S 144 AS 20797/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
144
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 144 AS 20797/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die von der Agentur für Arbeit ausgestellte Bestätigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit gem. § 2 Abs 3 Nr 2 FreizügG/EU ist für die Sozialgerichtsbarkeit bindend.
I. Der Festsetzungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 29.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.10.2015 wird aufgehoben, soweit er sich auf den Monat Juli bezieht. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Leistungen nach dem zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von weiteren 370 EUR für den Monat Juli 2015 zu gewähren. II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. III. Die Sache wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zur Sprungrevision zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von endgültigen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II und die Erstattung vorläufig erbrachter Leistungen für den Monat Juli 2015.

Die 1974 geborene Klägerin ist rumänische Staatsangehörige und hält sich seit 2011 gewöhnlich in Deutschland auf. Sie war in Deutschland mehrfach jeweils zwischen 1 und 3 ½ Monaten beruflich tätig. Zwischen März 2014 und Juni 2015 war sie in 5 verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen und insgesamt in dieser Zeit etwa 6 ½ Monate angestellt. Vom 07.05.2015 bis zum 02.06.2015 war die Klägerin bei der "R. GmbH" beschäftigt. Ausweislich der Vereinbarungen im Arbeitsvertrag vom 07.05.2015 war die Klägerin für eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 20 Stunden bei einem Stundenlohn von 8,20 EUR angestellt. Der Formulararbeitsvertrag enthielt Regelungen zu Krankheit, Urlaub, Kündigung sowie weiteren nebenvertraglichen Pflichten.

Mit Bescheid vom 15.05.2015 wurden der Klägerin für den Zeitraum vom 07.05.2015 bis 30.11.2015 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bewilligt. Insgesamt wurden der Klägerin für Juli 2015 355,58 EUR an Leistungen bewilligt. Zugrunde gelegt wurde ein Gesamtbedarf von 725,58 EUR (399,00 EUR Regelbedarf sowie 326,58 EUR Kosten der Unterkunft und Heizung). Davon wurde von dem vom Beklagten angenommenen Bruttoeinkommen der Klägerin in Höhe von (i.H.v.) 750 EUR (600 EUR netto) nach Abzug der Freibeträge ein Einkommen in Höhe von 370 EUR berücksichtigt.

Das Arbeitsverhältnis endete durch die Kündigung des Arbeitgebers mit Schreiben vom 02.06.2015 zum 10.06.2015.

Im Juli 2015 erzielte die Klägerin keinerlei Einkommen. Sie verfügte in diesem Monat auch nicht über verwertbares Vermögen.

Mit Bescheid vom 29.06.2015 wurden die Leistungen für die Monate Juni 2015 bis Juli 2015 endgültig festgesetzt und festgestellt, dass der Leistungsanspruch für Juni 2015 geringer und ab 01.07.2015 überhaupt nicht mehr gegeben sei. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die Klägerin ab 01.07.2015 infolge des Verlustes des Arbeitsplatzes nur noch ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche habe und deswegen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Sie sei daher für den Monat Juli 2015 i.H.v. 355,58 EUR überzahlt und habe diesen Betrag zu erstatten.

Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde von dem Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 01.10.2015 als unbegründet zurückgewiesen. Er hält an seiner im Festsetzungsbescheid geäußerten Ansicht fest. Aus den jeweils nur kurz ausgeübten Zeiten als Arbeitnehmerin ergäbe sich kein fortwirkender Status als Arbeitnehmerin, da eine tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt in Deutschland nicht gegeben sei.

Die Bundesagentur für Arbeit bescheinigte der Klägerin mit Schreiben vom 14.07.2016 die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU.

Mit ihrer Klage vom 09.10.2015 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Ihrer Ansicht nach ergibt sich bereits aus den zahlreicheren von ihr ausgeübten Tätigkeiten eine Arbeitnehmereigenschaft, die mindestens 6 Monate ab dem Ende des letzten Beschäftigungsverhältnisses andauert. Darüber hinaus ergäbe sich ein Anspruch auch aus der aus dem Sozialstaatsprinzip folgenden Pflicht des Beklagten, ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherzustellen. Einkommen habe sie im Monat Juli 2015 nicht erzielt.

