L 18 AL 124/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 18 AL 30/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AL 124/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 10. Mai 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 13. August 2012 bis 30. November 2012 iHv 2.978,64 EUR.

Der 1991 geborene Kläger hatte eine – vom Jobcenter geförderte – Ausbildung als Verkäufer beim Jugendaufbauwerk Nauen eV abgeschlossen (15. Juni 2012). Zum 16. Juni 2012 meldete er sich arbeitslos und beantragte Alg, das ihm die Beklagte ab 16. Juni 2012 für 300 Kalendertage bewilligte (Bescheid vom 29. Juni 2012; Leistungsbetrag = tgl 27,58 EUR).

Der Kläger war in der Zeit vom 13. August 2012 bis 21. August 2012 bei der G für G und B mbH (GGB) in B als Maschinenreiniger beschäftigt, wobei ausweislich der vorgelegten Arbeitsbescheinigung vom 13. November 2012 eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden vereinbart worden war. Das Arbeitsverhältnis wurde arbeitgeberseitig am 2012 gekündigt (Entgeltabrechnung = brutto 194,14 EUR). Die Beklagte hob nach Anhörung des Klägers, der von einem Probearbeitsverhältnis von einer Woche sprach, die Alg-Bewilligung für die Zeit ab 13. August 2012 auf und forderte die Erstattung des für die Zeit vom 13. August 2012 bis 30. November 2012 (Zahlungseinstellung) gezahlten Alg iHv 2.978,64 EUR (Bescheide vom 17. Dezember 2012 und 25. Januar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Ja-nuar 2013; Bl 33,58 VA). Am 17. Januar 2013 hatte sich der Kläger erneut persönlich arbeitslos gemeldet, so dass eine Alg-Weiterbewilligung für die Zeit vom 17. Januar 2013 bis zur Anspruchserschöpfung am 18. September 2013 (243 Kalendertage) erfolgte.

Das Sozialgericht (SG) Potsdam hat den Kläger persönlich gehört. Er gab ua an, er habe gedacht, es habe sich um eine Probearbeit für eine Woche mit anschließendem Arbeitsvertrag und Festanstellung gehandelt ("Ich bin in der Probe und ich noch in das Arbeitslosengeld reinfalle. Also ich den Anspruch darauf noch habe. Weil es sich um Probe handelte und ich auch keinen Vertrag hatte"). Mit Beginn der Festanstellung habe er die Beklagte informieren wollen. Er habe in den ersten zwei, drei Tagen nur sechs oder vier Stunden am Tag gearbeitet. Die 40-Stunden-Woche habe erst mit der Festanstellung beginnen sollen. Das ausgehändigte Merkblatt für Arbeitslose habe er nicht gelesen. Das SG hat der auf Aufhebung der Bescheide vom 17. Dezember 2012 und 25. Januar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2013 gerichteten Klage stattgegeben (Urteil vom 10. Mai 2016). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei begründet. Die Beklagte sei zur rückwirkenden Aufhebung der Alg-Bewilligung nach Maßgabe von § 48 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) nicht berechtigt gewesen, weil der Kläger Vertrauensschutz genieße und nicht bösgläubig gewesen sei. Eine zumindest grob fahrlässige Verletzung von Mitteilungspflichten oder eine Kenntnis bzw grob fahrlässige Unkenntnis des Wegfalls des Alg-Anspruchs mit Aufnahme der Beschäftigung (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X) könne ihm nicht angelastet werden. Nach seiner persönlichen Einsichts- und Kritikfähigkeit scheine der persönlich gehörte Kläger nicht in der Lage, aus einfachsten Überlegungen die "richtigen" Schlussfolgerungen zu ziehen. Er habe glaubhaft versichert, von einem geringfügigen, nicht meldepflichtigen Probearbeitsverhältnis ausgegangen zu sein, das nicht zum Wegfall seines Alg-Anspruchs geführt habe. Er habe nach Ablauf der Probezeit mit Erhalt des Arbeitsvertrages die Beschäftigung der Beklagten mitteilen wollen. Eine Mitteilung nach der ersten Beschäftigungswoche wäre auch ausreichend gewesen. Es liege ein atypischer Fall vor, der die Beklagte zu einer Ermessensentscheidung über die rückwirkende Aufhebung verpflichtet habe.

