L 6 AS 185/19 B

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 7 AS 643/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 185/19 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Mutwilligkeit kann nicht ausschließlich dann angenommen werden, wenn die im Zentrum der Auseinandersetzung stehende Frage bereits Gegenstand eines bei dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundessozialgericht oder einem anderen höchsten Bundesgericht anhängigen oder eines sonstigen als „Musterverfahren“ ausgezeichneten Verfahrens ist (vgl. zu diesem Fall BVerfG, Beschluss vom 18. November 2009 – 1 BvR 2455/08 –, BVerfGK 16, 406). Denkbar ist dies vielmehr auch, wenn die Rechtsfrage (nur) Gegenstand anderer instanzgerichtlicher Verfahren ist, weil auch diese unter Umständen wertvolle Erkenntnisse für das eigene Verfahren liefern und damit dessen (weitere) Durchführung entbehrlich machen können.

2. Insbesondere wenn es um Leistungen der Existenzsicherung oder andere in starkem Maße zeitgebundene Leistungen geht, ist in diesem Fall – hinreichende Erfolgsaussichten vorausgesetzt – die Annahme von Mutwilligkeit mit Blick auf den Zweck der Prozesskostenhilfe und dessen verfassungsrechtliche Verankerung aber nur dann gerechtfertigt, wenn für den Beteiligten
(a) erkennbar ist, ob sein Verfahren mit dem oder den Verfahren, deren Ausgang er abwarten soll, hinreichend vergleichbar ist,
(b) abschätzbar ist, ob die in seinem Verfahren relevante Rechtsfrage in dem vorgängigen Verfahren auch tatsächlich entschieden werden wird und
(c) die Durchführung des in Frage stehenden weiteren Verfahrens voraussichtlich nicht zu einer beschleunigten Klärung führen kann.
Das wird regelmäßig (nur) dann der Fall sein, wenn er auch an dem vorgängigen Verfahren selbst beteiligt ist, in aller Regel aber ausscheiden, wenn es sich um für ihn „fremde“ Verfahren handelt und zu diesen noch keine veröffentlichte (oder für den Beteiligten sonst zugängliche) erstinstanzliche Entscheidung vorliegt, die eine tragfähige Grundlage für die Einschätzung liefern kann, ob die ihn interessierende Frage in dem oder den vorgängigen Verfahren tatsächlich auch geklärt werden kann und wird.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 6. März 2019 aufgehoben und der Antragstellerin Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren ohne Pflicht zur Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Stadt, zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwalts bewilligt.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin mit dem sinngemäß gestellten Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 6. März 2019 aufzuheben und ihr Prozesskostenhilfe für das dort unter dem Aktenzeichen S 7 AS 643/18 geführte Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Stadt, zu gewähren,

ist zulässig und begründet. Der Antragstellerin ist Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe setzt voraus, dass die Antragstellerin nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, das Begehren hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung – ZPO –). Mutwillig ist die Rechtsverfolgung, wenn eine Beteiligte, die keine Prozesskostenhilfe beanspruchen kann, sondern die Kosten der Prozessführung im Falle ihres Unterliegens aus eigenen Mitteln aufbringen müsste, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 2 ZPO). Dabei sind die Maßstäbe für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Blick auf deren Zweck und dessen verfassungsrechtliche Verankerung im allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – GG –) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) so auszulegen, dass eine weitgehende Angleichung der Situation von bemittelten und unbemittelten Beteiligten bei der Verwirklichung gerichtlichen Rechtsschutzes erreicht wird (vgl. für die st. Rspr. des BVerfG, Beschl. v. 4. Februar 2004 – 1 BvR 1172/02 –, NJW-RR 2004, S. 1053 und Beschl. v. 28. November 2007 – 1 BvR 68/07 –, juris).

Die Rechtsverfolgung hat hinreichende Aussicht auf Erfolg, nachdem für das im Jahre 2018 von der Firma C. für den Beklagten erstellte Gutachten bislang nicht geklärt ist, ob damit eine tragfähige Grundlage für die Beurteilung der (abstrakten) Angemessenheit von Unterkunftsbedarfen vorliegt und ob daher der Beklagte zu Recht die von ihm berücksichtigten Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 22 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) entsprechend begrenzt hat.

Der Senat ist weiter der Auffassung, dass die Rechtsverfolgung der Antragstellerin nicht als mutwillig zu qualifizieren ist, obwohl der Beklagte angeboten hatte, das von ihr eingeleitete Widerspruchsverfahren ruhend zu stellen und die Ergebnisse anderer bereits erstinstanzlich anhängiger Verfahren, in denen das von ihm angewendete Konzept zur Beurteilung der Angemessenheit der Bedarfe für Unterkunft und Heizung eine Rolle spielt, auf ihr Verfahren zu übertragen.

