S 28 AY 48/19 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
28
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 28 AY 48/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin mit Wirkung vom 23.05.2019 längstens bis zur Rechtskraft einer Entscheidung in der Hauptsache oder der Beendigung des Aufenthaltes der Antragstellerin in der Bundesrepublik Deutschland, ungekürzte Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz - AsylbLG nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

Der Antrag vom 23.05.2019, mit dem die Antragsgegnerin verpflichtet werden soll, der Antragstellerin ungekürzte Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren, ist zulässig und in dem tenoriertem Umfang begründet, denn die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung liegen insoweit vor.

Unabhängig von der in § 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG in der seit dem 24.10.2015 geltenden Fassung enthaltenen Regelung, wonach der Widerspruch (und die Anfechtungsklage) gegen einen Verwaltungsakt, mit dem wie hier eine Einschränkung des Leistungsanspruchs nach § 1a oder § 11 Abs. 2a festgestellt wird, keine aufschiebende Wirkung hat, so dass eine einstweilige Maßnahme nach § 86b Abs. 1 SGG in Betracht kommt, kann die Antragstellerin das begehrte Ziel, nämlich vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Anspruchseinschränkung und die Auszahlung ungekürzter Leistungen, allein mit einer einstweiligen Regelungsanordnung nach § 86 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG erreichen (vgl. Oppermann in: Schlegel-Voelzke, juris-PK-SGB XII, § 1a AsylbLG, Stand: 29.05.2017, Rdnr. 165.2), soweit es sich hier bei dem streitigen Bescheid vom 17.05.2019 nicht um die Absenkung einer laufenden Leistung handelte. Soweit der hier unter Ziffer 1. gestellte Antrag auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung damit zwar unzulässig ist, war das Gericht i.S. von § 123 SGG, wonach es über die erhobenen Ansprüche des Klägers entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein, gehalten, den Antrag insoweit als Antrag i.S. einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechend auszulegen.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Anordnung nach § 86b Abs. 2 ist neben der besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch auf die beantragte Leistung (Anordnungsanspruch) und setzt gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 Zivilprozessordung voraus, dass die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch und den Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind.

Der Antrag ist danach zulässig und im Hinblick auf die vorgenommene Leistungskürzung auch begründet.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17.05.2019 hat die Antragsgegnerin der Antragstellerin die nach §§ 3 Abs. 1, 2 Abs. 1 zu gewährenden Leistungen nach dem AsylbLG mit Wirkung vom 01.06.2019 für die Dauer von 6 Monaten gekürzt, weil der Antragstellerin bereits in Italien internationaler Schutz gewährt worden ist, weshalb auch der Asylantrag der Antragstellerin mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 15.04.2019 als unzulässig abgelehnt worden ist. Die Antragsgegnerin stützt dies auf § 1a Abs. 4 Satz 2 iVm Abs. 2 Satz 2 bis 4 AsylbLG. Gegen den Bescheid vom 28.11.2018 hat die Antragstellerin über ihre Bevollmächtigte am 22.05.2019 Widerspruch eingelegt.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin sind die Voraussetzungen für eine Leistungskürzung hier jedoch nicht gegeben.

Nach der mit dem Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 eingefügten und zum 6. August 2016 in Kraft getretenen (BGBl I 2016, 1939) Regelung gilt § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG entsprechend für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder 5 AsylbLG, denen bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne von Satz 1 internationaler Schutz oder aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist, wenn der internationale Schutz oder das aus anderen Gründen gewährte Aufenthaltsrecht fortbesteht. Der Zweck der Regelung besteht in der Begrenzung der Sekundärmigration insbesondere aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach Deutschland (Deibel, ZfSH/SGB 2016, 520, 524; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 1a AsylbLG, 2. Überarbeitung Rn. 97.1). Nach dem Gesetzentwurf vom 31. Mai 2016 dient sie der Vervollständigung der Regelung nach § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG (BT-Drucksache 18/8615, Seite 35), wonach eine Anspruchseinschränkung für bestimmte Fälle vorgesehen ist, in denen ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zu § 1a Abs. 4 AsylbLG in der ab dem 24. Oktober 2015 geltenden Fassung war gefordert worden, dass eine Leistungseinschränkung auch ("erst recht") bei Personen erfolgt, deren Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat durch Gewährung eines Schutzstatus bereits positiv abgeschlossen worden sind (BR-Drucksache 446/1/15, Seite 7). Für das Asylverfahren bestimmt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der seit dem 06.08.2016 geltenden Fassung, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dementsprechend hat das BAMF zwar den Asylantrag der Antragstellerin mit Bescheid vom 12.11.2018 als unzulässig abgelehnt. Gegen diese Entscheidung ist jedoch ausweislich der beigezogenen Ausländerakte seit dem 10.05.2019 ein Klageverfahren beim Verwaltungsgericht Hamburg anhängig (Az.: 9 A2265/19), über das bisher noch nicht entschieden worden ist. Der Antragstellerin ist danach aktuell eine Aufenthaltsgestattung für die Durchführung des Asylverfahrens bis zum 06.05.2019 erteilt worden, so dass von einer tatsächlichen Abschiebung abgesehen wird. Auch unter Berücksichtigung des dargestellten Normzwecks und des Regelungszusammenhangs des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG hält das Gericht die Kürzung der Leistungen zum Lebensunterhalt der Antragstellerin auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nach summarischer Prüfung daher nicht für vertretbar. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:

