S 5 AS 811/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 5 AS 811/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Erstattung von zuvor gewährten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 34 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der Kläger nahm seit den späten Neunzigerjahren an einer Kartenspielrunde teil. Nachdem er dort seine liquiden Mittel verloren hatte, räumte der Veranstalter der Spielrunde dem Kläger fortwährend Kredit ein, der schließlich auf über EUR 100.000,00 anwuchs. Der Kläger blieb der Spielrunde in der Folge fern. Seit 2005 bezog er von dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Seit 2009 oder 2010 wurde der Kläger von seinem Kreditgeber unter Druck gesetzt, sein Haus zu verkaufen, um seine Spielschulden zu begleichen. Unter Androhung körperlicher Gewalt erklärte sich der Kläger schließlich hierzu bereit. Der Hausverkauf fand sodann 2012 statt. Der Kläger erlöste hierbei EUR 168.000,00. Den Großteil des Geldes übergab der Kläger seinem Gläubiger.

Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28.06.2012 die weitere Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zunächst ab (Bl. 13 der Verwaltungsakte [VA]). Nachdem ein hiergegen gerichtetes Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz sowohl beim Sozialgericht Wiesbaden als auch beim Hessischen Landessozialgericht (HLSG) erfolglos geblieben ist (S 20 AS 814/12 ER und L 9 AS 814/12 B ER), verglichen sich die Beteiligten im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Wiesbaden am 19.03.2015 (S 20 AS 815/12) darauf, dass der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 01.11.2012 bis 31.03.2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gewährt. Im Vergleich (Bl. I 393 ff. VA) behielt der Beklagte sich eine Rückforderung nach § 34 SGB II vor. Der Beklagte bewilligte dem Kläger auch für die Folgezeiträume Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Mit Bescheid vom 21.03.2016 (Bl. 24 d. A.) stellte der Beklagte fest, dass der Kläger nach § 34 SGB II zur Rückzahlung von Leistungen in Höhe von insgesamt EUR 35.310,73 verpflichtet ist, und forderte diese zurück. Es handelte sich hierbei um die im Zeitraum 01.11.2012 bis 31.01.2016 an den Kläger gezahlten Leistungen.

Der Kläger legte hiergegen am 08.04.2016 aus den Gründen seines Klageantrags Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.07.2016 (Bl. 42 d. A.) zurückwies.

Mit der am 12.08.2016 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung macht er geltend, dass er nicht nach § 34 SGB II zur Erstattung der an ihn gezahlten Leistungen nicht verpflichtet sei. Er sei bereits vor dem Verkauf des Hauses im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gewesen, weswegen er durch die Weggabe des Verkaufserlöses seine Hilfebedürftigkeit lediglich aufrechterhalten und nicht herbeigeführt habe. Letzteres sei aber von § 34 SGB II a.F. nicht erfasst gewesen. Überdies könne ihm sein Verhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden. Denn durch die von seinen Gläubigern geschaffene Bedrohungssituation habe für ihn keine andere Handlungsalternative zur Verfügung gestanden, als seine Spielschulden zu bezahlen. Jedenfalls liege in der durch seine Gläubiger geschaffenen Drucksituation ein wichtiger Grund. Auch sei die Forderung des Beklagten verjährt und ihre Verwirklichung stelle für den Kläger eine Härte dar.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 21.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.07.2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
Die Klage abzuweisen.

Er macht geltend, dass der Kläger den Tatbestand des § 34 SGB II erfüllt habe. Ihm stehe auch kein wichtiger Grund zur Seite, da von ihm hätte erwartet werden können, polizeiliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, anstatt die Spielschulden zu bezahlen. Der Beklagte beruft sich in diesem Zusammenhang auf die von ihm erlassenen Bescheide.

Am 31.08.2018 führte das Gericht einen Termin zur Erörterung des Sachverhalts nach § 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG durch. In diesem Termin machte der Kläger umfassende Angaben zu der Bedrohungssituation, der er sich ausgesetzt sah. Auf das Protokoll (Bl. 136 f. d. A.) wird in diesem Zusammenhang verwiesen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt von gerichts- und Verwaltungsakte, insbesondere die gewechselten Schriftsätze. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung, auf deren Protokoll ebenfalls verwiesen wird (Bl. 160 f. d. A.).

