S 4 AS 2297/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AS 2297/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Wird ein zu Unrecht gewährter Kinderzuschlag zurückgefordert, kann die Familienkasse zu einer Ermessensentscheidung über den Erlass der Rückforderung verpflichtet sein, wenn ein fristwahrender Antrag auf Alg II für denselben Leistungszeitraum nicht mehr möglich ist.
2. Ein Antrag auf Kinderzuschlag ist nicht grundsätzlich auch als Antrag auf Leistungen nach dem SGB II auszulegen. Eine erweiternde Auslegung eines solchen Antrags nach dem Meistbegünstigungsprinzip kommt nicht in Betracht, wenn der tatsächliche Wille des Antragstellers auf die ausdrücklich beantragte Leistung (Kinderzuschlag) begrenzt war und diese Einschränkung nicht objektiv unvernünftig war.
3. Eine erweiternde Auslegung der Regelung in § 28 SGB X, etwa durch Verlängerung der in der Vorschrift vorgesehenen Rückwirkung, ist in diesem Fall nicht veranlasst.

1. Wird ein zu Unrecht gewährter Kinderzuschlag zurückgefordert, kann die Familienkasse zu einer Ermessensentscheidung über den Erlass der Rückforderung verpflichtet sein, wenn ein fristwahrender Antrag auf Alg II für denselben Leistungszeitraum nicht mehr möglich ist.
2. Ein Antrag auf Kinderzuschlag ist nicht grundsätzlich auch als Antrag auf Leistungen nach dem SGB II auszulegen. Eine erweiternde Auslegung eines solchen Antrags nach dem Meistbegünstigungsprinzip kommt nicht in Betracht, wenn der tatsächliche Wille des Antragstellers auf die ausdrücklich beantragte Leistung (Kinderzuschlag) begrenzt war und diese Einschränkung nicht objektiv unvernünftig war.
3. Eine erweiternde Auslegung der Regelung in § 28 SGB X, etwa durch Verlängerung der in der Vorschrift vorgesehenen Rückwirkung, ist in diesem Fall nicht veranlasst.
Tenor: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die rückwirkende Gewährung von Arbeitslosengeld II (Alg II) für den Zeitraum Juli bis Dezember 2014 im Streit, nachdem die Familienkasse für diesen Zeitraum rückwirkend die Bewilligung eines Kinderzuschlags auf-gehoben hat.

Die Klägerin bezog im Zeitraum Juli bis Dezember 2014 einen Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz (BKGG) von der Familienkasse Baden-Württemberg West (Familienkasse). Der Ehemann der Klägerin war zu diesem Zeitpunkt selbständig tätig. Die Gewährung des Kinderzuschlags durch die Familienkasse beruhte auf einer Prognose der erwarteten betrieblichen Einkünfte des Ehemanns der Klägerin unter Berücksichtigung des gewährten Wohngelds.

Mit Schreiben vom 02.04.2015 hörte die Familienkasse die Klägerin dazu an, dass der im Zeitraum Juli 2014 bis Dezember 2014 in Höhe von 560,- EUR monatlich gewährte Kinderzuschlag zu Unrecht gewährt worden sei, da nach Vorlage der betriebswirtschaftlichen Auswertung in diesem Zeitraum keine Gewinne erzielt worden seien. Mit dem Kinderzuschlag und dem Wohngeld habe demnach der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft nicht gedeckt werden können. Die Klägerin wurde gebeten, für den Zeitraum ab Juli 2014 einen Anspruch auf Alg II prüfen zu lassen; der Erstattungsanspruch könne dann beim Jobcenter geltend gemacht wer-den.

Der Ehemann der Klägerin antwortete hierauf am 25.04.2015, dass er damals einen Kinderzuschlag beantragt habe, weil er kein Geld gehabt habe, und nie auf die Idee gekommen sei, zum Jobcenter zu gehen. Der Erstattungsbetrag von 3.360,- EUR könne nicht zurückgezahlt werden, da kein Gewinn erzielt worden sei.

Mit Bescheid vom 13.05.2015 hob die Familienkasse die Bewilligung des Kinderzuschlags für den Zeitraum bis Dezember 2014 nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X in vollem Umfang auf, da die Hilfebedürftigkeit nicht vermieden worden sei. Nach der Erläuterung der Sach- und Rechtslage wurde in diesem Bescheid auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Anspruch nach dem SGB II bestehen könnte und dieser Antrag unverzüglich bei dem örtlich zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende gestellt werden möge. Hierbei wurde auch erwähnt, dass bei einer späteren Antragstellung rückwirkende Ansprüche möglicherweise verloren gehen könnten.

Mit Schreiben an das Jobcenter vom 13.05.2015 wies die Familienkasse darauf hin, dass eventuell ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II der Bedarfsgemeinschaft bestanden habe. Die Anspruchsberechtigten seien aufgefordert worden, einen Antrag auf Alg II innerhalb eines Monats zu stellen. Gleichzeitig machte die Familienkasse dort einen Erstattungsanspruch geltend. Hierdurch erfuhr der Beklagte im Mai 2015 erstmalig von den voranstehend geschilderten Vorgängen.

Im Widerspruchsverfahren führte die Familienkasse gegenüber den Klägerbevollmächtigten mit Schreiben vom 26.10.2015 u.a. auch aus, dass die Klägerin bereits im April 2015 erfolglos zur Antragstellung beim zuständigen Jobcenter aufgefordert worden sei, ein Antrag jedoch nicht gestellt worden sei.

Auch danach stellten weder die Klägerin noch ihre Bevollmächtigten einen ausdrücklichen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II bei dem vorliegend beklagten Jobcenter.