Dabei teilt der Senat im Ausgangspunkt die Auffassung des Sozialgerichts, dass Mutwilligkeit nicht ausschließlich dann anzunehmen sein kann, wenn die im Zentrum der Auseinandersetzung stehende Frage bereits Gegenstand eines bei dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundessozialgericht oder einem anderen höchsten Bundesgericht anhängigen oder eines sonstigen als "Musterverfahren" ausgezeichneten Verfahrens ist (vgl. zu diesem Fall BVerfG, Beschluss vom 18. November 2009 – 1 BvR 2455/08 –, BVerfGK 16, 406). Denkbar ist dies vielmehr auch, wenn die Rechtsfrage (nur) Gegenstand anderer instanzgerichtlicher Verfahren ist, weil auch diese unter Umständen wertvolle Erkenntnisse für das eigene Verfahren liefern und damit dessen (weitere) Durchführung entbehrlich machen können, so dass ein Beteiligter, der die Kosten des Verfahrens gegebenenfalls aus eigenen Mitteln aufzubringen hätte, mit Blick darauf durchaus geneigt sein kann, die Durchführung des eigenen Verfahrens zumindest zurückzustellen (vgl. zu entspr. Gesichtspunkten bei der Beurteilung der Mutwilligkeit BGH, Beschluss vom 21. November 2013 – III ZA 28/13 –, JurBüro 2014, 203; LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom 20. März 2013 – L 15 AS 477/12 B –; Seiler, in: Thomas/Putzo, ZPO, 38. Aufl. 2017, § 114 Rn. 7a).

Allerdings wird dies mit Blick auf die Unsicherheiten, ob die den Betroffenen interessierenden Rechtsfragen durch andere Verfahren, die zu dem Zeitpunkt, zu dem er über das Ruhen des eigenen Verfahrens entscheiden muss, noch vor den Instanzgerichten anhängig sind, tatsächlich geklärt werden können, eher die Ausnahme sein; namentlich gilt dies, wenn sogar eine erstinstanzliche Entscheidung noch nicht vorliegt. Insbesondere wenn es um Leistungen der Existenzsicherung oder andere in starkem Maße zeitgebundene Leistungen geht, ist in diesem Fall – hinreichende Erfolgsaussichten vorausgesetzt – die Annahme von Mutwilligkeit mit Blick auf den Zweck der Prozesskostenhilfe und dessen verfassungsrechtliche Verankerung nur dann gerechtfertigt, wenn für den Beteiligten (a) erkennbar ist, ob sein Verfahren mit dem oder den Verfahren, deren Ausgang er abwarten soll, hinreichend vergleichbar ist, (b) abschätzbar ist, ob die in seinem Verfahren relevante Rechtsfrage in dem vorgängigen Verfahren auch tatsächlich entschieden werden wird und (c) die Durchführung des in Frage stehenden weiteren Verfahrens voraussichtlich nicht zu einer beschleunigten Klärung führen kann. Das wird regelmäßig (nur) dann der Fall sein, wenn er auch an dem vorgängigen Verfahren selbst beteiligt ist (vgl. dazu den Beschluss des Senats vom heutigen Tage im Verfahren L 6 AS 444/19 B), in aller Regel aber ausscheiden, wenn es sich um "fremde" Verfahren handelt und zu diesen noch keine veröffentlichte (oder für den Beteiligten sonst zugängliche) erstinstanzliche Entscheidung vorliegt, die eine tragfähige Grundlage für die Einschätzung liefern kann, ob die ihn interessierende Frage in dem oder den vorgängigen Verfahren tatsächlich auch geklärt werden kann und wird. Ist für den Betroffenen nicht hinreichend sicher zu beurteilen, ob sich in den bereits eingeleiteten Verfahren überhaupt die gleichen Fragen stellen und ob diese voraussichtlich auch in der Sache gelöst werden – wobei rechtlich eine Orientierung an den Kriterien der Klärungsfähigkeit und Klärungsbedürftigkeit aus dem Rechtsmittelzulassungsrecht nicht fernliegt, allerdings tatsächliche Unsicherheiten hinsichtlich des Prozessverhaltens des Klägers in dem oder den anderen Verfahren hinzukommen –, so würde auch ein Beteiligter, der die Kosten des Verfahrens gegebenenfalls aus eigenen Mitteln aufbringen müsste, auf die sofortige eigene Rechtsverfolgung in der Regel nicht verzichten; das gilt jedenfalls dann, wenn mit Blick auf den Gegenstand des Verfahrens auch zeitliche Gesichtspunkte von Bedeutung sind.