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Anfechtungsklage ist unbegründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 21.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.06.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage der Bescheide des Beklagten ist § 34 SGB II in der zum Zeitpunkt ihres Erlasses geltenden Fassung (zum Geltungszeitraumprinzip vgl. Bundessozialgericht [BSG] v. 08.02.2017, B 14 AS 3/16 R, BeckRS 2017, 108764). Dieser lautet:

(1) Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, ist zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Der Ersatzanspruch umfasst auch die geleisteten Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung. Von der Geltendmachung des Ersatzanspruchs ist abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würde.

(2) Eine nach Absatz 1 eingetretene Verpflichtung zum Ersatz der Leistungen geht auf den Erben über. Sie ist auf den Nachlasswert zum Zeitpunkt des Erbfalls begrenzt.

(3) Der Ersatzanspruch erlischt drei Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Leistung erbracht worden ist. Die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten sinngemäß; der Erhebung der Klage steht der Erlass eines Leistungsbescheides gleich.

Der Kläger hat vorsätzlich die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen an sich herbeigeführt, indem er das aus dem Verkauf seines Hauses erlöste Geld zur Tilgung von Spielschulden verwendet hat. Hiermit hat er Vermögen, welches zum Bestreiten seines Lebensunterhaltes bereitstand, weggeben, und damit die eigene Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II herbeigeführt.

Entgegen der Auffassung des Klägers war sein Verhalten tatbestandlich von der Vorschrift erfasst. Soweit sich der Kläger darauf berufen hat, dass der Gesetzgeber die maßgebliche Vorschrift des § 34 Abs. 1 SGB II mit Wirkung zum 01.08.2016 geändert hat und folgenden Satz 2 eingefügt hat: "Als Herbeiführung im Sinne des Satzes 1 gilt auch, wenn die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde", folgt hieraus nichts zu seinen Gunsten. Es ist zwar zutreffend, dass das bloße Aufrechterhalten der Hilfebedürftigkeit von der im hier streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Gesetzesfassung nicht erfasst war. Dies ändert aber nichts daran, dass der Kläger auch im Sinne der alten Gesetzesfassung seine Hilfebedürftigkeit herbeigeführt und nicht bloß aufrechterhalten hat. Das ergibt sich schon daraus, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Übergabe des Geldes nicht im Leistungsbezug war. Im Übrigen kommt es aber auch nicht auf den Leistungsbezug an, sondern nach dem Gesetzeswortlaut auf das Herbeiführen der Voraussetzungen für die Leistungsgewährung. Dieser Tatbestand ist erfüllt. So lange der Kläger über Vermögen von über EUR 100.000,00 verfügte, war er nicht hilfebedürftig. Er wurde es erst in dem Moment, als er das Geld weggab. Hierbei handelt es sich um ein Herbeiführen im unmittelbaren Wortsinn.

Das Herbeiführen ist demgegenüber abzugrenzen vom Aufrechterhalten. In den vom BSG in diesem Zusammenhang entschiedenen Fällen ging es darum, dass Leistungsberechtigte, die bereits hilfebedürftig waren, es unterließen, Arbeit aufzunehmen und Einkommen zu erzielen (BSG v. 08.02.2017, B 14 AS 3/16 R, BeckRS 2017, 108764). Hier liegt der Fall jedoch anders. Wenn jemand ununterbrochen hilfebedürftig ist, und es bloß unterlässt, die Hilfebedürftigkeit zu beenden oder zu verringern, dann liegt hierin – wie vom BSG erkannt – ein Aufrechterhalten: Etwas anderes ist es aber, wenn wie hier, die Hilfebedürftigkeit durch den Zufluss von Vermögen tatsächlich beendet und durch seine Weggabe wieder herbeigeführt wird.

Für sein Verhalten stand dem Kläger zur Überzeugung der Kammer auch kein wichtiger Grund zur Seite.

Ein wichtiger Grund ist nach allgemeiner Auffassung anzunehmen, wenn unter Berücksichtigung aller Besonderheiten des Einzelfalles Umstände vorliegen, unter denen nach verständiger Abwägung der Interessen des Einzelnen mit den Interessen der Allgemeinheit – also des Steuerzahlers – den Interessen des Einzelnen der Vorrang einzuräumen ist. Dabei muss der wichtige Grund objektiv vorliegen. Unerheblich ist demgegenüber, ob der Verursacher glaubt, einen wichtigen Grund zu haben (HLSG v. 10.10.2017, L 6 AS 230/17 B).