Der Widerspruch der Klägerin vom 09.06.2015 wurde mit Widerspruchsbescheid der Familienkasse vom 16.02.2016 zurückgewiesen. In den hierzu durchgeführten Klageverfahren beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) mit den Aktenzeichen S 6 BK 844/16 (betreffend die Aufhebungsentscheidung) sowie S 6 BK 4417/16 (betreffend die Erstattungsentscheidung) wurde am 29.01.2018 durch die zuständige 6. Kammer ein Erörterungstermin durchgeführt, in dem der Kammervorsitzende die Rücknahme der Klagen anregte. Die Vertreterin der Familienkasse gab ausweislich des Protokolls danach folgende Erklärungen ab:

"Die Vertreterin des Beklagten erklärt, den Antrag auf Kinderzuschlag, der nach dem Meistbegünstigungsprinzip als Antrag auf Leistungen nach dem SGB II zu bewerten sein dürfte, an das zuständige Jobcenter weiter zu leiten. Sollte sich ein Leistungsanspruch nach dem SGB II ergeben, wird der Beklagte ein Verrechnungsersuchen stellen. Die Vertreterin des Beklagten erklärt, bis zu einer Entscheidung über den SGB II-Anspruch eine Mahnsperre im System zu belassen."

Der Klägerbevollmächtigte behielt sich in dem Termin noch eine Rückfrage bei dem Steuerberater der Klägerin vor, um zu klären, ob die Einkommenssituation der Klägerin richtig erfasst worden war. Im Anschluss hieran nahm er die beiden gegen die Familienkasse gerichteten Klagen am 16.02.2018 und am 19.02.2018 zurück.

Die Familienkasse leitete im Februar 2018 diesen Vorgang zur Prüfung eines Anspruchs nach dem SGB II an den Beklagten weiter, wobei sie dem Beklagten die gesamte Vorgeschichte erläuterte.

Mit Bescheid vom 20.03.2018 lehnte der Beklagte die rückwirkende Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.07.2014 bis 31.12.2014 ab. Die Nachholung eines Antrages sei grundsätzlich in § 28 SGB X geregelt. Die Anwendung dieser Vorschrift komme nur in Betracht, wenn erfolglos eine andere Sozialleistung beansprucht worden sei. Dies sei jedoch nur dann der Fall, wenn die andere Sozialleistung versagt (abgelehnt) worden oder zu erstatten sei. Die Rücknahme eines Antrags reiche nicht aus, es müsse eine negative Verwaltungsent-scheidung getroffen worden sein. § 40 SGB II sehe eine eingeschränkte Anwendung des § 28 SGB X vor. Ein nachgeholter Antrag auf Leistungen nach dem SGB II wirke nur dann auf den Tag der Alg-Antragstellung zurück, wenn er unverzüglich nach Ablauf des Monats gestellt werde, in dem die Ablehnungs- oder Erstattungsentscheidung der anderen Leistungen bindend geworden sei. Eine Rückwirkung der nachträglichen Antragstellung im Sinne des § 28 SGB X komme auch in Betracht, wenn die vorrangige Leistung zwar bewilligt, aber vom Betroffenen zu erstatten sei. Eine Erstattung überzahlten Kinderzuschlags beispielsweise setze nach § 50 Abs. 1 SGB X voraus, dass der rechtswidrige Bewilligungsbescheid nach den Vorschriften der §§ 45, 48 SGB X aufgehoben worden sei. Jedoch sei eine Jahresfrist zu beachten. Werde der nachträgliche Antrag rechtzeitig gestellt, komme eine Nachzahlung längstens für ein Jahr in Betracht. Sei seit der ersten Antragstellung mehr als ein Jahr vergangen, sei die Rückwirkung auf ein Jahr begrenzt. Da ein Antrag erst im Jahr 2018 gestellt worden sei, könne eine Rückwirkung nur bis 2017 erfolgen. Der Antrag sei daher abzulehnen.

Der Bevollmächtigte der Klägerin legte mit Schreiben vom 24.05.2018 am 25.05.2018 Widerspruch ein. Der Ablehnungsbescheid vom 20.03.2018 sei der Mandantschaft bisher nicht zugegangen, möglicherweise wegen einer geänderten Anschrift. Der Bescheid sei den Bevollmächtigten erst auf Nachfrage durch die Familienkasse mit Schreiben vom 14.05.2018 übersandt worden. Insoweit sei der Widerspruch zulässig und die Widerspruchsfrist nicht abgelaufen. Fürsorglich wurde Wiedereinsetzung beantragt bzw. höchstfürsorglich ein Überprüfungsantrag gestellt.

