S 27 AS 531/18 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
27
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 27 AS 531/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, bezüglich der Wohnung in der C-Straße in B-Stadt die Erbringung von Leistungen für die Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zuzusichern sowie einem Umzug zuzustimmen.

2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

3. Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. B-Straße B-Stadt Prozesskostenhilf ohne Ratenzahlung für den ersten Rechtszug bewilligt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine Zustimmung für einen Umzug und eine Kostenzusage für die Kosten der Unterkunft.

Der Antragsteller ist eritreischer Flüchtling mit subsidiärem Schutz. Er steht bei dem Beklagten im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Höhe des Regelbedarfs von 416,00 EUR (Bescheid vom 05.07.2018). Der Antragsteller wohnt in einer Gemeinschaftseinrichtung. Der Vermieter der Wohnung C-Straße in B-Stadt bot dem Antragsteller laut Mietbescheinigung vom 13.07.2018 die Wohnung zu einer Miete von 410,00 EUR netto zuzüglich 100,00 EUR Nebenkostenpauschale und 50,00 EUR Heizkostenvorschuss zum 16.07.2018 an. Es handelt sich um die Vermietung eines Zimmers und die Mitbenutzung von Küche, Flur und Toilette. Die vermietete Fläche beträgt 35 qm, wobei Küche, Flur und Toilette hälftig berücksichtigt worden sind. Es handelt sich um eine Wohngemeinschaft mit einer weiteren Person. Laut Mietbescheinigung vom 06.08.2018 betragen die Nettomiete 410,00 EUR, die Nebenkosten 80,00 EUR und die Heizkosten 50,00 EUR.

Mit Bescheid vom 16.07.2018 lehnte der Antragsgegner die Zusicherung künftiger Unterkunftskosten ab. Die vom Kreisausschuss des Wetteraukreises beschlossenen Mietobergrenzen seien für den Vergleichsraum I für die persönlichen Situation des Antragstellers (WG aus 2 Personen) auf 252,50 EUR Nettomiete ohne Nebenkosten festgesetzt worden. Die von ihm bewohnte Wohnung liege 157,50 EUR über den für ihn angemessenen Kosten der Unterkunft. Die gewünschte Zusicherung könne nicht erteilt werden.

Hiergegen legte der Antragteller am 20.07.2018 Widerspruch ein und führte aus, dass er eine eigene Bedarfsgemeinschaft bilde, so dass die 410,00 EUR netto als Obergrenze für die Angemessenheit der Unterkunft gelten würden. Eine Obergrenze für Mieter einer Wohngemeinschaft kenne das Gesetz nicht.

Am 28.07.2018 hat der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vor dem Sozialgericht Gießen gestellt.

Der Antragsteller trägt zur Begründung vor, dass er eine eigene Bedarfsgemeinschaft bilde und deshalb Anspruch darauf habe, dass der Antragsgegner die Kosten der Unterkunft bis zur Grenze der Angemessenheit für einen 1-Personen-Haushalt übernimmt. Die Wohnung sei weder zu groß noch zu teuer. Das Bundessozialgericht habe in zwei Entscheidungen (BSG vom 18.06.2008 – B 14/11b AS 61/06 R und vom 22.08.2013 – B 14 AS 85/12 R) die Grundsätze für die Angemessenheitsgrenze der Kosten der Unterkunft bei Wohngemeinschaften aufgestellt. Hier gelte nicht die Kopfteilmethode, sondern die Kosten für die Mitbenutzung der Wohnung würden so behandelt, als ob der Leistungsberechtigte alleinstehend wäre.

Der Antragsteller beantragt,
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzuerlegen, dem Umzug des Antragstellers in die Wohnung C-Straße, B-Stadt zuzustimmen und dem Antragsteller eine Kostenzusage für die Wohnung C-Straße, B-Stadt in Höhe von monatlich 410,00 EUR netto zuzüglich einer Nebenkostenpauschale von 80,00 EUR und eines Heizkostenvorschusses von 50,00 EUR zu geben.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Der Antragsgegner trägt vor, dass nach den Richtlinien des Wetteraukreises für Wohngemeinschaften bei Neuanmietungen, in denen jeder Bewohner einen eigenen Mietvertrag mit dem Vermieter hat, als angemessene Kosten die Mietobergrenze die für die jeweilige Personenzahl der Wohngemeinschaft plus eine Person zu berücksichtigen sei. Die so ermittelte Mietobergrenze sei durch die Anzahl der Wohngemeinschaftsmitglieder zu teilen. In diesem Fall soll eine Wohngemeinschaft mit zwei Personen begründet werden, so dass die Mietobergrenze für einen Dreipersonenhaushalt für B-Stadt in Höhe von 505,00 EUR heranzuziehen sei. Die angemessene Nettomiete für den Antragsteller betrage hiernach 252,50 EUR.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, welche Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruches, also eines materiell-rechtlichen Anspruches auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, und eines Anordnungsgrundes, nämlich eines Sachverhaltes, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Für eine Regelungsanordnung relevante wesentliche Nachteile liegen dann vor, wenn es nach den Umständen des Einzelfalles für den Antragsteller unzumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht isoliert nebeneinander, es besteht eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderung an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Wenn danach die Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist, ist ein Recht, das geschützt werden muss, nicht vorhanden. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist dann, auch wenn ein Anordnungsgrund gegeben ist, abzulehnen. Es handelt sich insgesamt um ein im funktionalen Zusammenhang stehendes bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 12. Aufl., § 86 b Rn. 27 und 29 m. w. N.). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG von dem Antragsteller glaubhaft zu machen.

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf die begehrte Zusicherung der Erbringung von Leistungen für die Kosten der Unterkunft und die Zustimmung zum Umzug glaubhaft gemacht.

