S 5 AL 2577/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AL 2577/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Durch ein Nachschieben von Gründen im Widerspruchsbescheid darf der angefochtene Verwaltungsakt nicht in seinem Wesensgehalt geändert werden. Deshalb kommt ein Austausch der Rechtsgrundlagen nicht in Betracht, wenn eine vormals gebundene Entscheidung im konkreten Einzelfall zu einer Ermessenentscheidung würde – etwa bei einem Wechsel von § 48 SGB X zu § 45 SGB X.
1. Der Bescheid der Beklagten vom 30.4.2019 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 23.7.2019 sowie des Widerspruchsbescheids vom 29.7.2019 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die teilweise Rücknahme einer Bewilligung von Arbeitslosengeld.

Die Klägerin war seit dem 1.7.1983 bei der D. beschäftigt. Am 11.8.2016 schloss sie mit der D. einen Vertrag. Darin vereinbarten die Parteien, die Klägerin werde ab dem 1.12.2017 beurlaubt (Ziff. 1). Das Arbeitsverhältnis werde allerdings erst mit Ablauf des 31.7.2026 enden (Ziff. 2). Für die Zeit der Beurlaubung erhalte die Klägerin "Übergangsgeld" in Höhe von 70 % des zuletzt bezogenen Bruttomonatsgehalts; ausgehend hiervon betrage das "Übergangsgeld" der Klägerin monatlich 2.225,57 EUR (Ziff. 3). Die Bezüge würden von der D. abzgl. zu zahlender Steuern und Sozialversicherungsbeiträge jeweils zum 15. eines Monats auf das Konto der Klägerin überwiesen (Ziff. 4). Bei den Beurlaubungsbezügen handele es sich um sozialversicherungspflichtige Bezüge (Ziff. 5).

Am 23.10.2018 meldete sich die Klägerin bei der Beklagten zum 1.12.2018 arbeitslos.

Die Beklagte bewilligte ihr daraufhin mit Bescheid vom 4.12.2018 Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1.12.2018 – 30.5.2020. Bei der Berechnung der Leistung ging sie von einem täglichen Bemessungsentgelt in Höhe von 110,46 EUR aus. Unter Berücksichtigung von Nebeneinkommen gelangte sie so zu einem täglichen Leistungsbetrag in Höhe von 32,13 EUR (Dezember 2018), 32,80 EUR (Januar 2019 bis April 2020) und 33,28 EUR (Mai 2020).

Gut zwei Wochen später, mit Bescheid vom 19.12.2018, erhöhte die Beklagte das bewilligte Arbeitslosengeld für den gesamten Zeitraum. Sie rechnete nun kein Nebeneinkommen mehr an. Auf dieser Grundlage setzte sie den täglichen Leistungsbetrag auf 41,63 EUR (Dezember 2018) und 42,30 EUR (Januar 2019 bis Mai 2020) fest.

Mit Bescheid vom 21.3.2019 reduzierte die Beklagte das bewilligte Arbeitslosengeld für die Zeit ab dem 1.3.2019 auf das ursprüngliche Niveau, also auf einen täglichen Leistungsbetrag in Höhe von 32,80 EUR (März 2019 bis April 2020) und 33,28 EUR (Mai 2020) – nun wieder unter Anrechnung von Nebeneinkommen.

Nach vorangegangener Anhörung (vom 16.4.2019) hob die Beklagte mit Bescheid vom 30.4.2019 die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 4.5.2019 teilweise auf. Bei unveränderter Berücksichtigung von Nebeneinkommen berechnete sie die Leistung nun auf der Grundlage eines Bemessungsentgelts in Höhe von nur noch 73,17 EUR (statt vormals 110,46 EUR). Der tägliche Leistungsbetrag verringerte sich dadurch auf 20,77 EUR (4.5.2019 – April 2020) und 21,25 EUR (Mai 2020). Zur Begründung führte die Beklagte aus, die rechtlichen Verhältnisse hätten sich gemäß § 48 SGB X geändert. Mit Urteil vom 30.8.2018 habe das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, für die Bestimmung des Bemessungszeitraums sei nicht das leistungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis maßgebend, sondern die Beschäftigung im versicherungsrechtlichen Sinne. Während einer unwiderruflichen Beurlaubung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses sei daher das weiter gezahlte und abgerechnete Arbeitsentgelt zu berücksichtigen.

