L 19 AS 1426/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 27 AS 5094/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1426/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 24/20 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 15.05.2018 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.06.2017 bis 20.06.2017.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin besitzt die niederländische Staatsangehörigkeit. Seit dem 07.07.2015 war sie zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn bei dem Unternehmen Q sozialversicherungspflichtig in Vollzeit beschäftigt. Einsatzort war N. Die Beschäftigung dauerte vom 07.07.2015 bis zum 30.04.2016 und endete durch ordentliche Kündigung des Arbeitgebers. Im Dezember 2015 zog die Klägerin mit ihrem Ehemann und Sohn in die Bundesrepublik Deutschland um. Anschließend trennte sich das Ehepaar.

Der Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 04.07.2016 für die Zeit vom 01.06.2016 bis 31.10.2016 vorläufig Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Die Klägerin nahm in der Zeit vom 10.10.2016 bis 20.01.2017, verlängert bis zum 16.03.2017, an einer vom Beklagten geförderten Weiterbildung zur Wach- und Sicherheitsfrau teil. Die Prüfung sowie die beiden Wiederholungsprüfungen betreffend der Sachkundenachweise gemäß § 34 GewO bestand sie nicht.

Einen Antrag der Klägerin auf Weiterbewilligung der Leistungen ab November 2016 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 18.10.2016 ab. Im Rahmen eines vor dem Sozialgericht Duisburg eingeleiteten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens (S 49 AS 4663/16 ER) wurde die Stadt P als Beigeladene mit Beschluss vom 28.11.2016 verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 01.11.2016 längstens für 6 Monate Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII in Form des jeweiligen Regelsatzes zu gewähren. Die Stadt P leistete den Regelbedarf von November 2016 bis April 2017.

Die Stadt P lehnte den Antrag der Klägerin vom 16.11.2016 auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen mit Bescheid vom 27.01.2017 ab. Die Klägerin könne sich nicht auf einen Anspruch aus § 23 SGB XII und dem Europäischen Fürsorgeabkommen berufen, da sie nicht über ein materielles Freizügigkeitsrecht verfüge. Das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU bestehe nicht, da sich die Klägerin nicht um Arbeit bemüht habe. Die Teilnahme an einem Lehrgang reiche hierfür nicht aus. Die Klägerin werde auf die Möglichkeit der Beantragung von Überbrückungsleistungen bis zur Rückreise nach § 23 Abs. 3 S. 2 SGB XII hingewiesen. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und führte u.a. aus, dass es sich bei den sog. Überbrückungsleistungen um andere Leistungen handele, als die die sie begehre. Diese Leistungen seien zweckbestimmt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken. Sie begehre aber Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Deutschland. Sie wolle in der Bundesrepublik bleiben, um den Kontakt zu ihren Kindern sicherzustellen. Sie wolle in der Bundesrepublik arbeiten und ein eigenes Leben führen. Mit bestandskräftigem Widerspruchsbescheid vom 19.04.2017 wies die Stadt P den Widerspruch als unbegründet zurück.

Am 21.06.2017 schloss die Klägerin einen bis zum 31.12.2017 befristeten Arbeitsvertrag über eine geringfügige Beschäftigung als Reinigungskraft mit der Firma D GmbH in N. Die Einkünfte wurden jeweils im Folgemonat ausgezahlt.

Im Jahr 2017 nutzte die Klägerin mit zwei weiteren Personen, Herrn N, geboren am 00.00.0000 und dessen Sohn L, geboren am 00.00.0000, eine Mietwohnung. Mieter der Wohnung war Herr N. Im Juni 2017 betrug die Gesamtmiete monatlich 472,57 Euro (312,07 Euro Grundmiete [309,57 Euro zzgl. 2,50 Euro Untermietzuschlag], 55,00 Euro Heizkosten und 105,50 Euro Nebenkostenvorauszahlung). Zwischen der Klägerin und Herrn N bestand die Absprache, dass die Klägerin 1/3 der Mietzahlungen trägt. Das Warmwasser wurde dezentral erzeugt. Die Klägerin erhielt keine finanzielle Unterstützung durch Familienangehörige.

Am 23.06.2017 beantragte die Klägerin bei der Stadt P Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Die Stadt P lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 23.06.2017 ab. Dem Antrag auf Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII könne nicht entsprochen werden. Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass ihr Ansprüche nach dem 3. Kapitel des SGB XII zustünden. Die Stadt P wies den Widerspruch mit bestandskräftigem Widerspruchsbescheid vom 22.08.2017 als unbegründet zurück.

