S 20 AY 38/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 AY 38/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstel-lerin vom 00.00.0000 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 00.00.0000 und Aus-setzung der sofortigen Vollziehung dieses Bescheides wird abgelehnt. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Gründe:

I.
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Kürzung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), konkret: die Einstellung der Zahlung des Taschengeldes von wöchentlich 31,73 EUR für maximal 6 Monate gemäß § 1a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 AsylbLG.

Die Antragstellerin ist chinesische Staatsangehörige. Sie reiste am 00.00.0000 nach Deutschland ein. Am selben Tag wurde sie in der Landeserstaufnahmeeinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen (LEÄ) in Bochum gem. § 22 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) regis-triert und in die Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) Köln weitergeleitet. Sie stellte am 00.00.0000 formlos und am 00.00.0000 förmlich einen Asylantrag. Am 00.00.0000 wurde sie in die Zentrale Unterbringungseinrichtung in E (ZUE E) des Landes Nordrhein-Westfalen verteilt. In den Aufnahmeeinrichtungen im Regierungsbezirk L erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner grundsätzlich Leistungen gem. § 3 Abs. 2 AsylbLG (notwendiger Bedarf) in Form von Sachleistungen. Zu den Sachleistungen zählen gem. § 3 Abs.1 AsylbLG Leis-tungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesund-heitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts. Nur der notwendige persönliche Bedarf wird durch Geldleistungen (sog. Taschengeld) gedeckt. Die Bewohne-rinnen und Bewohner erhalten darüber hinaus bei Bedarf Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt, zu denen auch die Krankenbeförderung (per ÖPNV, Taxi oder RTW) zählt und grundsätzlich die Inanspruchnahme einer Hebamme zählen kann, auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 AsylbLG sowie auf Antrag und bei Bedarf sonstige Leis-tungen nach § 6 Abs. 1 AsylbLG, also z.B. Psychotherapiekosten. Bei den Aufnahmeeinrichtungen im Regierungsbezirk L handelt es sich um große Ge-meinschaftsunterkünfte, die z.T. bis zu 800 Personen beherbergen können. Die Gemein-schaftsunterkünfte sind möbliert und verfügen jeweils über eine eigene Mensa, in der dreimal täglich eine Mahlzeit ausgegeben wird und rund um die Uhr Getränke bereitste-hen, über eine Sanitätsstation, eine Kinderbetreuung, eine soziale Beratungsstelle, zu der auch eine asylrechtliche Verfahrensberatung zählt, sowie eine Kleiderkammer, in welcher überwiegend gebrauchte Kleidung (inkl. Schuhe) für alle Altersklassen (auch Säuglinge) angeboten wird. Intimwäsche erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner im neuen Zu-stand. Im Rahmen der Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Gesundheitspflege und Gebrauchs- sowie Verbrauchsgütern des Haushalts erhalten die Bewohnerinnen- und Be-wohner beispielsweise Verbandsmaterial, Pflaster, Haarbürsten, Nagelscheren (auch extra für Säuglinge), Waschlappen, Seife, Shampoo, Frauenhygieneartikel, Rasiercreme, Win-deln, Zahnpasta, Zahnbürsten, Bettwäsche, Handtücher, Kinderwagen und Kindersitze zur Nutzung während des Aufenthalts in der entsprechenden Aufnahmeeinrichtung. Alle ge-nannten Leistungen zählen zu den Grundleistungen nach § 3 Abs. 1, Abs. 2 AsylbLG und werden als Sachleistungen erbracht. Nur die Leistungen zur Deckung des notwendigen persönlichen Bedarfs (sog. Taschengeld) werden grundsätzlich im Rahmen einer wöchent-lichen Barauszahlung als Geldleistung (Realakt) erbracht. Einen Leistungsbescheid erhal-ten die Bewohnerinnen und Bewohner nicht. Mit Bescheid vom 00.00.0000 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag der Antragstellerin nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG als un-zulässig ab. In der Begründung heißt es, nach den Erkenntnissen des BAMF aufgrund des Abgleichs der Personendaten mit der Visa-Datenbank lägen Anhaltspunkte für die Zustän-digkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Portugal hätten die portugiesischen Behörden mit Schreiben vom 00.00.0000 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge gem. Art 12 Abs. 2 Dublin III-VO erklärt. Zugleich mit der Ablehnung des Asylantrags ordnete das BAMF im Bescheid vom 00.00.0000 gem. § 34a Abs. 1 S. 1, 2. Alt. AsylG die Abschiebung nach Portugal wurde an. Dagegen hat die Antragstellerin am 00.00.0000 Klage beim Verwaltungsgericht Aachen (7 K 3042/19.A) erhoben. Durch Bescheid vom 00.00.0000 stellte die Antragsgegnerin – gestützt auf § 1a Abs. 7 AsylbLG – die Zahlung der Geldleistung (Taschengeld) ab 00.00.0000 für die Dauer von 6 Monaten ein und schränkte die der Antragstellerin gewährten Leistungen auf solche zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege ein. Dagegen legte die Antragstellerin am 00.00.0000 Widerspruch ein, über den – soweit er-sichtlich – noch nicht entschieden ist. Am 00.00.0000 hat die Antragstellerin wegen der Streichung der Geldleistung beim Sozi-algericht um vorläufigen Rechtsschutz ("Antrag nach § 86b SGG") nachgesucht. Sie ver-weist auf ihre Klage beim Verwaltungsgericht; ihr Asylverfahren sei noch nicht abge-schlossenen. Sie ist der Auffassung, eine Streichung oder Kürzung der Geldleistung sei erst nach dem Asylverfahren möglich per Gesetz. Die Streichung sämtlicher Geldleistun-gen mache es ihr unmöglich, ihre Rechte und Pflichten als Asylbewerberin in Anspruch zu nehmen, da es ihr nicht einmal möglich sei, ein Busticket zu kaufen, um z.B. einen Anwalt oder auch die Rechtsantragsstelle aufzusuchen. Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 00.00.0000 aufzuheben mit dem Ziel der Weiterzahlung der Geldleistung nach dem AsylbLG ab dem 00.00.0000