In der Sache wurde der Widerspruch damit begründet, dass § 28 SGB X gemäß § 40 Abs. 7 SGB II mit der Maßgabe anzuwenden sei, dass der Antrag unverzüglich nach Ablauf des Monats, in dem die Ablehnung oder Erstattung bindend geworden sei, nachzuholen sei. Dies sei vorliegend der Fall. Der Antrag sei am 01.02.2018 gestellt und die Erstattungsentscheidung der Familienkasse durch Klagerücknahme vom 16.02.2018 rechtskräftig geworden. Auf die Jahresfrist des § 28 SGB X komme es vorliegend nicht an. Denn aufgrund der engen Verknüpfung von Kinderzuschlag und SGB II-Leistungen könne nach dem Meistbegünstigung-Prinzip davon ausge-gangen werden, dass die jeweils andere Leistung für den Fall der Ablehnung schon hilfsweise als mitbeantragt gelte (mit Hinweis auf "Leitfaden, 8. Auflage, Seite 474"). Beratungsfehler und –unterlassungen der Familienkasse müsse sich das Jobcenter anrechnen lassen. Der Antrag auf Kinderzuschlag sei daher zugleich zumindest hilfsweise als Antrag auf Leistungen nach dem SGB II auszulegen, zu-mal hier ein direkter Zusammenhang zum Alg II bestehe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.2018 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Leistungen nach dem SGB II würden gemäß § 37 Abs. 1 SGB II auf Antrag er-bracht; gemäß Abs. 2 der Vorschrift würden Leistungen nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht. Soweit der Bevollmächtigte vortrage, nach dem Meistbegünstigung-Prinzip sei beim Antrag auf Kinderzuschlag von einem hilfsweise mitbeantragten Antrag auf SGB II-Leistungen auszugehen, könne dies nicht überzeugen. Der Antrag auf Kinderzuschlag gelte nicht als Antrag auf Leistungen nach dem SGB II (mit Hinweis auf Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 24.02.2016 – 4 A 249/12). Auch das Hessische Landessozialgericht habe klargestellt, dass ein allein auf die Gewährung von Wohngeld bei der Wohngeldstelle gestellter Antrag nicht zugleich einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II um-fasse, weil dem Formularantrag keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen seien, dass zugleich auch Leistungen nach dem SGB II beantragt werden sollten (mit Hinweis auf Urteil vom 23.01.2012 – L 9 AS 450/10). Diese Rechtsprechung sei vor-liegend ebenso anwendbar. Der Antrag auf Kinderzuschlag umfasse lediglich eine Antragstellung auf Kinderzuschlag. Dies sei auch dem Formularantrag auf Kinder-zuschlag zu entnehmen, der keine Hinweise auf eine gleichzeitige Antragstellung nach dem SGB II zulasse. Vielmehr habe die Klägerin auf die Fragen in dem Formular, ob sie oder die weiteren antragstellenden Personen andere Leistungen beantragt hätten oder Alg II bezögen, verneint. Somit könne hier nicht wegen des Meistbegünstigungs-Prinzips davon ausgegangen werden, dass hilfsweise SGB II-Leistungen mitbeantragt worden seien. Die Klägerin habe im Jahr 2014 nicht die Absicht gehabt, SGB II-Leistungen zu beantragen. Dies zeige sich bereits daran, dass die Klägerin sich trotz mehrfacher Aufforderung im Jahr 2015 geweigert habe, den Antrag noch rückwirkend und – im Hinblick auf § 28 SGB X auch noch recht-zeitig – zu stellen. Die Auffassung des Bevollmächtigten, der Beklagte habe sich Beratungsfehler der Familienkasse zurechnen zu lassen, verwundere, weil bereits ein Beratungsfehler oder eine Beratungsunterlassung nicht ersichtlich seien. Es erschließe sich nicht, warum die Antragstellung im Jahr 2015 nicht zumindest zur Fristwahrung erfolgt sei, nachdem zumindest der rechtskundig Bevollmächtigte der Klägerin diese diesbezüglich beraten haben dürfte. Die Anwendung der Vorschrift des § 28 SGB X sei aus den im Ausgangsbescheid genannten Gründen vorliegend nicht möglich. Der Widerspruchsbescheid wurde den bevollmächtigten der Klägerin am 19.06.2018 zugestellt.

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat deswegen am 19.07.2018 Klage beim SG er-hoben, mit welcher der bisherige Vortrag wiederholt und vertieft wird. Der Antrag auf SGB II-Leistungen sei vorliegend bereits inzident zusammen mit dem Antrag auf Kinderzuschlag gestellt worden.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 20.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2018 aufzuheben und den Beklagten zu ver-urteilen, ihrer Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe rückwirkend für die Zeit vom 01.07.2014 bis zum 31.12.2014 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig und bezieht sich ebenso auf seine bisherigen Ausführungen.

Im Klageverfahren sind die Verwaltungsakten des Beklagten sowie – mit dem Einverständnis der Klägerin – die vollständigen Verwaltungsakten der Familienkasse beigezogen worden. Außerdem sind die Gerichtsakten der vorausgegangenen Klageverfahren S 6 BK 844/16 und S 6 BK 4417/16 hinzugezogen worden.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten und die Akten des SG Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.

Eine Beiladung der Familienkasse ist nicht erfolgt, weil diese Beiladung nicht nach § 75 Abs. 2 SGG erforderlich war, und die Bescheide der Familienkasse über die Erstattungspflicht von Kinderzuschlag im Übrigen inzwischen bestandskräftig sind.

Auf eine eventuelle Verfristung des Widerspruchs der Klägerin kommt es vorliegend nicht mehr an, da der Beklagte über den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.2018 in der Sache entschieden hat. Entscheidet die Widerspruchsstelle über einen verspätet eingelegten Widerspruch sachlich, so steht die Versäumung der Widerspruchsfrist der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen; der angefochtene Bescheid ist dann auch nicht als bindend anzusehen (BSG, Urteil vom 12. Oktober 1979 – 12 RK 19/78 –, BSGE 49, 85-92, SozR 2200 § 1422 Nr. 1, SozR 1500 § 84 Nr. 3).

Der Widerspruchsbescheid vom 14.06.2018 ist jedoch nicht zu beanstanden, da die Klägerin keinen Anspruch auf rückwirkende Bewilligung von Alg II für den Zeitraum vom 01.07.2014 bis zum 31.12.2014 hat.