Die Klägerin beantragt

den Festsetzungs- und Erstattungsbescheid vom 29.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.10.2015. aufzuheben soweit er sich auf den Monat Juli bezieht und der Klägerin Leistungen nach dem Zweiten Buch in Höhe von weiteren 370 EUR für den Monat Juli 2015 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich im Wesentlichen auf sein Vorbringen Widerspruchsverfahren. Die Bescheinigung der Bundesagentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitsaufgabe binde den Beklagten nicht und widerspräche im Übrigen auch den Angaben des Arbeitgebers. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin die Arbeitsstelle tatsächlich unfreiwillig verloren habe.

Im Klageverfahren legte der Beklagte ein Schreiben der R. GmbH vom 06.08.2015 vor, aus dem hervor geht, dass die Kündigung infolge eines Geschehnisses am 01.06.2015 erfolgte. Die Klägerin sei an diesem Tag nicht zur Arbeit erschienen. Bei einem ersten Telefonat habe Sie gegenüber dem Arbeitgeber mitgeteilt, dass sie sich auf dem Weg zur Arbeit befinde, sich aber verspätet habe. Sie erschien im Laufe des Tages jedoch nicht und war auch nicht mehr telefonisch erreichbar. Der Arbeitgeber erfuhr von der Kundin, bei der die Klägerin an diesem Tage eingesetzt werden sollte, dass die Klägerin an diesem Tag ursprünglich frei haben wollte, dies aber nicht möglich gewesen sei. Zudem habe es generell mit der Pünktlichkeit zu wünschen übrig gelassen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Zutreffende Klageart für das gegen den Beklagten gerichtete Begehren ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 I 1, IV Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Der Klägerin steht der von ihr geltend gemachte Anspruch gem. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II (in der Fassung vom 20. Juni 2011 (BGBl. I S. 1114) (aF)) zu. Sie hatte das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7 a SGB II noch nicht erreicht, war hilfebedürftig und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. An der Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Streitzeitraum bestehen keine Zweifel.

Die Klägerin unterlag auch nicht dem vorliegend einzig denkbaren Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II aF. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist im Rahmen des Ausschlussgrundes nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II aF stets eine umfassende Prüfung notwendig, ob sich die klagende Person auf ein anderes materielles Aufenthaltsrecht nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) oder dem, nach dem Günstigkeitsprinzip des § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU anwendbaren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes berufen kann. Bereits das Vorliegen der Voraussetzungen für ein mögliches anderes beziehungsweise bestehendes Aufenthaltsrecht als ein solches aus dem Zweck der Arbeitsuche hindert sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iSv § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II aF beziehungsweise lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen (stRspr, vgl. BSG, zuletzt: BSG, Urteil vom 13.7.2017 – B 4 AS 17/16 R, NJW 2018, 653; NVwZ-RR 2012, 726 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 2 Rn. 20&8201;f.; BSGE 120, 139 = NZS 2016, 472 Rn. 27 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 46).

Vorliegend konnte sich die Klägerin auf ein fortwirkendes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 in Verbindung mit (iVm) S. 2 FreizügG/EU.

Die Klägerin war vor Verlust ihres Arbeitsplatzes Arbeitnehmerin im Sinne des FreizügG/EU.