Mit der Berufung wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil. Sie trägt vor: Allein das eingeräumte Nichtlesen des Merkblattes mit den entsprechenden Ausführungen zu den Mitteilungspflichten des Klägers begründe den Vorwurf grober Fahrlässigkeit. Auch ein einfach strukturierter Mensch könne die Formulierungen im Merkblatt für Arbeitslose verstehen bzw bei Unklarheiten bei der Beklagten nachfragen, wie es der Kläger mit Hilfe seines Großvaters ansonsten auch gemacht habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 10. Mai 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist begründet. Die Beklagte hat mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht die Bewilligung von Alg für die Zeit ab 13. August 2012 (Beginn des zum Wegfall der Arbeitslosigkeit führenden Beschäftigungsverhältnisses bei der GGB) aufgehoben und das in der Zeit vom 13. August 2012 bis 30. November 2012 (Zahlungseinstellung) gezahlte Alg iHv 2.978,64 EUR von dem Kläger zurückgefordert. Das Urteil des SG war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Rechtsgrundlage für die angefochtene Aufhebungsentscheidung ist § 48 SGB X. Nach § 48 SGB X ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt (§ 48 Abs. 1 Satz 1). Der Verwaltungsakt ist, und zwar ohne dass – wie das SG rechtsirrig meinte - insoweit eine Ermessensentscheidung wegen eines "atypischen Falles" zu treffen wäre, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben (§ 330 Abs. 3 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung - SGB III), soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr 2), nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3) oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr 4).

Die Alg-Bewilligung vom 29. Juni 2012 wurde mit Aufnahme der Beschäftigung am 13. August 2012 rechtswidrig. Der Kläger hatte diese Beschäftigung im Umfang von mindestens 15 Wochenstunden, die seine Beschäftigungslosigkeit und damit die Arbeitslosigkeit hatten entfallen lassen (vgl § 138 Abs. 1 Satz 1 Nr 1, Abs. 3 SGB III in den seit 1. April 2012 geltenden und hier anwendbaren Fassungen), aufgenommen, ohne dies der Beklagten unverzüglich mitzuteilen. Durch diese unterlassene unverzügliche Mitteilung der Beschäftigungsaufnahme durch den Kläger erlosch nach § 141 Abs. 2 Nr. 2 SGB III zudem seine Arbeitslosmeldung und damit war auch kein Anspruch auf Alg mehr gegeben (vgl § 137 Abs. 1 Nrn 1 und 2 SGB III). Die Voraussetzungen für den Bezug von Alg lagen erst wieder nach der persönlichen Arbeitslosmeldung des Klägers am 17. Januar 2013 vor, worauf die Beklagte Alg mit einer Restanspruchsdauer von 243 Kalendertagen bis zur Anspruchserschöpfung weiterbewilligt hat.

Der Kläger hat seine Mitteilungspflicht auch zumindest grob fahrlässig verletzt. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr 2 iVm § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr 3 SGB X). Grobe Fahrlässigkeit setzt also eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes, das heißt eine besonders grobe und auch subjektiv unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Anzulegen ist bei der Prüfung des Vorliegens der groben Fahrlässigkeit nicht ein objektiver, sondern ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab (st Rspr; vgl nur BSG, Urteil vom 24. April 1997 - 11 RAr 89/96 – juris – mwN). Subjektiv unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Dabei ist nicht ein objektiver Maßstab anzulegen, sondern auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen (vgl BSG, Urteil vom 6. März 1997 - 7 RAr 40/96 – juris).

