S 10 AY 26/19 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
10
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 10 AY 26/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig in der Zeit vom 1. April bis zum 30. September 2019, längstens aber bis zur Rechtskraft einer Entscheidung in der Hauptsache oder der Beendigung des Aufenthaltes des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland, ungekürzte Leistungen nach § 2 Absatz 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes in Verbindung mit den Vorschriften des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

Der Antrag vom 26.03.2019, der in der Sache auf die Gewährung ungekürzter Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) i.V.m. den Vorschriften des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) zielt, ist im Hauptantrag bereits unzulässig (I.), im Hilfsantrag aber zulässig und begründet (II.).

I. Der Hauptantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 26.03.2019 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 13.03.2019 ist unzulässig. Ein Fall des § 86b Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegt nicht vor. Der Antragsteller kann sein Rechtsschutzziel in der Hauptsache nicht durch eine isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) erreichen. Denn die Antragsgegnerin hat mit ihrem Bescheid vom 13.03.2019 nicht etwa eine Bewilligung über höhere Leistungen teilweise aufgehoben, sondern für einen neuen Zeitraum – ab dem 01.04.2019 für sechs Monate – Leistungen unter Berücksichtigung einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG bewilligt. Der Antragsteller wendet sich demnach nicht gegen einen Eingriff in ein bestehendes Recht, der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durch die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung des in der Hauptsache erhobenen Rechtsbehelfs erreicht werden könnte, sondern strebt die Einräumung einer zusätzlichen Rechtsposition an.

II. Der insoweit hilfsweise gestellte, nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab dem 01.04.2019 bis zur Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem SGB XII (bei der Formulierung "nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch" handelt es sich erkennbar um ein Versehen) unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren, hat auch in der Sache Erfolg.

Gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, d.h. einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung glaubhaft zu machen.

Die ist dem Antragsteller gelungen.

Der Anordnungsgrund folgt aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen.

Mit Blick auf den Anordnungsanspruch hält es das Gericht nach allen derzeit erkennbaren Umständen des Falles für überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller, der noch bis Ende Juni 2018 Analogleistungen nach § 2 AsylbLG erhalten hatte, auch weiterhin Anspruch auf diese Leistungen hat. Das Gericht hat erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Antragsgegnerin verfügten und von ihr auf § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG gestützten Anspruchseinschränkung.

Nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG gilt Satz 1 entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder 5 AsylbLG, denen bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat i.S.v. Satz 1 internationaler Schutz oder aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist, wenn der internationale Schutz oder das aus anderen Gründen gewährte Aufenthaltsrecht fortbesteht. § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG sieht eine Anspruchseinschränkung im Umfang des § 1a Abs. 2 AsylbLG für bestimmte Fälle vor, in denen ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Der Zweck des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG besteht in der Sanktionierung einer unerwünschten europäischen Sekundärmigration (Oppermann, in: jurisPK-SGB XII, Stand: 11.02.2019, § 1a AsylbLG Rn. 97.1).

Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob Analog-Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 AsylbLG, wie der Antragsteller, überhaupt in den persönlichen Anwendungsbereich des § 1a AsylbLG fallen (ablehnend Oppermann, a.a.O., Rn. 21; SG Landshut, Beschluss vom 28.02.2018 – S 11 AY 66/18 ER).

Denn der Tatbestand des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG dürfte ohnehin nicht erfüllt sein. Die Leistungsberechtigung des Antragstellers folgt nämlich weder aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 noch aus Nr. 5 AsylbLG, sondern aus § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG, da der Antragsteller eine Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) besitzt, die nach Angaben der Antragsgegnerin derzeit noch bis zum 30.04.2019 gültig ist.

Für eine von der Antragsgegnerin vertretene Anwendung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG auch auf jene Ausländer, denen eine Duldung erteilt wurde, sieht das Gericht keinen Raum.

