S 5 AS 4062/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AS 4062/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine fingierte abschließende Festsetzung nach § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II kann nicht im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X zurückgenommen werden.
1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld II in der Zeit vom 1.1.2017 – 31.5.2018.

Mit Bescheid vom 7.12.2016 bewilligte der Beklagte der Klägerin vorläufig Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1.12.2016 – 31.5.2017; die monatlichen Leistungen setzte er auf 205,56 EUR (Dezember) und 210,56 EUR (Januar bis Mai) fest. Bei der Berechnung ging er von einem Regelbedarf in Höhe von 404 EUR (Dezember) bzw. 409 EUR (ab Januar) sowie Unterkunftskosten in Höhe von 295 EUR aus. Auf den Gesamtbedarf rechnete der Beklagte Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 195 EUR an; nach Abzug von Freibeträgen berücksichtigte er hiervon 76 EUR. Weiterhin berücksichtigte er "sonstiges Einkommen" in Höhe von 417,44 EUR. Dazu gab der Beklagte an, in der Wohnung der Klägerin lebe auch ihr Sohn A. B. (geb. xx.xx.1990). Zwar bilde er wegen seines Alters mit der Klägerin keine Bedarfsgemeinschaft. Allerdings sei gemäß § 9 Abs. 5 SGB II sein Einkommen, soweit es seinen Bedarf übersteige, nach Abzug von Freibeträgen bei der Klägerin als Einkommen anzurechnen.

Am 9.1.2017 zog die Tochter der Klägerin, B. B. (geb. xx.xx.1987), bei ihr ein, außerdem der minderjährige Sohn von B. B ...

Auf Fortzahlungsantrag der Klägerin bewilligte ihr der Beklagte mit Bescheid vom 12.6.2017 erneut vorläufig Arbeitslosengeld II, nun für die Zeit vom 1.6. – 30.11.2017 in Höhe von monatlich 225,60 EUR. Erneut ging er von einem Regelbedarf in Höhe von 409 EUR sowie Unterkunftskosten in Höhe von 295 EUR aus. Hierauf rechnete er diesmal Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von 78,40 EUR an (198 EUR abzgl. Freibeträge). Darüber hinaus berücksichtigte er "sonstiges Einkommen", diesmal in Höhe von 400 EUR – wiederum unter Hinweis auf das Einkommen ihres Sohnes A ...

Auf erneuten Fortzahlungsantrag der Klägerin bewilligte ihr der Beklagte mit Bescheid vom 27.12.2017 vorläufig Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1.12.2017 – 31.5.2018 in Höhe von 196,76 EUR (Dezember) und monatlich 203,76 EUR (Januar bis Mai). Wiederum berücksichtigte er einen Regelbedarf in Höhe von 409 EUR (Dezember) bzw. 416 EUR (ab Januar) sowie Unterkunftskosten in Höhe von 295 EUR. Wie zuletzt, rechnete er als Einkommen aus Erwerbstätigkeit 78,40 EUR an (198 EUR abzgl. Freibeträge). Außerdem berücksichtigte er "sonstiges Einkommen" in Höhe von 428,84 EUR.

Am 21.6.2018 beantragte die Klägerin beim Beklagten "die Überprüfung der Leistungshöhe der bisher ergangenen Bewilligungsbescheide". Sie machte geltend, zu Unrecht habe der Beklagte gemäß § 9 Abs. 5 SGB II bei ihr Einkommen ihres Sohnes A. angerechnet. Zwischen ihr und ihrem Sohn habe nur eine Wohngemeinschaft bestanden, hingegen keine Haushaltsgemeinschaft. Er beteilige sich nur an der Miete. Ansonsten erfolge durch ihn keine finanzielle Unterstützung; insbesondere finde kein gemeinsames Wirtschaften "aus einem Topf" statt. Angesichts dessen sei das ihr zustehende Arbeitslosengeld II neu zu berechnen – diesmal ohne Berücksichtigung des Einkommens ihres Sohnes. Eine Nachzahlung stehe ihr gemäß § 40 SGB II i.V.m. § 44 SGB X ab dem 1.1.2017 zu, so die Klägerin ergänzend mit Schreiben vom 29.8.2018.