Streitgegenständlich sind ausschließlich mögliche Ansprüche der Klägerin auf Leistungen nach dem SGB II, und nicht Ansprüche der anderen Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft in der damaligen Zusammensetzung. Dem Schriftsatz vom 19.07.2018, mit dem am letzten Tag der Klagefrist Klage erhoben worden ist, lässt sich lediglich eine Antragstellung im Hinblick auf die Klägerin und nicht im Hinblick auf die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft entnehmen. Eine erweiternde Auslegung der von der Klägerin im eigenen Namen erhobenen Klage im Sinne ei-ner Klage (auch) für ihren Ehemann und ihre Kinder ist auch unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes nicht möglich. Nach dem im Bereich des Arbeitsförderungsrechts entwickelten Meistbegünstigungsgrundsatz ist ein Klageantrag, unabhängig von seinem Wortlaut unter Berücksichtigung des wirklichen Willens so auszulegen, dass das Begehren des Klägers möglichst weitgehend zum Tragen kommt. Dieser Grundsatz erstreckt sich aber regelmäßig nur auf die Antragsauslegung, nicht auf die Bestimmung des Klägers bzw. der Kläger. Diese müssen sich vielmehr der Klageschrift eindeutig entnehmen lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Klageschrift von einem Rechtskundigen - wie im vorliegenden Fall durch einen Rechtsanwalt - verfasst worden ist. Für eine erweiternde Auslegung des Klageantrags über den konkreten Wortlaut in der Klageschrift hinaus besteht in diesem Fall weder Raum noch Bedürfnis (LSG Thüringen, Urteil vom 18. Juli 2012 - L 4 AS 1619/10). Die vom BSG in seiner Entscheidung vom 7. November 2006 (Az.: B 7b AS 8/06 R) vorgenommene Erweiterung des Meistbegünstigungs-grundsatzes auf die Bestimmung des Klägers erfolgte vor dem Hintergrund der besonderen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem seinerzeit neu eingeführten Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II, und war auf eine Übergangszeit bis zum 30. Juni 2007 beschränkt. Nach Ablauf der Übergangszeit gelten die bereits dargelegten "gewöhnlichen" Kriterien für die Bestimmung des Klägers (vgl. LSG Thüringen, Urteil vom 18. Juli 2012 - L 4 AS 1619/10). Die Klage wurde vorliegend nach Ablauf des vom BSG angenommenen Übergangszeitraums erhoben und ist daher in Bezug auf die Person der Klägerin einer erweiternden Auslegung nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz nicht (mehr) zugänglich (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 13. November 2015 – L 9 AS 44/15 –, Rn. 32 ff., juris).

Leistungen nach dem SGB II werden gemäß § 37 Abs. 1 SGB II auf Antrag und gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB II rückwirkend grundsätzlich nur bis zum Monatsersten der Antragstellung erbracht. Dem Antrag kommt im SGB II zwar keine Bedeutung als materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung zu. Anders als im Sozialhilferecht (§ 18 SGB XII) ist für den Zeitpunkt des Leistungsbeginns im SGB II jedoch nicht die Kenntnis der Hilfebedürftigkeit durch die Leistungsträger ausreichend, sondern es bedarf des konstitutiven Akts des Antrags desjenigen, der Leistungen nach dem SGB II begehrt (BT-Drucks 15/1516, S. 62; s. auch BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 166/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr. 31 RdNr. 15). Der Antrag hat in-soweit "Türöffnerfunktion". Mit dem konstitutiven Akt der Antragstellung wird das Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt - ab diesem Zeitpunkt hat der Leistungsträger die Verpflichtung, das Bestehen des Leistungsanspruchs zu prüfen und zu be-scheiden (BSG Urteil vom 30.9.2008 - B 4 AS 29/07 R - BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr. 15; s auch BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 62/09 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 38; BSG, Urteil vom 02. April 2014 – B 4 AS 29/13 R –, BSGE 115, 225-235, SozR 4-4200 § 37 Nr. 6, Rn. 12).

Ein ausdrücklicher Antrag bei dem Beklagten wurde jedenfalls vor dem Jahr 2018 nicht bei dem Beklagten gestellt. Weder ist die Antragstellung vom 16.06.2014 bei der Familienkasse im Jahr 2014 als Antrag auch auf Leistungen nach dem SGB II anzusehen (nachfolgend 1.), noch kann in der Information des Beklagten durch die Familienkasse mit Schreiben vom 13.05.2015 ein rechtzeitiger Antrag durch die Familienkasse für die Klägerin gesehen werden (nachfolgend 2.). Ein Anspruch der Klägerin nach dem SGB II folgt auch nicht aus der Anwendung von § 28 SGB X (nachfolgend 3.), nach § 44 SGB X (nachfolgend 4.) oder aus den Grundsätzen über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (nachfolgend 5.). Demgegenüber besteht die Möglichkeit, bei der Familienkasse einen dem Anliegen der Klägerin entsprechenden Antrag zu stellen, der auch nicht ohne Aussicht auf Erfolg er-scheint (nachfolgend 6.).

1. Die Antragstellung bei der Familienkasse am 16.06.2014 beinhaltete auch unter Mitberücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips keinen gleichzeitigen oder hilfsweisen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II.

Anträge auf Sozialleistungen sind nach § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB I beim zuständigen Leistungsträger zu stellen. Nach Absatz 2 dieser Vorschrift sind Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland gestellt werden, unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten; ist die Sozialleistung von einem Antrag abhängig, gilt der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einer der in Satz 1 genannten Stellen ein-gegangen ist. Die Leistungsträger sind nach Absatz 3 dieser Vorschrift verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben ergänzt werden.

Vorliegend lag mit dem Antrag vom 16.06.2014 keine Antragstellung bei einem unzuständigen Leistungsträger vor, da 2014 ausdrücklich der Bezug von Kinderzuschlag und Wohngeld beantragt und antragsgemäß bewilligt wurde. Unstreitig la-gen ursprünglich auch die Voraussetzungen für die Bewilligung dieser Leistungen – bei der erforderlichen Prognose der Einkünfte des Ehemanns der Klägerin – vor. Weder aus Sicht der Klägerin noch aus Sicht der Familienkasse ergab sich daher 2014 ein Bedürfnis auf weitere Auslegung des Antrags als gleichzeitiger Antrag nach dem SGB II.