Die Antragstellerin verfügt über eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens bis zum 07.10.2019 und hält sich damit derzeit erlaubt in Hamburg. Dies wird ihr jedenfalls voraussichtlich bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens über ihren Asylantrag gestattet sein. Sie ist daher darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Denn zu berücksichtigen ist, dass die nach § 1a Abs. 4 AsylbLG vorzunehmenden Kürzungen nicht, wie z.B. in § 1a Abs. 2 und 3 AsylbLG, auf einem konkretem Fehlverhalten der Leistungsberechtigten beruht, sondern darin, dass diese Personen dem europäischem Asylregime unterworfen sind und somit allein eine unerwünschte europäische Sekundärmigration sanktioniert wird (vgl. Oppermann,aaO, § 1a AsylbLG Rdnr. 97.1). Fraglich ist daher, ob die Festlegung von Zuständigkeits- und Verteilungsfragen zwischen EU-Mitgliedsstaaten für Schutzbedürftige eine Leistungsabsenkung auf das physische Existenzminimum überhaupt legitimieren kann (vgl. Oppermann, aaO, Rdnr. 97mwN). Nach der hier vertretenen Auffassung gilt dies im Hinblick auf eine verfassungskonforme Auslegung der Regelung in § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG jedenfalls solange nicht, wenn wie hier, der aufenthaltsrechtliche Status im Hinblick auf die Asylanträge in Deutschland noch nicht abschließend geklärt worden ist, weil der Rechtsweg in zulässiger Weise beschritten wurde und demnach eine Abschiebung in den Staat, der bereits internationalen Schutz gewährt, faktisch nicht vorgenommen wird. Anders würde sich der vorliegende Sachverhalt darstellen, wenn im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Rechtswegs bereits eine ablehnende Eilentscheidung über die Zulässigkeit des Asylantrags getroffen wäre. Solange dies nicht der Fall ist, erscheint eine Kürzung der existenzsichernden Leistungen der Antragstellerin nicht vertretbar, so dass ihr auch ab 01.06.2019 diese ungekürzt zustehen, soweit auch die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen weiterhin vorliegen.

Im Hinblick auf die erheblichen Kürzungen der existenzsichernden Leistungen liegt auch Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) vor.

Demgegenüber hat die Antragstellerin keinen Anspruch auf höhere Leistungen, soweit es das BMAS bisher versäumt hat, die sich nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ergebenden Geldbeträge entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a SGB XII in Verbindung mit der Verordnung nach § 40 Satz 1 Nr. 1 SGB XII gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG seit dem 01.01.2017 fortzuschreiben. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin vermag sich das Gericht im Hinblick auf die im Eilverfahren nur summarisch vorzunehmenden Prüfung der Sach- und Rechtslage der dort vertretenen Rechtsauffassung (ebenso: SG Stade Urteil vom 13.11.2018 S 19 AY 15/18, wohl auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23.05.2019 L 8 AY 49/18 Rdnr. 20ff – juris; SG Bremen, Beschluss vom 15.04.2019 S 40 AY 23/19 ER Rdnr. 18ff – juris), wonach sich ein solcher Anspruch auf Leistungsanpassung/Dynamisierung direkt aus dem Gesetz ergebe, nicht anzuschließen. Zwar enthält die in § 3 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG genannte Regelung eine eindeutige Verpflichtung, die Leistungen entsprechend der Veränderungsrate nach dem SGB XII anzupassen. Diese Verpflichtung richtet sich aber allein gegen das BMAS, soweit dieses jeweils spätestens bis zum 01. November eines Kalenderjahres die Höhe der Bedarfe, die für das folgende Kalenderjahr maßgebend sind, im Bundesgesetzblatt bekannt gibt (vgl. § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG). Die Fortschreibung der Regelbedarfe dient dabei der Dynamisierung der Leistungen, damit ein jahrelanges statistisches Festhalten an nicht mehr realitätsgerechten Festsetzungen ende (vgl. Wahrendorf, SGB XII/AsylbLG, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 3 AsylbLG, Rdnr. 67). Zwar hat es das BMAS entgegen dieser gesetzlichen Verpflichtung bisher unterlassen, die Leistungen nach dem AsylbLG seit dem 01.01.2017 entsprechend anzupassen, weil der Bundesrat dem im Herbst 2016 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Dritten Gesetz zur Änderung des AsylbLG vom 16.1.2016, mit dem die Höhe der Geldbeträge für die Zeit ab 01.01.2017 festgesetzt werden sollten, nicht zugestimmt hat (vgl. BR-Drs. 713/16). In Ermangelung einer gesetzlichen Neufestsetzung konnte daher aus rechtlichen Gründen für die Zeit ab 01.01.2017 eine Fortschreibung nach § 3 Abs. 4 AsylbLG nicht erfolgen. Derzeit wird dazu vom BMAS ein neuer Gesetzentwurf erarbeitet (vgl. BT-Drs. 19/6663 S. 50f). Im Hinblick auf das vom Gesetzgeber in § 3 Abs. 4 AsylbLG so ausgestaltete Verfahren der Fortschreibung hält sich das Gericht aber weder für berechtigt, die Geldbeträge nach dem AsylbLG der Höhe nach selbst zu bestimmen noch die zuständige Behörde zu deren Anwendung zu verpflichten. Denn dies ist allein Aufgabe des BMAS im Rahmen seiner ihm durch § 3 Abs. 4 AsylbLG zugeschriebenen legislativen Kompetenz und nicht Aufgabe der mit der Durchführung des AsylbLG betrauten Behörden noch der zuständigen Sozialgerichte (ebenso: Hohm in: ZfSH/SGB 2019, 68, 72). Eine weitergehende Prüfung muss daher ggfs. einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Die Entscheidung über die Kosten entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits und folgt in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, weil der Beschwerdewert von Euro 750,- nicht erreicht wird. (§ 172 Abs. 3 SGG).
Rechtskraft
Aus
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