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.

Sie hält die Leistungseinschränkung ab 00.00.0000 auf der Grundlage von § 1a Abs. 7 AsylbLG für rechtmäßig.

II.

Der auf Aussetzung der Vollziehung ist in einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 00.00.0000 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 00.00.0000 und, sofern der Verwaltungsakt schon vollzogen ist, auf Aufhebung der Vollziehung umzudeuten. Zwar haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG); die aufschieben-de Wirkung entfällt jedoch u.a. in durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Eine sol-che bundesgesetzliche Bestimmung enthält § 11 Abs. 4 AsylbLG; danach haben Wider-spruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem eine Leistung nach diesem Gesetz ganz oder teilweise entzogen oder die Leistungspflicht aufgehoben wird (Nr. 1) oder eine Einschränkung des Leistungsanspruchs nach § 1a oder § 11 Abs. 2a festgestellt wird (Nr. 2), keine aufschiebende Wirkung. In solchen Fällen kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG). Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen (§ 86b Abs., 1 S. 2 SGG). Der Eilantrag ist zulässig, jedoch unbegründet. Allein die von der Antragstellerin gegen die Ablehnung des Asylantrags und die Abschie-beanordnung beim Verwaltungsgericht erhobene Klage hat nicht zur Folge, dass die Ent-scheidung über die Leistungseinschränkung gem. § 1a Abs. 7 S. 1 i.V.m. Abs. 1 AsylbLG rechtswidrig wäre. Eine Leistungseinschränkung nach dieser Regelung entfällt nur dann, wenn ein Gericht – das zuständige Verwaltungsgericht – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet hat. Eine solche Anordnung ist je-doch nicht ergangen; die Antragstellerin hat sie noch nicht einmal beim Verwaltungsgericht beantragt. Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung des Leistungseinschränkungsbescheides ausnahmsweise dennoch durch das Sozialgericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Aufschubinteresses der Antragstellerin einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rah-men dieser Abwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes stehen oder ob die Vollziehung für die Antragstellerin eine unbillige, nicht durch überwie-gende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes gebotenen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass der Kürzungsbescheid der Antragsgegnerin vom 00.00.0000 nicht offensichtlich rechtswidrig, vielmehr mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtmäßig ist. Auch ist eine besondere Härte, die den Eilantrag begründet erscheinen lässt, von der Antragstellerin nicht substanziiert dargelegt und auch nicht ersichtlich. Nach § 1a Abs. 7 S. 1 i.V.m. Abs. 1 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 5 AsybLG – wie die Antragstellerin –, deren Asylantrag durch eine Ent-scheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 des AsylG als unzulässig abgelehnt und für die eine Abschiebung nach § 34a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AsylG angeordnet worden sei, nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesund-heitspflege. Diese Leistungen sollen gem. § 1a Abs. 1 S. 4 AsylbLG als Sachleistung er-bracht werden. Die Antragstellerin wird mit der mit Bescheid vom 00.00.0000 vorgenommenen Leistungs-einschränkung nicht mittellos gestellt. Das soziokulturelle Existenzminimum bleibt gesi-chert. Die Leistungseinschränkung betrifft nur die sog. Taschengeldleistungen i.H.v. wö-chentlich 31,73 EUR. Soweit die Antragstellern vorträgt, durch die Leistungseinschränkung ihren Anwalt nicht mehr bezahlen und keine Bustickets kaufen zu können, wird zum