Bei dem Antrag handelt es sich um eine einseitige, empfangsbedürftige, öffentlich-rechtliche Willenserklärung, auf die - sofern das Sozialrecht keine speziellen Regelungen trifft - die Vorschriften des BGB, insbesondere des § 133 BGB, Anwendung finden (BSG Urteil vom 17.7.1990 - 12 RK 10/89 - SozR 3-1200 § 16 Nr. 2 mwN, RdNr. 20). Maßgebend für die Auslegung eines Antrags ist daher - unter Berücksichtigung aller Umstände - der erkennbare wirkliche Willen des Antragstellers (BSG Urteil vom 1.4.1981 - 9 RV 49/80 - SozR 3100 § 48 Nr. 7, Juris RdNr 17; BSG Urteil vom 23.2.1973 - 3 RK 44/71 - BSGE 35, 220, 221 = SozR Nr 2 zu § 173a RVO, Juris RdNr. 18). Die Auslegung hat nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung zu erfolgen (vgl. BSG Urteil vom 6.5.2010 - B 14 AS 3/09 R - SozR 4-4200 § 28 Nr. 3, RdNr. 14). Danach ist, sofern eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, davon auszugehen, dass der Antragsteller die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt, unabhängig da-von welchen Antragsvordruck er hierfür benutzt oder welchen Ausdruck er gewählt hat (BSG Urteil vom 11.9.2001 - B 2 U 41/00 R - SozR 3-2200 § 1150 Nr. 5, Juris RdNr. 24; BSG vom 1.4.1981 - 9 RV 49/80 - SozR 3100 § 48 Nr. 7, Juris RdNr. 17; BSG Urteil vom 15.11.1979 - 7 RAr 75/78 - BSGE 49, 114 = SozR 4100 § 100 Nr. 5, Juris-RdNr 13; BSG, Urteil vom 02. April 2014 – B 4 AS 29/13 R –, BSGE 115, 225-235, SozR 4-4200 § 37 Nr. 6, Rn. 16).

Eine Berufung auf den Meistbegünstigungsgrundsatz kann jedoch in einer Konstellation wie der hier vorliegenden - also der ausdrücklichen Beantragung einer Sozialleistung (Kinderzuschlag) bei einem für die weitere Leistung (Alg II/Sozialgeld) unzuständigen Träger (Jobcenter) - allenfalls dann angenommen werden, wenn der Antragsteller einen für den unzuständigen Leistungsträger erkennbaren Willen zum Ausdruck bringt, neben der beantragten Leistung noch weitere Sozialleistungen zu begehren (BSG, Urteil vom 02. April 2014 – B 4 AS 29/13 R –, BSGE 115, 225-235, SozR 4-4200 § 37 Nr 6, Rn. 17). Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall. Zwar ist insoweit im Sinne des Vortrags der Klägerin zu berücksichtigen, dass sowohl der Kinderzuschlag als auch das Alg II die wesentliche Gemeinsamkeit haben, dass sie von der Bedürftigkeit des Antragstellers abhängen (hierzu BSG a.a.O.), und insoweit im Wesentlichen nur ein gradueller Unterschied (abhängig von der Höhe der sonstigen Einkünfte) besteht.

Hier ist jedoch entscheidend, dass die Klägerin nach ihren Einlassungen und ihrem Verhalten gegenüber dem Beklagten Alg II im streitgegenständlichen Zeitraum gerade nicht beanspruchen wollte. Der Meistbegünstigungsgrundsatz findet unter Berücksichtigung der voranstehenden Grundsätze und Auslegungsregeln seine Grenze jedenfalls dort, wo ein entgegenstehender Wille bekannt ist, mag dieser auch objektiv riskant oder unvernünftig erscheinen. Der tatsächliche Wille ist vorrangig zu respektieren, sofern er bekannt ist oder durch Auslegung ermittelt werden kann, da ein Antrag auf Leistungen nach § 6a BKGG nicht generell und typisierend gleichzeitig als Antrag nach § 37 SGB II ausgelegt werden kann. Denn insoweit lie-gen konkrete Erkenntnisse dafür vor, dass zahlreiche Haushalte wegen einer von ihnen angenommenen Stigmatisierung des Bezugs von SGB II-Leistungen in e-nem gewissen Rahmen zum Verzicht auf diese Leistungen bereit sind (vgl. Silbermann in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, Anhang, § 6a BKGG Rn. 66 m.w.N.).

Hier liegt eine "authentische Interpretation" des Willens der Klägerin bei der Antragstellung vom 16.06.2014 vor, die von einem geringen, aber in einer gewissen Mindesthöhe zu erwartenden Gewinn aus dem Gewerbe ihres Ehemannes ausging, und deswegen keinen Antrag nach dem SGB II stellen wollte. Diese Interpretation wird durch die Einlassung des Ehemannes im Anhörungsverfahren gegenüber der Familienkasse vom 24.05.2015 gestützt, wonach dieser "nie auf die Idee gekommen sei, zum Jobcenter zu gehen". Aus dieser Einlassung ergibt sich zum einen, dass die Möglichkeit der Antragstellung beim Jobcenter bekannt war; zum anderen ergibt sich hieraus, dass in Kenntnis dieser Möglichkeit davon Abstand genommen wurde.

Auch der Bezug von Wohngeld – der soweit ersichtlich nicht rückabgewickelt worden ist – spricht gegen einen vollumfänglichen Antrag auf Alg II-Leistungen, weil das Wohngeld und die Kosten der Unterkunft nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 Wohngeldgesetz (WoGG) im streitgegenständlichen Zeitraum nicht nebeneinander gewährt werden konnten (vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 24. Februar 2016 – 4 A 249/12 –, Rn. 33 ff, juris, wonach jedenfalls der Wohngeldantrag nicht im Sinne einer gleichzeitigen Antragstellung nach dem SGB II ausgelegt werden kann; so auch Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 23. Januar 2012 – L 9 AS 450/10 –, juris). Der Umstand, dass trotz der unmissverständlichen Hinweise der Familienkasse im Erstattungsbescheid und – erneut – im Widerspruchsverfahren kein Antrag durch die Klägerin beim Jobcenter erfolgte, bestätigt diese Auslegung zusätzlich. Schließlich ergeben sich auch aus dem Formular über die Beantragung von Kinderzuschlag ausreichende Hinweise für Antragsteller, dass in unsicheren Fällen eine gleichzeitige Gewährung von Alg II angezeigt sein kann, wozu auf die diesbezüglichen Ausführungen des Beklagten in dem an-gegriffenen Widerspruchsbescheid Bezug genommen wird.