Als wichtiger Grund kommt vorliegend in Betracht, dass der Kläger von seinen Gläubigern mit körperlicher Gewalt bedroht und damit in eine Zwangslage gebracht wurde. Die Kammer geht insoweit davon aus, dass die nachvollziehbaren Schilderungen des Klägers im Erörterungstermin und in der mündlichen Verhandlung zutreffend sind. Gleichwohl stellt der vom Kläger geschilderte Sachverhalt zur Überzeugung der Kammer keinen wichtigen Grund im Sinne des Gesetzes dar. Denn auch wenn der Kläger sich aus seiner Sicht subjektiv in einer Zwangslage befunden zu haben glaubte, kann die Kammer nicht feststellen, dass diese Zwangslage auch objektiv bestanden hat. Eine Zwangslage durch Bedrohung besteht objektiv erst dann, wenn dem Bedrohten tatsächlich keine anderen zumutbaren Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, als die Forderungen des Bedrohenden zu erfüllen.

Hier war es so, dass der Kläger über einen langen, sich über mehrere Jahre erstreckenden Zeitraum mit körperlichen Repressalien bedroht wurde. Es wäre dem Kläger in diesem Zeitraum objektiv möglich und auch zumutbar gewesen, die Polizei um Hilfe zu bitten.

Die Kammer geht dabei nicht davon aus, dass von vorneherein feststehen konnte, dass eine Einschaltung der Polizei aussichtslos gewesen wäre. Es besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass dem Kläger bewusst war, dass das Verhalten seiner Gläubiger rechtswidrig war, und der Kläger polizeiliche Hilfe hätte in Anspruch nehmen können. Er tat dies lediglich deswegen nicht, weil ihm diese nicht erfolgversprechend erschien. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang die Vorstellung hatte, dass ein Offenbaren gegenüber der Polizei unmittelbar die Verwirklichung des ihm angedrohten Übels zur Folge gehabt hätte, handelt es sich hierbei um eine subjektive Vorstellung, nicht aber um einen objektiv vorliegenden wichtigen Grund. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass die Polizei in Fällen wie solchen des Klägers nicht in erster Linie für die Sicherheit des Bedrohten sorgt und Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts erst dann unternimmt, wenn diese Sicherheit gewährleistet ist. Es ist insbesondere nicht anzunehmen, dass die Polizei unter keinen Umständen dazu in der Lage ist, Menschen, die rechtswidrigen Drohungen mit körperlicher Gewalt ausgesetzt sind, zu schützen. Welche Möglichkeiten hierfür zur Verfügung gestanden hätten (und ob diese dem Kläger zumutbar gewesen wären) lässt sich indes nicht im Nachhinein aufklären. Diese Nichtaufklärbarkeit geht aber zu Lasten des Klägers, der diese durch die Schaffung vollendeter Tatsachen verschuldet hat.

Dem Beklagten steht der geltend gemachte Ersatzanspruch damit zu. Der Anspruch ist auch nicht verjährt. Nach der im streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Vorschrift des § 34 Abs. 3 SGB II erlischt der Anspruch drei Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Leistung erbracht worden ist. Vorliegend wurden die Leistungen in den Jahren 2013-2016 erbracht, der Erstattungsbescheid 2016 erlassen. Verjährung ist mithin nicht eingetreten.

Die Rückforderung stellt auch keine Härte im Sinne der Vorschrift dar. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Rückzahlungsverpflichtung den Kläger über ein Ausmaß hinaus belastet, das mit der Verpflichtung zur Erstattung ohnehin verbunden ist. Die aus der Erfüllung des Tatbestandes folgende Ersatzpflicht vermag jedenfalls allein keine Härte zu begründen, weil die in der Ersatzpflicht liegende Härte für den Betroffenen gesetzlich gewollt ist (Gagel/Stotz, 74. EL Juni 2019, SGB II § 34 Rn. 60). Eine Härte kann daher nur angenommen werden, wenn ein atypischer Fall vorliegt, was vorliegend nicht ersichtlich ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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