Hiergegen legte die Klägerin am 14.5.2019 Widerspruch ein. Sie machte geltend, der einjährige Bemessungszeitraum erstrecke sich in ihrem Fall vom 1.12.2016 – 30.11.2017. Denn der Anspruch auf Arbeitslosengeld sei dem Grunde nach bereits mit Beginn der Beurlaubung am 1.12.2017 entstanden. In den zwölf Monaten danach, bis zum 1.12.2018, habe er lediglich wegen "der Abfindung/Beurlaubungsgeld/Übergangsgeld" gemäß § 158 SGB III geruht. Ausgehend hiervon sei die ursprüngliche Berechnung der Beklagten zutreffend, die zu einem täglichen Bemessungsentgelt in Höhe von 110,46 EUR geführt habe. Die Ausführungen des BSG im Urteil vom 30.8.2018 seien auf ihren Fall nicht zu übertragen. Denn anders als im dortigen Fall sei ihr Arbeitsverhältnis noch nicht beendet und die Vergütung noch nicht abgerechnet.

Mit Bescheid vom 23.7.2019 erhöhte die Beklagte das bewilligte Arbeitslosengeld für die Zeit vom 4.5.2019 – 30.5.2020. Bei unveränderter Berücksichtigung von Nebeneinkommen berechnete sie die Leistung nun auf der Grundlage eines täglichen Bemessungsentgelts in Höhe von 91,82 EUR. Ausgehend hiervon setzte sie den täglichen Leistungsbetrag auf 26,90 EUR (4.5.2019 – 30.4.2020) und 27,38 EUR (Mai 2020) fest.

Im Übrigen wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.7.2019 zurück. Zur Begründung führte sie u.a. aus, gemäß § 150 SGB III umfasse der Bemessungsrahmen grundsätzlich ein Jahr; er ende mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs. Der Bemessungsrahmen werde auf zwei Jahre erweitert, wenn es mit Rücksicht auf das Bemessungsentgelt im erweiterten Bemessungsrahmen unbillig hart wäre, vom Bemessungsentgelt im Bemessungszeitraum auszugehen. Eine unbillige Härte liege vor, sofern das Bemessungsentgelt aus dem erweiterten Bemessungsrahmen das um 10 % erhöhte Bemessungsentgelt aus dem einjährigen Bemessungsrahmen übersteigt. So verhalte es sich hier. Der Bemessungsrahmen erstrecke sich daher im vorliegenden Fall vom 1.12.2016 – 30.11.2018. In diesem Zeitraum von 730 Tagen habe die Klägerin Arbeitsentgelt in Höhe von insgesamt 67.025,15 EUR erzielt. Daraus folge ein tägliches Bemessungsentgelt in Höhe von 91,82 EUR. Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Abzüge ergebe dies ein Leistungsentgelt in Höhe von 60,67 EUR pro Tag. Der tägliche Leistungsbetrag des Arbeitslosengeldes (ohne Anrechnung von Nebeneinkommen) betrage daher 36,40 EUR, nämlich 60 % von 60,67 EUR. Sie, die Beklagte, sei auch berechtigt gewesen, die fehlerhafte Bewilligung mit Wirkung zum 4.5.2019 teilweise zurückzunehmen: Zwar dürfe gemäß § 45 Abs. 2 SGB X ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Die Klägerin habe aber spätestens ab Zugang des Anhörungsschreibens vom 16.4.2016 kein Vertrauen mehr haben können; denn ab diesem Zeitpunkt habe sie gewusst, dass die ursprüngliche Bewilligung auf der Basis eines Bemessungsentgelts in Höhe von 110,46 EUR falsch gewesen sei. Zudem überwiege das öffentliche Interesse an einer Rücknahme das Interesse der Klägerin am Fortbestand der rechtswidrigen Bewilligung: Zwar habe die zu hohe Bewilligung des Arbeitslosengeldes auf einem Bearbeitungsfehler von ihr, der Beklagten, beruht. Allerdings gebiete das Prinzip der Gesetzmäßigkeit und das Interesse der Versichertengemeinschaft an rechtmäßigem Verwaltungshandeln die Korrektur des falschen Bewilligungsbescheids zumindest mit Wirkung für die Zukunft. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin neben dem Arbeitslosengeld noch 70 % ihres früheren Arbeitsentgelts sowie weiteres Nebeneinkommen beziehe; sie falle also trotz der teilweisen Aufhebung der Bewilligung nicht "in ein finanzielles Loch".