einen nicht dargelegt und nachgewiesen, dass diese Kosten konkret entstehen und insofern eine Notlage der Antragstellerin besteht. Zum anderen würden diese Kosten, sofern sie tat-sächlichen anfallen oder angefallen sind, nicht automatisch zum soziokulturellen Exis-tenzminimum zählen. Dies gilt umso mehr, als eine vom Land Nordrhein-Westfalen finan-zierte asylrechtliche Verfahrensberatung in den Aufnahmeeinrichtungen angeboten wird, die von den Bewohnerinnen und Bewohnern in Anspruch genommen werden kann und für sie kostenfrei ist. Mit ihrem Eilantrag begehrt die Antragstellerin die Weiterzahlung der eingestellten Geld-leistung, d.h. des Taschengeldes i.H.v. wöchentlich 31,73 EUR, dies sind auf den Monat um-gerechnet (mal 13 dividiert durch 3) 137,50 EUR. Bezogen auf den Gesamtwert der gewähr-ten Leistungen verstößt eine derartige Leistungseinschränkung nicht gegen die Grundsät-ze, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Grundsatzentscheidung zum AsylbLG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) zum Sozialstaatsprinzip und zur Ge-währleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aufgestellt und zuletzt in seiner Entscheidung vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) zur Verfassungsmäßigkeit der Minderung stattlicher Leistungen zur Existenzsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vertieft hat. In der zuletzt genannten Entscheidung hat das BVerfG in engen Grenzen sogar einen vollständigen Leistungsentzug für gerechtfertigt gehalten (siehe dort Orientierungssatz 3d.cc. und Rn. 209); für den Regelfall hat es aber festgestellt, dass die Minderung der Leistungshöhe des maßgebenden Regelbedarfes um 30% verfassungs-rechtlich nicht zu beanstanden ist (siehe dort Orientierungssatz 3d.aa. und Rn. 159). Eine solche Kürzungsquote wird mit der Einstellung des Taschengeldes bei Leistungsberechtig-ten nach dem AsylbLG nicht erreicht. Im Übrigen hat das BVerfG in dem Urteil vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) ausdrücklich (siehe Rn. 38) betont, dass sich die Minderungs-/Sanktionsbestimmungen nach dem SGB II von den Vorgaben im AsylbLG unterscheiden; dort seien zwar ebenfalls Leistungsminderungen vorgesehen; jedoch würden dann weiter-hin Leistungen für Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie für Körper- und Gesundheitspflege erbracht. Auch unter Berücksichtigung des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) bestehen gegen die Leistungseinschränkungen nach § 1a Abs. 7 S. 1 i.V.m. Abs. 1 AsylbLG keine durchgreifenden verfassungsrechtli-chen Bedenken (vgl. BSG, Urteil vom 12.05.2017 – B 7 AY 1/16 R; LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 27.04.2017 – L 7 AY 4898/15 – und vom 08.11.2018 – L 7 AY 4468/17; LSG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 25.02.2019 – L 8 AY 10/18 B ER – und vom 18.03.2019 – L 8 AY 8/18 B ER). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bzw. die Aufhebung der Vollziehung in Ab-weichung von der gesetzlichen Regel muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begrün-dende Ausnahme bleiben (Meyer-Ladewig, SGG, 12. Auflg. 2017, § 86b, Rn. 12c). Das öffentliche Interesse an einer Leistungseinschränkung gem. § 1a AsylbLG überwiegt im vorliegenden Fall das private Interesse der Antragstellerin an einer Anordnung der auf-schiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 00.00.0000 gegen den Bescheid vom 00.00.0000 bzw. die Aufhebung von dessen Vollziehung, da der Widerspruch in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfolglos bleibt. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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