Zwar sind auch Inhaber einer Duldung nach § 60a AufenthG im Regelfall vollziehbar ausreisepflichtig, denn die Duldung setzt gerade die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraus, lässt diese unberührt und erschöpft sich in dem zeitlich befristeten Verzicht der Behörde auf die an sich gebotene Durchsetzung der Ausreisepflicht (Hailbronner, AuslR, Stand: Feb. 2016, § 60a AufenthG Rn. 109, 112 f.; Dollinger, in: Siefert, AsylbLG, § 1 Rn. 58). Die Duldung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Ausreisepflicht eines Ausländers nicht in allen Fällen ohne Verzögerung durchgesetzt werden kann (BVerwG, Urteil vom 25.09.1997 – 1 C 3/97). Sowohl Wortlaut als auch Systematik des § 1a AsylbLG sprechen aber dagegen, Abs. 4 Satz 2 der Vorschrift auf geduldete Ausländer anzuwenden. Denn der Gesetzgeber hat in § 1a AsylbLG hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereiches ausdrücklich zwischen den verschiedenen Leistungsberechtigten des § 1 Abs. 1 AsylbLG differenziert (vgl. LSG Hamburg, Beschluss vom 25.10.2017 – L 4 AY 5/17 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12.12.2016 – L 8 AY 51/16 B ER; jeweils zu § 1a Abs. 2 AsylbLG). So betreffen die Anspruchseinschränkungen nach § 1a Abs. 1 und 3 AsylbLG Leistungsberechtigte sowohl nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 als auch nach Nr. 5 AsylbLG, während § 1a Abs. 2 AsylbLG lediglich die nach Nr. 5 und § 1a Abs. 4 (Satz 2 i.V.m.) Satz 1 AsylbLG die nach Nr. 1 oder Nr. 5 Berechtigten nennt. Diese Differenzierung spricht dafür, dass sich für die Anwendbarkeit des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG auf vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer die Leistungsberechtigung allein aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG ergeben muss und die Norm nicht anwendbar ist, wenn der Betroffene (zugleich) im Besitz einer Duldung ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.). Überdies ist zu beachten, dass es sich bei § 1a AsylbLG um eine Sanktionsnorm handelt, die gravierende Folgen für die Betroffenen hat und deshalb eng und am Wortlaut orientiert auszulegen ist.

Aus denselben Erwägungen hält es das Gericht auch für ausgeschlossen, den Antragsteller – im Wege der erweiternden Auslegung – deshalb dem Kreis der Leistungsberechtigten nach § 1 Nr. 1 AsylbLG zuzurechnen, weil er sich, wie die Antragsgegnerin meint, angesichts des von ihm betriebenen Klageverfahrens gegen den Bescheid des BAMF vom 27.04.2018 in einer vergleichbaren Lage befindet, wie jene Ausländer, die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz besitzen.

Schließlich scheidet auch eine von der Antragsgegnerin befürwortete analoge Anwendung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG auf jene Leistungsberechtigte, denen bereits in einem anderen Mitgliedstaat der EU Schutz gewährt wurde und denen mangels freiwilliger Ausreise nur deshalb eine Duldung erteilt wurde, um einen ungeregelten Aufenthalt zu vermeiden, aus. Dabei sei zunächst angemerkt, dass § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG mit dort enthaltenen Bezugnahme auf "eine Duldung nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes" gerade nicht nach den Gründen für die Erteilung einer Duldung differenziert. Im Übrigen steht einer Analogie der bereits hervorgehobene Charakter des § 1a AsylbLG als Sanktionsnorm entgegen. Auch wenn § 31 Erstes Buch Sozialgesetzbuch über den Vorbehalt des Gesetzes für den Bereich des AsylbLG nicht gilt, erfordert die Absenkung von Leistungen, die der Existenzsicherung dienen, wegen der Betroffenheit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG und damit bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen eine ausdrückliche Entscheidung durch den Gesetzgeber, an der es bei einer analogen Anwendung fehlte (vgl. BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 4 AS 26/10 R).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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