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der am 2.8.2019 erhobenen Klage. Sie wiederholt im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 30.4.2019 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 23.7.2019 sowie des Widerspruchsbescheids vom 29.7.2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt ergänzend vor, bei der Entscheidung über die teilweise Rücknahme der Bewilligung habe sie pflichtgemäß Ermessen ausgeübt und ihre Erwägungen im Widerspruchsbescheid hinreichend zum Ausdruck gebracht; Tatbestandsseite (Vertrauensschutz) und Rechtsfolgenseite (Ermessen) habe sie klar voneinander getrennt. Ein anfänglicher Begründungsmangel sei gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 SGB X geheilt, wenn die Behörde das Ermessen im Widerspruchsverfahren nachholt. Im Übrigen habe die Klägerin gar nicht geltend gemacht, die Interessenabwägung sei fehlerhaft.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1) Die Klage ist zulässig und begründet. Denn der angefochtene Bescheid vom 30.4.2019 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 23.7.2019 sowie des Widerspruchsbescheids vom 29.7.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

a) Die Beklagte kann die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld nicht auf § 48 SGB X stützen (wie sie dies im Bescheid vom 30.4.2019 getan hat).

§ 48 SGB X ermöglicht die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung ist "wesentlich", wenn der Verwaltungsakt nun (so) nicht mehr erlassen werden dürfte (Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl., § 48 Rdnr. 12). Haben sich hingegen die maßgeblichen Verhältnisse nicht nachträglich geändert, sondern war der Verwaltungsakt bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig, so scheidet eine Aufhebung nach § 48 SGB X aus; möglich ist dann nur eine Rücknahme nach § 45 SGB X (Schütze, a.a.O., § 45 Rdnr. 31).

Zwar ist der Bescheid vom 4.12.2018 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 19.12.2018 und 21.3.2019, mit dem die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld bewilligt hat, rechtswidrig. Allerdings ist die Rechtswidrigkeit nicht erst durch eine Änderung der Verhältnisse nach Erlass der Bescheide eingetreten; vielmehr bestand sie von Anfang an. Denn die Klägerin hatte und hat keinen Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1.12.2018 – 30.5.2020:

Ein etwaiger Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht während der Zeit, für die der Arbeitslose Arbeitsentgelt erhält oder zu beanspruchen hat (§ 157 Abs. 1 SGB III). Typischer Anwendungsfall ist die Fortzahlung von Arbeitsentgelt bei Freistellung von der Pflicht zur Arbeitsleistung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses (Siefert in: NK-SGB III, 6. Aufl., § 157 Rdnr. 12). Zu unterscheiden vom Arbeitsentgelt ist eine Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung, die der Arbeitslose wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erhält. Anders als das Arbeitsentgelt unterliegt eine solche Entlassungsentschädigung nicht der Beitragspflicht (Siefert, a.a.O., Rdnr. 22; Düe in: Brand, SGB III, 8. Aufl., § 157 Rdnr. 13). Welche Folgen eine Entlassungsentschädigung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, bemisst sich nach § 158 SGB III. Während die Regelung des § 157 Abs. 1 SGB III also Leistungen des Arbeitgebers für die Zeit vom Ende der tatsächlichen Beschäftigung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses betrifft, gilt § 158 SGB III bei Leistungen für die Zeit nach Ende des Arbeitsverhältnisses (Siefert, a.a.O.).

Das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit der D. besteht weiterhin; es soll erst mit Ablauf des 31.7.2026 enden (Ziff. 2 des Vertrags vom 11.8.2018). Seit dem 1.12.2017 ist die Klägerin indes "beurlaubt" (Ziff. 1 des Vertrags), also von der Pflicht zur Arbeitsleistung freigestellt. Seither erhält sie monatlich "Übergangsgeld", bei dem es sich um einen sozialversicherungspflichtigen Bezug handeln soll und von dem Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abgezogen werden (Ziff. 3 – 5 des Vertrags). In der Sache lässt sich das "Übergangsgeld" nur als (abgesenktes) Arbeitsentgelt im Sinne des § 157 SGB III verstehen – und nicht als Entlassungsentschädigung im Sinne des § 158 SGB III. Gegen Letzteres spricht nicht zuletzt die vereinbarte Beitragspflichtigkeit des "Übergangsgeldes" sowie der Umstand, dass die Leistung bereits während des noch andauernden Arbeitsverhältnisses erbracht wird, nicht erst danach. Erhält die Klägerin somit fortlaufend Arbeitsentgelt, stand ihr von Anfang an kein Arbeitslosengeld zu.

