L 7 AS 507/19 B ER und L 7 AS 508/19 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 AS 589/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 507/19 B ER und L 7 AS 508/19 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.03.2019 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellerinnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 01.03.2019 bis zum 30.09.2019 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen. Den Antragstellerinnen wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Q, N, beigeordnet. Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragstellerinnen in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerinnen begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Die Antragstellerin zu 1) ist kosovarische Staatsangehörige. Sie wurde am 00.00.1998 in U/Kosovo geboren und reiste 1999 mit ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie lebte fortan in H und verfügte über eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG, zuletzt befristet bis zum 21.10.2017. Diese Aufenthaltserlaubnis war seit 2009 mit der Auflage "Wohnsitznahme nur in H" verbunden. Seit dem 23.11.2018 ist die Antragstellerin Inhaberin einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG. Auch nach der Fiktionsbescheinigung ist der Antragstellerin eine Wohnsitznahme nur in H gestattet. Sie ist berechtigt, eine Beschäftigung jeder Art und eine selbständige Tätigkeit mit Genehmigung der Ausländerbehörde aufzunehmen.

Gemäß einer Stellungnahme des Sozialdienstes der Stadt H vom 16.05.2019 lebte die Antragstellerin zu 1) seit 2013 wegen schwerwiegender Konflikte mit ihrer Mutter teilweise in Einrichtungen, teilweise bei einer Bekannten ihrer Mutter. Im Sommer 2017 bezog sie eine eigene Wohnung in H. Der Beigeladene bewilligte ihr in der Folge Leistungen, zuletzt mit Bescheid vom 13.07.2018 für die Zeit vom 01.08.2018 bis zum 31.10.2018.

Die schwangere Antragstellerin zu 1) beantragte am 10.07.2018 beim Beigeladenen die Genehmigung eines Umzugs in die C Str. 00 in N. Nach einer dem Antrag beigefügten Stellungnahme des S e.V. befürchtete die Antragstellerin zu 1) in H Gewalt, wenn ihre Mutter von ihrem nichtehelichen Kind erfahre. Mit Bescheid vom 11.07.2018 stellte der Beigeladene fest, der Umzug sei aus schwerwiegenden sozialen Gründen erforderlich. Mit Bescheid vom 24.07.2018 erteilte der Antragsgegner eine Zusicherung für den begehrten Umzug. Mit Bescheid vom 20.08.2018 hob der Beigeladene die Bewilligung zum 01.09.2018 wegen des bevorstehenden Umzugs der Antragstellerin zu 1) auf.

Am 20.08.2018 beantragte die Antragstellerin zu 1) beim Antragsgegner Leistungen. Am 01.09.2018 zog sie nach N. Am 11.09.2018 wurde die Antragstellerin zu 2) geboren, die bislang weder melde- noch ausländerrechtlich erfasst ist. Mit Bescheid vom 17.09.2018 bewilligte der Antragsgegner vorläufig zunächst der Antragstellerin zu 1) Leistungen vom 01.09.2018 bis zum 28.02.2019. Da die Antragstellerin zu 1) dem Antragsgegner keine Nachweise über einen Antrag auf Kinder- und Elterngeld vorlegte, entzog der Antragsgegner die Leistungen mit Bescheid vom 22.11.2018.

Am 13.12.2018 beantragte die Antragstellerin zu 1) bei der Ausländerbehörde der Stadt H die Aufhebung der Wohnsitzauflage. Ihre Mutter habe sie geschlagen, weil sie sich nicht ihrer muslimischen Kultur angepasst habe. Nunmehr habe sie Angst, dass ihre Familie von ihrem Kind erfahre. Die Antragstellerin zu 1) übermittelte dem Antragsgegner Ende November 2018 ihre Fiktionsbescheinigung, wodurch dieser Kenntnis von der Wohnsitzauflage erlangte.

Am 01.03.2019 haben die Antragstellerinnen beim Sozialgericht Gelsenkirchen beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Leistungen zu verpflichten. Der Antrag richtet sich nach seinem Wortlaut auf die Bewilligung der "Regelleistung", in der Begründung des Antrags nimmt der Bevollmächtigte der Antragstellerin aber auch Bezug auf ausstehende Mietzahlungen. Der Antragstellerin zu 1) sei nicht bewusst gewesen, dass ihr der Umzug nach N nicht erlaubt gewesen sei. Im Februar 2019 habe der Antragsgegner erklärt, vor einer Entscheidung der Ausländerbehörde könne sie keine Leistungen mehr bekommen. Die Ausländerbehörde habe ihr bei mehreren Nachfragen erklärt, die Akte sei auf dem Weg von H nach N. Sie habe keine Mittel mehr und sich bislang Geld von ihrer Freundin B S geliehen. Die Antragstellerin zu 1) hat dem Antrag eine eidesstattliche Versicherung beigefügt.

Mit Beschluss vom 20.03.2019 hat das Sozialgericht den Antrag und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Antrag sei unzulässig. Es fehle an einem Rechtsschutzbedürfnis, weil die Antragstellerinnen beim Antragsgegner noch keinen Antrag iSv § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II gestellt hätten.