Mit Bescheid vom 10.9.2018 lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag ab. Zur Begründung gab er an, die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X seien nicht erfüllt. Weder habe er bei Bewilligung des Arbeitslosengeldes II für die Zeit vom 1.1.2017 – 31.5.2018 das Recht unrichtig angewendet noch sei er von einem falschen Sachverhalt ausgegangen. Nicht zu beanstanden sei insbesondere die Anrechnung von Einkommen des Sohnes A. gemäß § 9 Abs. 5 SGB V. Der Vortrag der Klägerin, ihr Sohn habe sie im streitigen Zeitraum finanziell nicht unterstützt, sei nicht glaubhaft: Die Klägerin hätte jederzeit die Möglichkeit gehabt, diesen Umstand mitzuteilen, etwa als Veränderungsmitteilung oder bei den Fortzahlungsanträgen. Das sei aber nicht geschehen. Erstmals im Juli 2018 habe sie angezeigt, dass der Sohn ihr nun keinen Unterhalt mehr gewähre.

Hiergegen legte die Klägerin am 17.9.2018 Widerspruch ein. Zur Begründung nahm sie auf ihre bisherigen Ausführungen Bezug.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.10.2018 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und bekräftigte zur Begründung seine Auffassung, die Höhe der festgesetzten Leistungen für die Zeit vom 1.1.2017 – 31.5.2018 sei rechtmäßig.

Mit der am 20.11.2018 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihren Antrag weiter. Sie wiederholt im wesentlichen ihre Ausführungen aus dem Verwaltungsverfahren.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 10.9.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.10.2018 zu verpflichten, die Bescheide vom 7.12.2016, 12.6.2017 und 27.12.2017 zu ändern und ihr höheres Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1.1.2017 – 31.5.2018 ohne Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen durch ihren Sohn A. B. zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat nicht weiter zur Sache vorgetragen.

Im Rahmen eines Erörterungstermins am 18.3.2019 hat das Gericht die Klägerin ergänzend angehört und ihren Sohn A. B. als Zeugen vernommen. Wegen des Inhalts ihrer Aussagen und der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1) Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Änderung der Bewilligungsbescheide vom 7.12.2016, 12.6.2017 und 27.12.2017 sowie Zahlung höheren Arbeitslosengeldes II für die Zeit vom 1.1.2017 – 31.5.2018.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 40 Abs. 1 S. 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X).

Eine Rücknahme nach dieser Vorschrift scheidet indes aus, wenn die Voraussetzungen für eine fingierte abschließende Festsetzung nach § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II erfüllt sind:

Wurden Leistungen vorläufig bewilligt, entscheidet der Grundsicherungsträger abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch, sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte Person eine abschließende Entscheidung beantragt (§ 41a Abs. 3 S. 1 SGB II). Ergeht innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung, gelten die vorläufig bewilligten Leistungen grundsätzlich als abschließend festgesetzt (§ 41a Abs. 5 S. 1 SGB II) – es sei denn, die leistungsberechtigte Person hat innerhalb dieser Frist eine abschließende Entscheidung beantragt (§ 41a Abs. 5 S. 2 Nr. 1 SGB II). Durch die gesetzliche Fiktion wird der Bescheid über die vorläufige Bewilligung in seinem Wesen verändert: Er wird zu einem Bescheid über die abschließende Festsetzung. Zugleich erledigt sich gemäß § 39 Abs. 2 SGB X die vorläufige Bewilligung auf sonstige Weise (Kemper in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl., § 41a Rdnr. 64). Hat die leistungsberechtigte Person innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Festsetzung beantragt, soll sie nach dem Willen des Gesetzgebers keine Nachzahlung mehr geltend machen können (BT-DrS 18/8041 Seite 54). Dies gilt selbst dann, wenn die Leistungen, die der Grundsicherungsträger vorläufig bewilligt hatte, zu niedrig waren (Grote-Seifert in: jurisPK-SGB II § 41a Rdnr. 56; zum ähnlichen § 44a Abs. 6 S. 1 SGB XII auch Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl., § 44a Rdnr. 20; Kirchhoff in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 44a Rdnr. 83; Blüggel in: jurisPK-SGB XII § 44a Rdnr. 84). Der Gesetzgeber hat also der formellen Rechtssicherheit den Vorrang gegenüber der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt. Eine inhaltliche Prüfung der fingierten abschließenden Festsetzung soll nach Fristablauf nicht mehr erfolgen (Blüggel, a.a.O.). Dies schließt zugleich eine inhaltliche Prüfung nach § 44 SGB X aus; denn andernfalls würde die spezielle Regelung § 41a Abs. 5 S. 1 SGB II durch Rückgriff auf die allgemeine Regelung des § 44 SGB X unterlaufen. Vor diesem Hintergrund ist vom Gericht nur zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Fiktion einer abschließenden Festsetzung erfüllt sind (Kemper, a.a.O., Rdnr. 72; Blüggel, a.a.O.; Kirchhoff, a.a.O.).

