vertreten, dass der Leistungsausschluss europarechtswidrig ist, weil für das Freizügigkeitsrecht nach Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 keine Ausnahme vom Diskriminierungsverbot (Art. 18 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV -, Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004) geregelt, insbesondere die Einschränkungsmöglichkeit nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG nicht anwendbar sei, weil es kein Aufenthaltsrecht sei, das der Richtlinie 2004/38/EG unterfalle (Devetzki/Janda, ZESAR 2017, 197, 203 ff.; Oberhäuser/Steffen, ZAR 2017, 149, 150 ff.; Leopold, in: jurisPK-SGB II, § 7 Rn. 99.16, Stand: 08.01.2018; G. Becker, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 7 Rn. 50). Auch in weiten Teilen der Rechtsprechung der Landessozialgerichte wird mit im Wesentlichen gleicher Argumentation von einer (überwiegend wahrscheinlichen) Europarechtswidrigkeit des Leistungsausschlusses ausgegangen (Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 17. Februar 2017 - L 6 AS 11/17 B ER -, juris, Rn. 23 ff.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 6. Juni 2017 - L 2 AS 567/17 B ER -, juris, Rn. 40; LSG für das Land NRW, Beschluss vom 21. August 2017 - L 19 AS 1577/17 B ER -, juris, Rn. 29 ff.; Beschluss vom 26. September 2017 - L 6 AS 380/17 B ER -, juris, Rn. 27 ff.; a. A. Thüringer LSG, Beschluss vom 1. November 2017 L 4 AS 1225/17 B ER -, juris, Rn. 28).

Da die Rechtsfrage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2c SGB II mit europäischem Recht vereinbar ist, nach Auffassung des Senats im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den EuGH als gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) erfordert (Art. 267 AEUV), entscheidet der Senat aufgrund einer Folgenabwägung (ebenso z. B. LSG für das Land NRW, Beschluss vom 8. Juni 2018 - L 7 AS 420/18 B ER u. a. -, juris, Rn. 17). Hierbei überwiegen die Interessen der Antragsteller am Erhalt existenzieller Leistungen gegenüber dem Interesse der Antragsgegnerin zu vermeiden, dass sie eventuell Leistungen vorläufig zu erbringen hat, die sie bei abweichender Hauptsacheentscheidung nicht mit Erfolg zurückfordern kann.

(bb) Die Antragsteller zu 2. und 3. können sich zwar nicht auf ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 berufen, weil sie noch nicht die (Grund-)Schule besuchen und auch von der Antragstellerin zu 1. oder dem Antragsteller zu 4. kein Aufenthaltsrecht ableiten können. Ein Aufenthaltsrecht folgt auch nicht aus der den Antragstellern erteilten Aufenthaltskarte nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU. Denn diese ist nur deklaratorisch (Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländergesetz, 12. Aufl. 2018, FreizügigkeitsG/EU § 5 Rn. 26, 31).

Der Senat hält indes auch insoweit eine abschließende Prüfung im Eilverfahren nicht für möglich, ob den Antragstellern zu 2. und 3. ein sonstiges Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen (vgl. Art. 6 GG, Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -) zusteht, und entscheidet ebenfalls im Rahmen einer Folgenabwägung. Für ein solches Aufenthaltsrecht bestehen gewichtige Anhaltspunkte. Die §§ 27 ff. Aufenthaltsgesetz enthalten verschiedene Tatbestände, nach denen minderjährigen Kindern aus familiären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist. Das BSG hat zudem aus der Ermessensnorm des § 7 Abs. 1 Satz 3 Aufenthaltsgesetz ein anderes Aufenthaltsrecht i. S. d. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II aus familiären Gründen hergeleitet (Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R -, juris, Rn. 33 f.). Für ein solches Aufenthaltsrecht existiert kein Leistungsausschluss im SGB II.

(b) Ein Anordnungsgrund besteht ebenfalls.

Denn streitgegenständlich sind existenzielle Leistungen nach dem SGB II. Zutreffend hat das Sozialgericht die Leistungen nicht auf den Zeitraum ab Eingang des Antrages bei Gericht beschränkt.

Zwar werden nach der Rechtsprechung des Senats Leistungen im Wege einer einstweiligen Anordnung in der Regel nur für die Zeit ab Eingang des Antrages bei Gericht zugesprochen. Ausnahmsweise kommt aber eine Verpflichtung zu Leistungen für die Zeit davor in Betracht, wenn die Nichtgewährung in der Vergangenheit in die Gegenwart fortwirkt und dadurch eine gegenwärtige Notlage bewirkt. Diese Voraussetzungen liegen vor, weil der Vermieter der Antragsteller das Nutzungsverhältnis wegen Nichtzahlung von zwei Nutzungsgebühren fristlos gekündigt und die Zahlungs- und Räumungsklage angedroht hat. Damit drohte den Antragstellern mit dem Wohnungsverlust ein gegenwärtiger schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil. Erschwerend kommt hinzu, dass vorliegend auch drei minderjährige Kinder betroffen sind. Nicht erforderlich für die Annahme eines solchen fortwirkenden Nachteils ist nach Auffassung des Senats die Erhebung der Räumungsklage. Zwar wird die fristlose Kündigung unwirksam, wenn binnen zwei Monaten nach Erhebung der Räumungsklage die rückständige Miete gezahlt wird (§ 569 Abs. 3 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch BGB ). Dadurch wird ein Abwarten der Räumungsklage aber nicht zumutbar, unabhängig davon, dass der Leistungsträger vom Amtsgericht über die Räumungsklage nach § 22 Abs. 9 SGB II zu informieren ist und ebenfalls die Räumung durch Zahlung abwenden kann (a. A. Burkiczak, in: jurisPK-SGG, § 86b Rn. 371, Stand: 30.04.2018). Dies folgt bereits daraus, dass die Abwendung der fristlosen Kündigung keine Auswirkungen auf eine ordentliche Kündigung hat (vgl. BVerfG(K), Beschluss vom 1. August 2017 - 1 BvR 1910/12 -, juris, Rn. 18).

(2) Der Inhalt der einstweiligen Anordnung steht im Ermessen des Gerichts (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 938 Abs. 1 ZPO). Das Sozialgericht hat zutreffend die Verpflichtung der Antragsgegnerin auf den Ablauf des auf die gerichtliche Entscheidung folgenden Monats begrenzt.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

3. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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