Nach § 2 I iVm II Nr. 1 FreizügG/EU sind unter anderem Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt, die sich im Bundesgebiet als Arbeitnehmer iSv Art. 45 AEUV aufhalten wollen (vgl. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 1434&8201;ff.; Epe in GK zum Aufenthaltsgesetz, § 2 Rn. 23&8201;ff., Stand Okt. 2010). Arbeitnehmer ist danach jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. EuGH, ECLI:EU:C:2014:2185 = NVwZ 2014, 1508 = EuZW 2014, 946 Rn. 28 – Haralambidis; EuGH, ECLI:EU:C:2015:200 = NZA 2015, 1444 Rn. 27 – Fenoll; BSGE 107, 66 = NJOZ 2011, 1104 Rn. 18 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 21; BSGE 120, 149 = NJW 2016, 1464= SozR 4-4200 § 7 Nr. 43 Rn. 26 mwN). Der Umstand, dass eine Person im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden leistet, kann ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind; unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit ist indes nicht auszuschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses als tatsächlich und echt angesehen werden kann (vgl. EuGH, ECLI:EU:C:2010:57 = Slg. 2010, I-931 [934] = EuZW 2010, 268 = NVwZ 2010, 367 = NZA 2010, 213 Rn. 26 – Genc; EuGH, ECLI:EU:C:2015:643 = EuZW 2015, 877 = NZA 2015, 1309 = ZESAR 2016, 222 Rn. 24 – O).

Für die Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zu-weisung des Arbeitnehmerstatus ist Bezug zu nehmen insbesondere auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer. Nicht alle einzelnen dieser Merkmale müssen schon je für sich die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen genügen; maßgeblich ist ihre Bewertung in einer Gesamtschau (BSG Urt. v. 12.9.2018 – B 14 AS 18/17 R, BeckRS 2018, 32703, beck-online, Rn. 20 mwN.).

Nach diesen Kriterien verleiht die Tätigkeit der Klägerin ihr den Status als Arbeitnehmerin. Grundlage hierfür ist der schriftliche Arbeitsvertrag vom 07.05.2015. Darin ist eine wöchentliche Arbeitszeit der Klägerin von 20 Stunden, der Inhalt der weisungsgebundenen Tätigkeit als Helferin im Hotel und Servicebereich, die tarifliche Stundenvergütung von 8,20 EUR als auch Regelungen über Urlaub und Krankheit enthalten. Diese geringfügige Beschäftigung genügt nach Arbeitszeit und Vergütung den höchstrichterlichen Anforderungen an einen anzuneh-menden Arbeitnehmerstatus (vergleiche beispielsweise BSG Urt. v. 12.9.2018 – B 14 AS 18/17 R: 30 Stunden im Monat für ein monatliches Entgelt von 100 EUR). Daran ändert nach Ansicht der Kammer auch die relativ kurze Dauer der ausgeübten Tätigkeit von etwas mehr als einem Monat nichts. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann auch eine weniger als einen Monat dauernde Beschäftigung eine Arbeitnehmereigenschaft begründen, wenn eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt besteht (vgl. Brinkmann in Huber AufenthG, 2. Aufl. 2016, FreizügG/EU § 2 Rn. Randnummer 10; Rs. C-22/08 und 23/08 (Vatsouras und Koupatantze), Slg. 2009, I-4585 = EuZW 2009, 702). Eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt besteht hier nach Ansicht der Kammer in Anbetracht der zwar jeweils nur relativ kurz aber immer wieder aufgenommenen Beschäftigungsverhältnisse. Sie war im Zeitraum von 15 Monaten für 6 ½ Monate beschäftigt. Von einer Arbeitsaufnahme mit dem missbräuchlichen Ziel, sich einen Status als Arbeitnehmerin zu verschaffen geht die Kammer daher, anders als der Beklagte, nicht aus.

Die Klägerin hatte infolge der unfreiwilligen durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigten Arbeitslosigkeit ein 6 Monate fortbestehendes Aufenthaltsrecht im Sinne einer nachwirkenden Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmerin nach Verlust ihres Arbeitsplatzes zum 10.06.2015 (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 2 iVm S. 2 FreizügG/EU).

Die Bestätigung der Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit ist dabei als Tatbestandsmerkmal des § 2 Abs. 3 Nr. 2 bzw. S. 2 FreizügG/EU zu verstehen, die bei ihrem Vorliegen die Rechtsfolge der Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus auslöst.