Letzteres ist hier mittlerweile der Fall: Die streitigen Bewilligungszeiträume erstreckten sich vom 1.12.2016 – 31.5.2017 (Bescheid vom 7.12.2016), 1.6. – 30.11.2017 (Bescheid vom 12.6.2017) und 1.12.2017 – 31.5.2018 (Bescheid vom 27.12.2017). Die Jahresfristen nach Ablauf dieser Zeiträume endeten also am 31.5.2018, 30.11.2018 und 31.5.2019. Der Beklagte hat für keinen dieser Bewilligungszeiträume eine abschließende Entscheidung vorgenommen. Ebenso wenig hat die Klägerin rechtzeitig eine abschließende Festsetzung beantragt. Ihren Überprüfungsantrag musste der Beklagte nicht als Antrag auf abschließende Entscheidung auslegen: Im Hinblick auf den Bescheid vom 7.12.2016 folgt dies ohne weiteres daraus, dass zum Zeitpunkt des Antrags am 21.6.2018 der Bewilligungszeitraum vom 1.12.2016 – 31.5.2017 schon länger als ein Jahr zurücklag; die Fiktion war daher bereits eingetreten. Demgegenüber wäre im Hinblick auf die Bescheide vom 12.6.2017 und 27.12.2017 seinerzeit, am 21.6.2018, ein Antrag auf eine abschließende Festsetzung noch möglich gewesen. Allerdings hat die Klägerin nicht eine solche Entscheidung gewollt, sondern eine Überprüfung nach § 44 SGB X. Dies folgt insbesondere aus dem Schriftsatz ihres anwaltlichen Bevollmächtigten vom 29.8.2018, der eine Überprüfung der Bescheide vom 7.12.2016, 12.6.2017 und 27.12.2017 unter Hinweis auf § 44 SGB X begehrt hat. Auch die von ihm angesprochene Begrenzung der Nachzahlung auf die Zeit ab dem 1.1.2017 ergibt nur bei einem Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X Sinn (vgl. § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X), nicht hingegen bei einer abschließenden Festsetzung.

Vor diesem Hintergrund sind die Bescheide vom 7.12.2016, 12.6.2017 und 27.12.2017 mittlerweile einer inhaltlichen Überprüfung entzogen. Im Übrigen weist die Kammer darauf hin, dass die bewilligten Leistungen für die Zeit vom 1.1.2017 – 31.5.2018 keinesfalls zu niedrig gewesen sein dürften. Eher hat die Klägerin zu viel Arbeitslosengeld II erhalten: Der Beklagte hat ersichtlich einen zu hohen Bedarf für Unterkunft und Heizung berücksichtigt. Statt 295 EUR dürfte dieser nur 147,50 EUR pro Monat (ab 1.4.2018: 167,50 EUR) betragen haben; denn entgegen der Annahme des Beklagten lebten in der Wohnung der Klägerin nicht nur zwei, sondern ab dem 7.1.2017 vier Personen – mit der Folge, dass die Warmmiete in Höhe von 590 EUR (ab 1.4.2018: 670 EUR) auf vier Köpfe aufzuteilen war. Zu keinem anderen Ergebnis führt der "Mietvertrag" zwischen der Klägerin und ihrem Sohn A. B., der eine andere interne Verteilung der Kosten belegen und angeblich vom "01.09.2015" stammen soll. Die Kammer geht davon aus, dass dieser "Mietvertrag" erst nachträglich erstellt wurde, um ihn beim Beklagten im Rahmen des Überprüfungsverfahrens vorzulegen. Dafür spricht, dass im "Mietvertrag" von einer Warmmiete in Höhe von 670 EUR die Rede ist. Am 1.9.2015 lag die Warmmiete indes noch bei 590 EUR.

2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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