Am 21.03.2019 haben die Antragstellerinnen Beschwerde erhoben. Nach Aktenlage haben sie zeitgleich beim Antragsgegner einen ausdrücklichen Weiterbewilligungsantrag gestellt. Mit Bescheid vom 26.03.2019 hat der Antragsgegner die Bewilligung von Leistungen abgelehnt. Aufgrund der Wohnsitzauflage sei eine Leistungsbewilligung in N gem. § 36 Abs. 2 SGB II ausgeschlossen. Am 09.04.2019 haben die Antragstellerinnen Widerspruch erhoben, der nach Aktenlage noch nicht beschieden ist.

Die Ausländerbehörde hat mit Schreiben vom 28.05.2019 erklärt, sie sehe keine besondere Härte und stimme der Aufhebung der Wohnsitzauflage nicht zu. Eine förmliche Entscheidung ist nach Aktenlage noch nicht ergangen.

II.

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerinnen ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antrag auf Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistungszahlung im Wege der einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 06.08.2018 - L 7 AS 779/18 B ER und vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER).

Der Antrag war entgegen der Annahme des Sozialgerichts von Beginn an zulässig. Das Rechtsschutzbedürfnis fehlte nicht. In der Verwaltungsakte ist dokumentiert, dass sich die Antragstellerin selbst und der Sozialdienst der Stadt N nach Versagung der Leistungen durch den Bescheid vom 22.11.2018 durch Vorsprachen bzw. Telefonanrufe bemühten, den Antragsgegner zu einer Weiterzahlung der zunächst bewilligten Leistungen zu bewegen, was von dem Antragsgegner im Hinblick auf die Wohnsitzauflage verweigert wurde. In diesem Fall hätte wäre auch eine erneute Kontaktaufnahme mit dem Antragsgegner kein einfacherer und kostengünstigerer Weg gewesen, das begehrte Rechtsschutzziel zu erreichen, wie auch der erwartungsgemäß ergangene rechtswidrig begründete Ablehnungsbescheid vom 26.03.2019 dokumentiert. Zudem haben die Antragsteller nach Aktenlage am 21.03.2019 einen ausdrücklichen Antrag beim Antragsgegner iSv § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II gestellt, der gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II auf den 01.03.2019 zurückwirkt und mit Bescheid vom 26.03.2019 vom Antragsgegner ablehnend beschieden worden ist.

Gegenstand des Verfahrens ist nicht nur die Regelleistung, sondern ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung auch der Leistungen für Unterkunft und Heizung. Die insoweit abweichende Formulierung des einstweiligen Rechtsschutzantrags ist als unbeachtliche Falschbezeichnung anzusehen, da aus der Antragsbegründung hinreichend deutlich wird, dass es den Antragstellerinnen auch (gerade) um Leistungen für die Unterkunft geht, indem sie darauf hinweisen, dass sie ihre Miete nicht bezahlen können.

Der Antrag ist begründet. Die Antragstellerinnen haben einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund iSd § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 1) erfüllt die auf das Lebensalter bezogenen Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Zweifel an der Erwerbsfähigkeit in medizinischer Hinsicht im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II bestehen nicht. Ihre Erwerbsfähigkeit in rechtlicher Hinsicht ergibt sich aus der Fiktionsbescheinigung vom 23.11.2018, wonach sie berechtigt ist, eine Beschäftigung jedweder Art aufzunehmen. Die Antragstellerin zu 2) ist als nichterwerbsfähige Angehörige der Antragstellerin zu 1) gemäß §§ 7 Abs. 2 Satz 1, 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II zum Bezug von Sozialgeld berechtigt.

Die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerinnen gemäß §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II ist in dem für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Maße glaubhaft gemacht, indem die Antragstellerin zu 1) ihren Vortrag durch eine eidesstattliche Versicherung bekräftigt hat. Aus den von den Antragstellerinnen übersandten Kontoauszügen ergeben sich keine Auffälligkeiten. Evtl. verbleibenden Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit insbesondere im Hinblick darauf, dass die Antragstellerin zu 1) mitgeteilt hat, ihr "Freund" lebe auch in N und helfe ihr, ist im Hauptsacheverfahren abschließend nachzugehen.

Die Ausschlussgründe des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II greifen nicht, weil im Fall einer Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG der Aufenthalt generell und nicht nur zum Zweck der Arbeitsuche als erlaubt gilt (Urteil des Senats vom 25. Februar 2016 - L 7 AS 1391/14). Der Antragsgegner ist gem. § 36 Abs. 1 SGB II für den geltend gemachten Anspruch örtlich zuständig und passivlegitimiert, da die Antragstellerinnen im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Die Ausnahmeregelung des § 36 Abs. 2 SGB II ist nicht einschlägig, da die Antragstellerinnen keiner Wohnsitzauflage iSd § 12a AufenthG unterliegen und nicht über einen Aufenthaltstitel iS dieser Vorschrift verfügen. Vielmehr verfügten sie über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG, weshalb sich ihre Wohnsitzverpflichtung nach § 61 Abs. 1d AufenthG richtet. Diese Vorschrift wird von der Sonderreglung zur örtlichen Zuständigkeit des § 36 Abs. 2 SGB II nicht erfasst.

Der Zeitraum der Verpflichtung des Antragsgegners orientiert sich an § 41 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II.

Auch die Beschwerde gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe durch das Sozialgericht ist begründet. Die Rechtsverfolgung hatte von Beginn an hinreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 114 ZPO). Für das Verfahren vor dem Senat haben die Antragstellerinnen Prozesskostenhilfe nicht beantragt.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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