b) Die Ausführungen der Beklagten zu § 45 SGB X im Widerspruchsbescheid vom 29.7.2019 haben nicht zur Folge, dass der angefochtene Bescheid vom 30.4.2019 nachträglich rechtmäßig würde. Es handelt sich hierbei um kein bloßes Nachschieben von Gründen; vielmehr wird dadurch der Wesensgehalt des Bescheids verändert (dazu aa). Auch eine Umdeutung der verfügten Aufhebung nach § 48 SGB X in eine Rücknahme nach § 45 SGB X scheidet aus (dazu bb).

aa) Eine Behörde ist generell befugt, die Begründung für einen erlassenen Verwaltungsakt zu ergänzen und im Widerspruchsbescheid Gründe "nachzuschieben". Sie kann die ergangene Entscheidung sogar nachträglich auf eine andere Rechtsgrundlage stützen, z.B. auf § 45 SGB X statt auf § 48 SGB X (BSG, Urteil vom 21.11.2011, B 4 AS 21/11 R, Rdnr. 34 – nach Juris; strenger insoweit: BSG, Urteil vom 7.4.2016, B 5 R 26/15 R, Rdnr. 33 – nach Juris). Keinesfalls darf der Verwaltungsakt aber dadurch in seinem Wesensgehalt geändert werden (BSG, a.a.O.). Deshalb kommt ein Austausch der Rechtsgrundlagen nicht in Betracht, wenn eine vormals gebundene Entscheidung im konkreten Einzelfall zu einer Ermessenentscheidung würde – etwa bei einem Wechsel von § 48 SGB X zu § 45 SGB X (BSG, Urteil vom 21.11.2011, B 4 AS 21/11 R, Rdnr. 35 – nach Juris; Urteil vom 25.5.2018, B 13 R 33/15 R, Rdnr. 23 – nach Juris).

Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ergeht als gebundene Entscheidung, also ohne Ermessen. Demgegenüber steht die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X grundsätzlich im Ermessen der Behörde (Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl., § 45 Rdnr. 88). In Angelegenheiten nach dem SGB III gilt Abweichendes nur, sofern die in § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X genannten Voraussetzungen vorliegen; dann "ist" der rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakt zurückzunehmen (§ 330 Abs. 2 SGB III). Die Behörde darf (und braucht) dann kein Ermessen ausüben. Nach § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit (1.) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, (2.) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder (3.) die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Keine dieser Konstellationen liegt hier vor. Dies dürfte hinsichtlich der Fallgestaltungen nach Nr. 1 und Nr. 2 unstreitig sein. Der Klägerin kann aber auch nicht vorgehalten werden, sie habe die Rechtswidrigkeit der Bewilligung von Arbeitslosengeld gekannt oder grob fahrlässig verkannt. Immerhin hat selbst die Beklagte / Regionaldirektion Nord in einem Vermerk vom 29.11.2016 (Seite 3 der Verwaltungsakte) unter Ziff. 3 die – unzutreffende – Auffassung vertreten, das Übergangsgeld sei kein Arbeitsentgelt im Sinne des § 157 SGB III. Von der Klägerin kann sicherlich nicht erwartet werden, die Rechtslage besser einzuschätzen als die Beklagte.

Vor diesem Hintergrund erfordert die Rücknahme des Bewilligungsbescheids hier die Ausübung von Ermessen. Dies sieht im Übrigen auch die Beklagte so. Handelt es sich bei der Rücknahme im hiesigen Fall also um keine gebundene Entscheidung, kann die Beklagte nicht einfach die Rechtsgrundlage austauschen – von § 48 SGB X zu § 45 SGB X. Denn dadurch würde der Wesensgehalt des angefochtenen Bescheids vom 30.4.2019 geändert.

bb) Auch eine Umdeutung des Bescheids vom 30.4.2019 ist ausgeschlossen.

Ein fehlerhafter Verwaltungsakt kann in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind (§ 43 Abs. 1 SGB X). Allerdings kann eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden (§ 43 Abs. 3 SGB X). Aus diesem Grund lässt sich die gebundene Aufhebung eines Verwaltungsaktes nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X nicht in eine Rücknahme nach § 45 SGB X umdeuten, sofern Letztere im konkreten Einzelfall die Ausübung von Ermessen erfordert (BSG, Urteil vom 25.5.2018, B 13 R 33/15 R, Rdnr. 19 – nach Juris).

Wie unter aa) ausgeführt, steht im vorliegenden Fall die Rücknahme des Bewilligungsbescheids im Ermessen der Beklagten. Angesichts dessen scheidet eine Umdeutung der verfügten Aufhebung nach § 48 SGB X in eine Rücknahme nach § 45 SGB X hier aus.

2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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