Die Klägerin war zu diesem Zeitpunkt im Übrigen bereits rechtskundig beraten, so dass ein besonderes Schutzbedürfnis im Sinne des Meistbegünstigungsgrundsatzes zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bestand. Weder die Klägerin noch ihre Bevollmächtigten haben die mehrfachen Hinweise der Familienkasse im Jahr 2015, ein Antrag beim Jobcenter möge nunmehr gestellt werden, aufgegriffen (vgl. die Schreiben der Familienkasse vom 02.04.2015, vom 13.05.2015 und vom 26.10.2015). Zu diesem Zeitpunkt wäre indes, worauf der Beklagte in den angegriffenen Bescheiden zu Recht hinweist, eine rückwirkende Leistungsgewährung nach dem SGB II über die Regelung in § 28 SGB II i.V.m. § 40 Abs. 7 SGB II noch ohne Leistungseinbußen möglich gewesen.

Außerdem war es im Jahr 2014 weder aus Sicht der Klägerin noch aus Sicht der Familienkasse objektiv unvernünftig, lediglich einen Antrag auf Kinderzuschlag zu verfolgen, und einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II (zunächst) zurückzustellen. Die Vorschrift des § 28 SGB X soll gerade auch vermeiden, dass ein Betroffener zeitgleich mehrere Anträge auf verschiedene Leistungen stellen muss, um keinen Rechtsnachteil zu erlangen. Die Sozialverwaltung soll so von der Prüfung (unnötiger) Doppelanträge verschont werden (BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 16/09 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 3 RdNr 20; BSG, Urteil vom 02. April 2014 – B 4 AS 29/13 R –, BSGE 115, 225-235, SozR 4-4200 § 37 Nr 6, Rn. 26); hieraus ergibt sich auch eine Verminderung des Verwaltungsaufwands für den Antragsteller. Bei der Einführung des Kinderzuschlags ging auch der Gesetzgeber davon aus, dass Familien mit Anspruch hierauf kein paralleles Antragsverfahren nach dem SGB II beim Jobcenter durchlaufen würden bzw. müssten (BT-Drucks. 15/1516, S. 83 zu Art. 46).

Nach dem in § 37 Abs. 1 SGB II normierten Antragserfordernis liegt es grundsätzlich in der Entscheidung des Betreffenden, ob er bei bestehender Hilfebedürftigkeit Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in Anspruch nimmt. Erfolgt keine Antragstellung trotz Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 9 SGB II, bedeutet dies lediglich, dass er einen rechtlichen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nicht in Anspruch nimmt. Hilfebedürftigkeit besteht aber weiterhin und schließt damit einen Kinderzuschlag nach § 6a Abs. 1 Nr. 3 BKGG aus (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. Juli 2012 – L 3 BK 1/09 NZB –, Rn. 16, juris).

Insgesamt ist es daher nicht möglich, bereits in der Antragstellung vom 16.06.2014 auf den Kinderzuschlag zugleich das Vorliegen eines Antrags nach dem SGB II zu sehen.

2. Auch das Schreiben der Familienkasse vom 13.05.2015, mit dem das Jobcenter erstmalig über den vorliegenden Sachverhalt informiert wurde, stellt keinen Antrag nach dem SGB II dar. Nach den oben zu Ziff. 1 angeführten Auslegungsgrundsätzen ist das Schreiben lediglich als Information des Beklagten anzusehen, weil hier-in ausdrücklich auf eine von der Klägerin erwartete und aus Sicht der Familienkasse noch ausstehende Antragstellung der Klägerin Bezug genommen wird. Auch hatte die Familienkasse in den Erläuterungen zu dem Bescheid vom 13.05.2015 die Klägerin in der gebotenen Dringlichkeit auf die nunmehr erforderliche Antragstellung nach dem SGB II hingewiesen. Daher kommt es auch nicht auf die weitere Frage an, ob und unter welchen näheren Voraussetzungen eine Berechtigung der Familienkasse angenommen werden kann, Anträge für Dritte bei einem SGB II-Leistungsträger zu stellen.

3. Ein Anspruch der Klägerin ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung von § 28 SGB X. Hat ein Leistungsberechtigter von der Stellung eines Antrages auf eine Sozialleistung abgesehen, weil ein Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht worden ist, und wird diese Leistung versagt oder ist sie zu erstatten, wirkt der nunmehr nachgeholte Antrag bis zu einem Jahr zurück, wenn er innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Monats gestellt ist, in dem die Ablehnung oder Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist.

Die Vorschrift wird durch § 40 Abs. 7 SGB II für Leistungen nach dem SGB II dahin-gehend modifiziert, dass der Antrag unverzüglich nach Ablauf des Monats, in dem die Ablehnung oder Erstattung der anderen Leistung bindend geworden ist, nachzuholen ist.

§ 28 SGB X beinhaltet somit eine spezielle Form der materiellen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für den Fall der verspäteten Antragstellung auf eine Sozialleistung. Mit § 28 SGB X sollen Rechtsnachteile vermieden werden, wenn ein Berechtigter in Erwartung eines positiven Bescheides einen Antrag auf eine andere Sozialleistung – möglicherweise nach einem langen Verwaltungsverfahren – nicht gestellt hat (BT-Drucks 8/4022, S 81 f.; Siefert, in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 28 Rn. 3). Die Vorschrift verfolgt gleichzeitig prozessökonomische Gesichtspunkte und will die Verwaltung vor einer Vielzahl nur vorsorglich gestellter Anträge bewahren (BT-Drucks 8/2034, S. 48, vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25.7.2014 – L 12 AS 4500/13 –, Rn. 20, juris; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Februar 2017 – L 2 SO 5175/15 –, Rn. 34, juris).