Nach Ansicht der Kammer ist das Urteil des BSG vom 13.07.2017 zu dem Aktenzeichen B 4 AS 17/16 R nur in diesem Sinne zu verstehen. Im dort zugrundliegenden Fall, in dem es ebenfalls um die Gewährung von SGB II Leistungen für einen Unionsbürger ging, war die Arbeitnehmertätigkeit des Klägers nach Ansicht des BSG durch die von der Vorinstanz (SG Düsseldorf - S 18 AS 4381/15) getroffenen Tatsachenfeststellungen ungeklärt geblieben. Es führt jedoch aus, dass, falls von einer Arbeitnehmereigenschaft des Klägers ausgegangen werden müsste, "ein fortbestehendes Aufenthaltsrecht in Betracht (käme). Denn das Recht zum Aufenthalt – im Sinne einer nachwirkenden Freizügigkeitsberechtigung – bleibt unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit" (ebd. Rn. 21 beck-online). An anderer Stelle des Urteils heißt es hierzu: "Des Weiteren enthält das Urteil des SG keine Feststellungen zum Tatbestandsmerkmal der unfreiwilligen, durch die zuständige Bundesagentur für Arbeit bestätigten Arbeitslosigkeit. Deren Bestätigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit ist jedoch Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts im Sinne einer konstitutiven Bedingung (vgl. BeckOK&8201;Ausländerrecht/Tewocht, § 2 FreizügG/EU Rn. 51; Brinkmann in Huber, § 2 FreizügG/EU Rn. 50)." (ebd. Rn. 34).

Soweit teilweise vertreten wird, dass aus der Bestätigung der Agentur für Arbeit eine Bindungswirkung des Tatsachengerichts nicht erwachse (so LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.02.2018, L 7 AS 2308/17 B, Rn. 20 beck-online; SG Berlin, Urteil vom 03.08.2018, S 58 Al 243/18; "ungeklärt" LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.02.2019 – L 18 AL 15/19 B), folgt dem die Kammer nicht. Nach Ansicht der Kammer widerspricht die Ausführung des LSG Nordrhein-Westfalen, dass "die Beurteilung des Sachverhalts durch die Bundesagentur für Arbeit jedenfalls bei der Prüfung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II keine Tatbestandswirkung (hat)" (LSG NRW ebd. Rn. 20 beck-online) bereits der expliziten Bezeichnung der Bestätigung als Tatbestandsmerkmal bzw. konstitutiven Bedingung durch das Bundessozialgericht. Auch dem durch das BSG entschiedenen Fall lag ein Streit über SGB II Leistungen und einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II zugrunde. Die Kammer hält es für nicht überzeugend, dass das BSG entsprechende Ausführungen gemacht hätte, wenn dadurch keine tatbestandlichen Wirkungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II bezweckt wären

Vor dem Hintergrund der Entscheidung des BSG kann auch das Argument der entsprechenden Kammer des SG Berlin, wonach eine Bescheinigung der Arbeitsagentur von einigen Gerichten sogar als entbehrlich angesehen würde (SG Berlin, ebd. Rn. 31 beck-online), nicht nachvollzogen werden. Die zitierten Entscheidungen beziehen sich ersichtlich auf Zeiträume, die vor dem insoweit klarstellenden Urteil des BSG liegen. Eine Entbehrlichkeit steht im nicht auflösbaren Widerspruch zu der vom BSG angenommenen "konstitutiven Bedingung".