Unter Zugrundelegung dieses subjektiven Sorgfaltsmaßstabes ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger seine Mitteilungspflicht zumindest grob fahrlässig verletzt hatte, als er die Beschäftigungsaufnahme bei der GGB der Beklagten nicht mitteilte. Der Kläger, der heute in einem Fahrdienst für behinderte Menschen arbeitet, ist sicherlich einfach strukturiert, hat aber im Verhandlungstermin sowohl die Fragen des Senats ohne weiteres verstanden als sich auch durchweg in der Lage gezeigt, auf diese Frage mit grammatikalisch korrekt formulierten Sätzen zu antworten. Er hat zudem eindrucksvoll bestätigt, dass er sich bei der Aufnahme des in Rede stehenden Beschäftigungsverhältnisses durchaus Gedanken darüber gemacht habe, ob dieses der Beklagten anzuzeigen sei ("Ich bin damals davon ausgegangen, dass ich nur Mitteilung an die Beklagte machen müsse, wenn ich einen schriftlichen Arbeitsvertrag habe. Nach meiner Auffassung war im Rahmen eines Probearbeitsverhältnisses eine entsprechende Anzeige nicht erforderlich"). Dass er die auch für juristische Laien unmissverständlichen Hinweise in dem ihm bei der Alg-Antragstellung ausgehändigten Merkblatt für Arbeitslose bei diesen intellektuellen Fähigkeiten nicht hätte verstehen und demgemäß hätte handeln können, ist nicht erkennbar. Der Kläger hat im Übrigen auch schon anlässlich seiner Anhörung durch das SG erklärt, er lese die Merkblätter zwar "nie", er könne aber lesen und das auch "größtenteils verstehen, aber nicht alles". Dem Senat gegenüber hat er zudem angegeben, durchaus Teile des Merkblattes gelesen zu haben, aber eben nicht das gesamte Merkblatt. Jeder Leistungsempfänger ist indes verpflichtet, erhaltene Bescheide und auch Merkblätter vollständig zu lesen. Tut er dies nicht, stellt dies zumindest dann eine grobe Sorgfaltspflichtverletzung dar, wenn der Betreffende – wie hier der Kläger – den Inhalt nach seinen persönlichen intellektuellen Fähigkeiten ohne weiteres verstehen kann.

Der Senat ist überzeugt, dass der Kläger deshalb den ausdrücklichen Hinweis im Merkblatt der Beklagten, jede Beschäftigung sei vor deren Beginn anzuzeigen, beim Lesen des Merkblattes verstanden hätte und auch in der Lage gewesen wäre, entsprechend zu handeln. Im Merkblatt werden insoweit auch ausdrücklich Probearbeitsverhältnisse bezeichnet. In dem ausgehändigten Merkblatt war in Bezug auf eine Beschäftigungsaufnahme ausdrücklich und in Fettdruck zudem ausgeführt: "Verlassen Sie sich auch nicht auf eventuelle Zusagen anderer, z.B. Ihrer Arbeitgeberin / Ihres Arbeitgebers, Ihre Beschäftigungsaufnahme Ihrer Agentur für Arbeit anzuzeigen. Hierzu sind ausschließlich Sie selbst verpflichtet." Da zudem der Großvater des Klägers die Schriftsätze im Widerspruchsverfahren gefertigt hat, erscheint auch nicht plausibel, weshalb sich der Kläger in dieser für den Leistungsbezug wichtigen Frage nicht (auch) dessen Hilfe bedient hat. Unabhängig von den klaren Hinweisen im Merkblatt ist zudem zu berücksichtigen, dass es für jeden durchschnittlich begabten Leistungsbezieher einer Lohnersatzleistung wegen Arbeitslosigkeit nach ganz nahe liegenden Überlegungen ohne weiteres klar sein dürfte, dass die Aufnahme einer mehr als geringfügigen Tätigkeit mitteilungspflichtig ist und zum Erlöschen eines Leistungsanspruches und damit zur Rechtswidrigkeit entsprechender Bewilligungsbescheide führen kann.

Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 iVm § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ist vorliegend eingehalten. Gemäß § 50 Abs. 1 SGB X ist der Kläger zur Erstattung der überzahlten Leistungen verpflichtet; hinsichtlich der Höhe des geltend gemachten Erstattungsbetrages ergeben sich rechnerisch keine Bedenken.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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