Ungeachtet der speziellen Voraussetzungen dieser Vorschrift ergibt sich als Rechtsfolge, dass ein Antrag bei nachgeholter Antragstellung maximal für ein Jahr Rückwirkung entfalten kann. Ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB II kann vor-liegend erstmalig im Jahr 2018 erkannt werden. In Betracht kommt hier zum einen das Schreiben der Familienkasse vom 01.02.2018 oder der nachfolgende – erstmalige direkte – Kontakt der Klägerin mit dem Beklagten. Hieraus folgt jedoch, dass ei-ne Rückwirkung nach § 28 Satz 1 SGB X höchstens zurück bis ins Jahr 2017 und jedenfalls nicht in Hinblick auf für das Jahr 2014 erstmalig zu bewilligende Leistungen erfolgen kann. Auch ein Antrag auf Alg II kann (nur) bis zu einem Jahr zurück-wirken, wenn ein Leistungsberechtigter von der Stellung eines solchen Antrags zu-nächst abgesehen hatte, weil er einen Antrag auf eine andere Sozialleistung gestellt hat, der später abgelehnt wurde. § 28 SGB X befreit nämlich nicht von dem Antragserfordernis als solchem, sondern lässt nur den nachgeholten Antrag zu-rückwirken (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 14 AS 16/09 R –, SozR 4-4200 § 37 Nr. 3; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. November 2014 – L 34 AS 950/14 –, juris).

Die Voraussetzungen von § 28 Satz 2 SGB X sind bereits dem Grunde nach nicht einschlägig, weil bei der Klägerin keine Unkenntnis über die Anspruchsvoraussetzungen nach dem SGB II herrschte und SGB II-Leistungen auch nicht nachrangig gegenüber dem Kinderzuschlag sind (zum fehlenden Nachrangigkeitsverhältnis: Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. Juli 2012 – L 3 BK 1/09 NZB –, Rn. 20, juris). Jedenfalls würde auch hier die Verfristung gemäß § 28 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 7 SGB II gemäß den vorausgehenden Ausführungen greifen.

4. Ein Anspruch auf rückwirkende Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II besteht auch nicht nach § 44 Abs. 1 und 2 SGB X. Hierzu fehlt es bereits an der tatbestandlichen Voraussetzung eines vorausgehenden Verwaltungsaktes des Be-klagten, der Gegenstand einer Korrektur sein könnte. Die vorliegende Klage richtet sich ausschließlich gegen den SGB II-Leistungsträger, der bis zu der hier angegriffenen Entscheidung vom 20.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2018 noch keine Regelung getroffen hatte. Zur Anwendung von § 44 SGB X im Verhältnis zur Familienkasse wird auf die Ausführungen weiter unten zu Ziff. 6 verwiesen.

5. Auch unter Berücksichtigung des Instituts des sogenannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ergibt sich kein Anspruch der Klägerin auf SGB II-Leistungen. Dieses gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsinstitut ist anwendbar, wenn die Folgen der Pflichtverletzung eines Leistungsträgers bei der Erfüllung seiner Aufgaben nach dem SGB im Gesetz weder speziell geregelt (so aber abschließend z.B. in § 13 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V); dazu BSGE 73, 271 = SozR 3-2500 § 13 Nr. 4) noch darin in anderer Weise, etwa durch Härteklauseln, Wiedereinsetzungsregeln oder Fiktionen (z.B. § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I), konzeptuell mitbedacht sind (grundsätzlich BSG, Urteil vom 15. Dezember 1994 – 4 RA 64/93 –, SozR 3-2600 § 58 Nr. 2, SozR 3-1200 § 14 Nr. 17, Rn. 18 mit Hinweis auf Ossenbühl, Öffentlich-rechtliche Entschädigung in Verfassung, Gesetz und Richterrecht, SDSRV 39, 7, 19 ff zur richterrechtlichen Herleitung des Instituts).

Insoweit fehlt es indes bereits an einer Pflichtverletzung eines Amtsträgers. Entsprechend den voranstehenden Ausführungen (oben Ziff. 1) war es objektiv vertretbar, im Jahr 2014 von einer parallelen Antragstellung nach dem SGB II abzusehen, weil sich die Entwicklung der Gewinnsituation des Gewerbes des Ehemannes der Klägerin für das Jahr 2014 bereits im Jahr 2015 abschließend beurteilen ließ, und die Vorschrift des § 28 SGB X bis zum Jahr 2015 dann noch eine ausreichende Möglichkeit zur Wahrung der Ansprüche der Bedarfsgemeinschaft bot. Dement-sprechend ist jedenfalls mit dem unmissverständlichen Hinweis der Familienkasse im April 2015 auf das Erfordernis einer Antragstellung nach dem SGB II eine noch rechtzeitige Beratung der Familienkasse zur Wahrung der Ansprüche auf existenz-sichernde Leistungen insgesamt erfolgt. Da es an einer Fehlberatung fehlt, kann die Frage offenbleiben, ob und unter welchen näheren Voraussetzungen eine solche dem beklagten Jobcenter überhaupt zuzurechnen sein könnte (vgl. hierzu etwa Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. April 2006 – L 10 B 134/06 AS ER –, juris).