Auch das Argument der entsprechenden Kammer des SG Berlin, wonach eine Tatbestandswirkung schon deswegen nicht gegeben sein kann, weil die Agentur für Arbeit nicht prüfe, "ob die verloren gegangene Arbeit/die aufgegebene Selbstständigkeit nach Art und Umfang überhaupt einen Arbeitnehmerstatus nach EU-Recht begründet hat" (SG Berlin ebd. Rn. 32), kann von der erkennenden Kammer nicht nachvollzogen werden. Beide Tatbestandsmerkmale sind auf verschiedenen Ebenen zu prüfen, ein Fortbestehen der Arbeitnehmereigenschaft setzt denklogisch das Bestehen der Arbeitnehmereigenschaft voraus. Diese ist, wie auch das Urteil des BSG zeigt, gesondert und selbstständig durch das Gericht zu prüfen. Erst nach deren Vorliegen kommt es auf die Bescheinigung der Agentur für Arbeit überhaupt an.

Dabei verkennt die Kammer nicht, dass im vorliegenden Fall Zweifel an der tatsächlichen Unfreiwilligkeit des Arbeitsplatzverlustes durch die Klägerin bestehen. Unfreiwilligkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU liegt vor, wenn der Arbeitnehmer die Gründe, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt haben, nicht zu vertreten hat (Nr. 2.3.1.2 AVV-FreizügG/EU). Die von dem Beklagten vorgelegte Erklärung des Arbeitgebers der Klägerin lässt es zumindest naheliegend erscheinen, dass die Klägerin durch ihr Verhalten die Kündigung ausgelöst hat. Die Kammer sieht sich jedoch in Anbetracht des Vorgesagten an die Bestätigung der Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit vom 14.07.2016 gebunden. Inwieweit das Verfahren zur Erlangung der Bestätigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit bei der Agentur für Arbeit sachgerecht ausgestaltet ist und welche Ermittlungen durch die Bundesagentur für Arbeit angestellt werden, liegt nach Ansicht der Kammer im Kompetenzbereich der Agentur für Arbeit selbst.

Für diese Rechtsauffassung streitet auch ein Vergleich mit der umzusetzenden Norm der Uni-onsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Ho-heitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (Richtlinie 2004/38/EG)). Nach Art. 7 Abs. 3 lit. c Richtlinie 2004/38/EG sieht ausdrücklich die Voraussetzung einer "ordnungsgemäßen" Bestätigung des zuständigen Ar-beitsamtes voraus. Es ist daher anzunehmen, dass der nationale Gesetzgeber bei Umsetzung dieser Richtliniennorm bewusst auf ein Tatbestandsmerkmal der "ordnungsgemäßen" oder "rechtmäßigen" Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit verzichtet hat. Auch aus der Gesetzesbegründung zum FreizügG/EU 2004 (BT-Drs, 15/420, S. S. 102) ergibt sich kein Hinweis auf das Erfordernis einer "ordnungsgemäßen Bestätigung" der zuständigen Behörde

Die Höhe der der Klägerin gewährten Leistungen ergibt sich aus der Differenz ihres anzuerkennenden Bedarfs im Monat Juli 2015 und den bereits mit dem Bescheid vom 15.05.2015 gewährten Leistungen, der infolge der Aufhebung des Festsetzungs- und Erstattungsbescheides vom 29.05.2016 mit Rechtskraft dieses Urteils in Rechtskraft erwächst.

Die Klägerin stand im Juli 2015 ein monatlicher Regelbedarf in Höhe von gem. § 20 Abs. 2 Nr. 1 in der Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuches vom 24.03.2011 (BGBl. I S. 543) iVm der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2015 (BGBl. I, S. 1620) ein Regelbedarf von 399,00 EUR zu. Zusätzlich waren ihr Bedarfe für Unterkunft und Heizung gem. § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II aF i.H.v. 326,58 EUR zu gewähren, insgesamt folglich 725,58 EUR. Die Klägerin erzielte im Monat Juli 2015 kein Einkommen. Mit Bescheid vom 15.05.2015 waren der Klägerin 355,58 EUR bewilligt worden. Die Klägerin hatte folglich noch einen Anspruch auf weitere 370 EUR.

Die Sprungrevision war hier gemäß §§ 161 Abs. 2 S. 1, 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
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