Ausgehend von diesen Grundsätzen steht der Antragstellerin vorliegend ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zu: Zunächst ist die im Hauptsacheverfahren im Kern streitige Frage, ob der Beklagte sich bei der Bemessung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Gewährung von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch auf ein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stützen kann, jedenfalls für das von dem Beklagten im hier streitigen Zeitraum zu Grunde gelegte (oder vergleichbare) Konzept noch nicht Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundessozialgericht oder auch nur des Landessozialgerichts gewesen. Erstinstanzlich sind zwar (zumindest) eine Reihe von Klagen, die das hier streitige Konzept ebenfalls zum Gegenstand haben, schon anhängig, so dass es unter pragmatischen Gesichtspunkten durchaus hätte überlegenswert sein können, das Angebot des Beklagten anzunehmen und das Widerspruchsverfahren ruhend zu stellen. Die Grenze der Mutwilligkeit überschreitet die Durchführung des eigenen Verfahrens durch die Antragstellerin jedoch nicht. So ist zunächst nicht ersichtlich, dass sie selbst hinreichend belastbare Informationen darüber zugänglich wären, ob die anhängigen Verfahren mit ihrem hinreichend vergleichbar sind, um verwertbare Erkenntnisse für ihr Verfahren erwarten zu lassen. Letztlich müsste sie sich hier mehr oder weniger "blind" auf die Einschätzung ihres Bevollmächtigten und des Beklagten verlassen, da ihr die Akten der anderen Verfahren – schon aus Datenschutzgründen – nicht zugänglich sein dürften. Umso weniger kann sie das Prozessverhalten der Kläger in den anderen Verfahren verlässlich abschätzen.

Dies wird auch nicht dadurch aufgewogen, dass die Verfahren gerade bei dem auch für die Antragstellerin zuständigen Gericht anhängig sind und vom gleichen Prozessbevollmächtigten geführt werden, auch wenn die Antragstellerin daher davon ausgehen kann, dass in den Parallelverfahren im Kern die gleichen Argumente zur Stützung des Klagebegehrens vorgebracht werden wie in ihrem eigenen. Sie hat es jedoch nicht in der Hand, wie die Verfahren von den anderen Klägern geführt werden, namentlich ob diese gegebenenfalls Rechtsmittel einlegen oder eine unstreitige Erledigung suchen. Ebenso wenig ist für sie überschaubar, ob die vorgängigen Klagen möglicherweise unzulässig oder aus anderen Gründen die sie interessierenden Fragen dort nicht klärungsfähig und/oder -bedürftig sind.

Auch der Umstand, dass der Beklagte ausdrücklich das Ruhen des Widerspruchsverfahrens und die Übertragung der in den Parallelverfahren gefundenen Entscheidung angeboten hat, vermag letztlich nicht zu einer anderen Beurteilung zu führen. Das gilt selbst dann, wenn man davon ausgeht, dass er damit nur die eigene Bindung an das Ergebnis des vorgängigen Verfahrens zusichern, nicht aber der Antragstellerin ansinnen wollte, auch sie müsse sich an den Ergebnissen der durch andere Kläger geführten Verfahren festhalten lassen. Zwar müsste die Antragstellerin unter diesen Umständen durch das Ruhen des Widerspruchsverfahrens keinen endgültigen Verlust eigener Rechtspositionen fürchten. Allerdings – und dies ist gerade bei existenzsichernden Leistungen von erheblicher Bedeutung – müsste sie den Ausgang der für sie "fremden" Verfahren abwarten (und damit auch Verzögerungen, die sich aus dem für sie nicht steuerbaren Verhalten der dortigen Kläger ergeben können) und gegebenenfalls danach ihr eigenes Verfahren führen, wenn im vorgängigen Verfahren entweder die sie interessierenden Fragen (doch) nicht entschieden werden oder sie vermeintliche oder tatsächlicher Rechtsfehler der dortigen Entscheidung erkennt. Gerade die Zeitverzögerung ist im Bereich existenzsichernder Leistungen ein erheblicher Gesichtspunkt, umso mehr als die Auswirkungen der Verzögerung bei einem schlichten Ruhen des Widerspruchsverfahrens allein von der Antragstellerin zu tragen sind: Dies ist auch im konkreten Fall deutlich, nachdem sie mit ihrer Klage monatlich um 134,74 Euro höhere Leistungen geltend macht als vom Beklagten bewilligt, so dass jede von ihr nicht zu steuernde Verzögerung für sie erkennbar von erheblichem Gewicht ist. Ob die Situation anders zu bewerten wäre, wenn der Beklagte für die Interimszeit hinsichtlich des zwischen den Beteiligten streitigen Betrags (oder eines erheblichen Teils hiervon) vorläufige Leistungen auf der Grundlage von § 41a Abs. 1 Satz 1 SGB II angeboten und damit das Verzögerungsrisiko (teilweise) selbst übernommen hätte, muss der Senat nicht entscheiden, weil dies nicht geschehen ist.

Schließlich liegen die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Berücksichtigung der im Beschwerdeverfahren nachgereichten Unterlagen vor.

Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist angesichts der Komplexität des Rechtsstreits und der rechtskundigen Vertretung des Beklagten notwendig im Sinne von § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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