Im Übrigen wäre ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch auch bei einer unter-stellten fehlerhaften Beratung der Familienkasse, die dem Jobcenter zuzurechnen wäre, nicht gegeben. Denn dieser unterstellte Beratungsfehler wäre nicht kausal für das Verstreichen der Antragsfrist des § 37 SGB II i.V.m. § 28 Satz 1 SGB X gewesen. Für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch muss eine Fehlberatung für den eingetretenen sozialrechtlichen Nachteil kausal geworden sein (BSG, Urteil vom 25. Oktober 1985 – 12 RK 42/85 –, BSGE 59, 60-68, SozR 5070 § 10 Nr 31, Rn. 27; BSG, Beschluss vom 11. September 2018 – B 13 R 304/17 B –, Rn. 10, juris). Angesichts der klaren Hinweise der Familienkasse vom 02.04.2015 und vom 13.05.2015 (an die Klägerin) und vom 26.10.2015 (an den Klägerbevollmächtigten) auf das Erfordernis einer Antragstellung nach dem SGB II kann hiervon nicht ausgegangen werden, da das maßgebliche Verschulden für die unterbliebene Antragstellung jedenfalls seit diesen klaren Hinweisen allein auf Seiten der Klägerin lag. Es ist anerkannt, dass ein Mitverschulden bzw. eine Mitverantwortlichkeit zu einem Ausschluss oder einer Kürzung von Schadensersatzansprüchen führen können, zu denen dem Grunde nach auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch zu rechnen ist (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Februar 2010 – L 4 R 803/09 –, Rn. 40, juris mit Hinweis auf den Gedanken des § 254 Abs. 1 und 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB -). Hiervon wäre vorliegend auszugehen, weil es im Jahr 2015 aufgrund des fehlenden Gewinns aus dem Gewerbe keinen objektiven Grund mehr gab, von einer Antragstellung beim Jobcenter abzusehen, und auch nicht ersichtlich ist, dass ein solcher Antrag der Klägerin unzumutbar gewe-sen wäre.

6. Eine erweiternde Anwendung der Regelung in § 28 SGB X im Sinne einer ver-fassungskonformen Auslegung oder eine teleologische Reduktion der kurzen Rückwirkung in Satz 1 der Vorschrift ist bereits nicht veranlasst. Zum einen steht dem die Grenze des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift entgegen. Die Vorschrift ist zudem gerade für Fälle wie den vorliegenden gedacht, weswegen es nicht angezeigt ist, die in der Vorschrift selbst angelegten Begrenzungen – insbesondere durch die zeitlich beschränkte Rückwirkung – zu umgehen. Eine Schutzbedürftig-keit der Klägerin ist nicht ersichtlich, da sie es mit der gesetzlich hierfür vorgesehenen Regelung in § 28 SGB X in der Hand hatte, durch eine rechtzeitige Antragstellung im Jahr 2015 ihre Ansprüche zu sichern.

Im Übrigen ist eine – wie auch immer geartete – Analogie zur Wahrung der Ansprüche der Klägerin nach dem SGB II auch aus anderen Gründen nicht erforderlich. Ein außergesetzliches Institut kann jedoch grundsätzlich nur eingreifen, sofern ei-ne gesetzliche Regelung keine Abhilfe verschaffen kann (vgl. hierzu BSGE 49, 76 = SozR 2200 § 1418 Nr. 6; BSGE 50, 88 = SozR 5750 Art. 2 § 51 a Nr. 39; BSG SozR 3-2600 § 58 Nr. 2; zitiert nach Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2008 – L 12 AS 407/08 –, Rn. 35, juris).

Hierzu ist zunächst auf die Regelung in § 11 Abs. 6 BKGG zu verweisen, wonach bei der Aufhebung eines Verwaltungsaktes über die Bewilligung von Kinderzuschlag bereits erbrachte Leistungen abweichend von § 50 Absatz 1 SGB X nicht zu erstatten sind, soweit der Bezug von Kinderzuschlag den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausschließt oder mindert. Diese Vorschrift hätte es auch noch in den Verfahren im Jahr 2018 gegenüber der Familienkasse ermöglicht, eine Entscheidung zugunsten der Klägerin zu treffen.

Schließlich dürfte die Klägerin auch nach dem Eintritt der Bestandskraft der Erstattungsforderung der Familienkasse aktuell einen Anspruch auf ermessensfehler-freie Entscheidung über einen Erlass der Erstattungsforderung durch die Familienkasse haben. Zu dem nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) durch die Gewährung eines Freibetrags gewährten Kindergeld hat der Bundesfinanzhof (BFH) in-soweit auf die Vorschrift des § 227 der Abgabenordnung (AO) hingewiesen. Da-nach können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Soll in diesem Zusammenhang zu Unrecht gewährtes Kindergeld zurückgefordert werden, so kann demnach ein Billigkeitserlass nach § 227 AO gerechtfertigt sein, wenn das Kindergeld bei der Berechnung der Höhe von Sozialhilfeleistungen als Einkommen angesetzt worden ist und eine nachträgliche Korrektur der Leistungen nicht möglich ist (BFH, Urteil vom 22. September 2011 – III R 78/08 –, BFH/NV 2012, 204; juris). Dieser Rechtsgedanke ist auf den Einzug der Erstattungsforderung durch die Familienkasse im Rahmen der für das Einzugsverfahren geltenden Vorschriften übertragbar.

Jedenfalls dürfte die Klägerin insoweit einen Anspruch gegenüber der Familienkasse nach § 44 SGB X (zu dieser Vorschrift im Verhältnis zum Träger der Grundsicherung siehe oben zu 4.) in Verbindung mit § 11 Abs. 4 BKGG darauf haben, den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid bezüglich des Kinderzuschlags zu überprüfen und ggf. aufzuheben, da die Familienkasse – soweit dies aus den vorgelegten Verwaltungs- und Gerichtsakten ersichtlich ist – sich bisher nicht zu § 11 Abs. 6 BKGG verhalten hat. Sofern insoweit für die Überprüfung von Bescheiden über die Erstattung von Sozialleistungen § 44 Abs. 1 SGB X für einschlägig gehalten wer-den sollte (so die wohl h.M., vgl. Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 44 Rn. 14 m.w.N.), wäre die Verjährungsregelung nach § 44 Abs. 4 SGB X und damit auch eine ggf. angenommene kürzere Verjährung bereits dem Grunde nach nicht einschlägig (vgl. Schütze a.a.O.). Auch nach dem nach der anderen Auffassung anzuwendenden § 44 Abs. 2 SGB X bestünde insoweit zumindest ein An-spruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Familienkasse.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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