Gemäß § 22 Abs. 4 Satz 1 SGB II soll die leistungsberechtigte Person vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft die Zusicherung des für die neue Unterkunft örtlich zuständigen kommunalen Trägers zur Berücksichtigung der Aufwendungen für die neue Unterkunft einholen. Nach Satz 2 der Vorschrift ist der kommunale Träger zur Zusicherung verpflichtet, wenn die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind.

Bei der Zusicherung i.S.d. § 22 Abs. 4 SGB II handelt es sich um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 34 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Gegenstand der Zusicherung ist die Übernahme der Unterkunftskosten für eine konkrete Unterkunft in konkreter Höhe (Piepenstock in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 22, Rn. 182). Ziel der Angemessenheitsprüfung im Rahmen des § 22 Abs. 4 SGB II ist letztlich der Schutz des Grundsicherungsträgers vor einer Einstandspflicht für unverhältnismäßige Unterkunftskosten des Hilfebedürftigen. Dementsprechend haben die Leistungsträger unter Beachtung der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze - wegen des regional unterschiedlichen Preisniveaus verschieden hohe - Obergrenzen festgelegt, anhand derer sie prüfen, ob eine Wohnung, für die eine Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II begehrt wird, im Sinn der Vorschrift angemessen ist. Da § 22 Abs. 4 SGB II anders als § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II (nur) auf die Kosten der Unterkunft und nicht auf die Kosten der Unterkunft und Heizung abstellt, ist insoweit nicht die Bruttowarmmiete entscheidend, sondern die Nettokaltmiete zuzüglich der kalten Betriebskosten (vgl. Luik in Eicher, SGB II, Kommentar, 4. Aufl. 2017, § 22 Rn. 186).

Die Aufwendungen für die neue Unterkunft sind angemessen. Nach den Richtlinien des Antragsgegners liegt die Höchstgrenze der angemessenen Miete (Kaltmiete ohne Heiz- und Nebenkosten) für den Vergleichsraum I, zu dem B-Stadt zählt, für eine Person bei 410,00 EUR und entspricht somit der verlangten Nettokaltmiete für die Wohnung in der C Straße. Das Bundessozialgericht vertritt die Ansicht, dass wenn ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger nicht in einer Bedarfsgemeinschaft, sondern wie hier in einer bloßen Wohngemeinschaft lebt, bei der Bestimmung der angemessenen Kosten der Unterkunft nach der Produkttheorie allein auf ihn als Einzelperson abzustellen ist (BSG, Urteil vom 18.06.2008 – B 14/11b AS 61/06 R –, SozR 4-4200 § 22 Nr. 12). Es führt weiter aus: "Die Frage der Angemessenheit kann stets nur im Hinblick auf den Hilfebedürftigen nach dem SGB II und den mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen beantwortet werden. Nur für diesen Personenkreis ergeben sich durch dieses Kriterium Begrenzungen. Zwar stellen die einschlägigen Wohnraumförderungsbestimmungen auf die Zahl der Haushaltsmitglieder ab. Die Kategorie der Haushaltsgemeinschaft kennt das SGB II aber, abgesehen von der Ausnahmevorschrift des § 9 Abs. 5 SGB II, deren Voraussetzungen hier ersichtlich nicht vorliegen, nicht (BSG, Urteil vom 18.06.2008 B 14/11b AS 61/06 R –, SozR 4-4200 § 22 Nr 12, Rn. 21)." Vorliegend möchte der Antragsteller einen Mietvertrag mit dem Vermieter abschließen. Eine vertragliche Beziehung mit einem möglichen Mitbewohner besteht hier nicht. Es ist nicht ersichtlich, auf welcher Rechtsgrundlage die Bildung einer Mietobergrenze für mehrere Personen erfolgt, wenn diese keine Bedarfsgemeinschaft miteinander bilden.

Jedoch sind im Fall der begehrten Zusicherung zu einem Umzug nach § 22 Abs. 4 SGB II besonders strenge Maßstäbe an den Anordnungsgrund anzulegen. Denn die begehrte (grundsätzlich) "vorläufige Zusicherung" ist für einen Leistungsberechtigten nur dann von Nutzen, wenn sie für die Beteiligten auf Dauer Bindungswirkung entfaltet. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn sie nicht nur vorläufig, sondern endgültig erteilt wird (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09.09.2014 - L 4 AS 373/14 B ER m.w.N.; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 06.11.2012 - L 25 AS 2712/12 B PKH). Mithin handelt es sich um eine Vorwegnahme der Hauptsache, die grundsätzlich im einstweiligen Rechtschutzverfahren unzulässig ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, § 86b Rn. 31 m.w.N.). Für eine derartige endgültige Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren nach § 86b SGG bedarf es erhöhter Anforderungen an den Anordnungsgrund (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.03.2015 – L 19 AS 2347/14 B ER –, Rn. 24, juris). Ein solcher ist zu bejahen. Würde man bis zur Entscheidung in der Hauptsache zuwarten, so stünde die von dem Antragsteller in Aussicht genommene Wohnung nicht mehr zur Verfügung, die begehrte Zusicherung könnte nicht mehr erteilt werden und er könnte aus der Gemeinschaftsunterkunft, die nur eine vorübergehende Unterbringung gewährleisten soll, nicht ausziehen (vgl. Piepenstock in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 22, Rn. 264).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da der Antragsteller nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung auch nicht ratenweise aufbringen kann. Das Begehren bietet im Übrigen, wie dargelegt, hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint auch nicht mutwillig (§§ 73a SGG, 114 ZPO). Eine anwaltliche Vertretung ist erforderlich (§ 73a SGG, 121 Abs. 2 ZPO).
Rechtskraft
Aus
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