Am 13.10.2017 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 23.06.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2017 nach § 44 SGB X und am 01.10.2017 die Überprüfung des Bescheides vom 27.01.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.04.2017 nach § 44 SGB X. Die beiden Anträge lehnte die Stadt P mit Bescheid vom 13.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheidens vom 21.12.2017 ab. Hiergegen erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Duisburg, S 48 SO 621/17.

Die Stadt P leitete den Antrag vom 23.06.2017 auf Grundsicherungsleistungen mit Schreiben vom 08.08.2017 an den Beklagten weiter. Mit Bescheid vom 17.10.2017 bewilligte der Beklagte der Klägerin Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 21.06.2017 bis zum 31.10.2017. Für die Zeit vom 01.06.2017 bis zum 20.06.2017 lehnte der Beklagte Leistungen ab, da die Klägerin in diesem Zeitraum keinen Arbeitnehmerstatus inne habe und deshalb von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei.

Am 22.10.2017 legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.10.2017 ein und trug vor, dass sie Anspruch auf vollständige Leistungen für Juni 2017 habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 09.11.2017 setzte der Beklagte Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für September auf 454,24 Euro und für Oktober auf 479,06 Euro fest und wies den Widerspruch im Übrigen als unbegründet zurück. Ab dem 01.11.2016 sei die Klägerin aufgrund des Ablaufs der Fortwirkung des Arbeitnehmerstatusses vom Leistungsbezug des SGB II ausgeschlossen. Erst mit der erneuten Arbeitsaufnahme zum 21.06.2017 habe sie wieder einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.

Die Klägerin hat am 01.12.2017 Klage erhoben. Sie ist der Ansicht, ab dem 01.06.2017 leistungsberechtigt zu sein. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sei verfassungswidrig.

Am 15.02.2018 hob der Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 09.11.2017 auf, soweit damit Leistungen für September 2017 festgesetzt wurden und erließ einen neuen Widerspruchsbescheid, mit dem der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen wurde. Der Leistungsanspruch für Oktober wurde auf 479,06 Euro festgesetzt.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin unter Abänderung des Bescheides vom 17.10.2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 09.11.2017 und 15.02.2018 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für den Zeitraum 01.06.2017 bis 31.10.2017 zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 15.05.2018 die Klage abgewiesen. Die Klage sei unbegründet. Der Bescheid vom 17.10.2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 09.11.2017 und 15.02.2018 sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Sie habe keiner Anspruch auf höhere Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.06.2017 bis 31.10.2017. Die Leistungsablehnung für den Zeitraum vom 01.06.2017 bis 20.06.2017 sei rechtmäßig. Die Klägerin sei in dieser Zeit von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II ausgeschlossen. Danach seien Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe, von Leistungen ausgenommen. Die Klägerin könne sich im maßgeblichen Zeitraum allenfalls auf ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU berufen. Danach seien Unionsbürger unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Dies sei vorliegend der Fall. Die Klägerin habe zum 21.06.2017 eine neue Arbeitsstelle gefunden. Durchgreifende Bedenken gegen die Europarechtskonformität oder die Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses bestünden nicht. Eine Beiladung des Sozialhilfeträgers hinsichtlich etwaiger Ansprüche nach dem SGB Xll in der Zeit vom 01.06.2017 bis 20.06.2017 nach § 75 Abs. 2, 2. Alt SGG sei nicht erforderlich. Nach der Rechtsprechung des BSG müsse sich der Sozialhilfeträger die Kenntnis des Beklagten von der Bedürftigkeit zurechnen lassen, die dieses durch die SGB ll- Antragstellung erlange (BSG, Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R) und - bei Vorliegen der weiteren Anspruchsvoraussetzungen - ab Antragstellung Leistungen nach dem SGB XII erbringen. Die SGB II- Antragstellung sei am 23.06.2017 erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt habe die Klägerin bereits Leistungen nach dem SGB II bezogen. Auf die weiteren Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen den am 22.05.2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 28.05.2018 Nichtzulassungsbeschwerde erhoben.

Der Senat hat mit Beschluss vom 16.08.2018 die Berufung zugelassen.

Die Klägerin wiederholt und vertieft im Wesentlichen ihre Ausführungen auf dem Widerspruchs- und Klageverfahren. Sie hat sich dahingehend eingelassen, dass für sie im Jahr 2017 die Rückkehr in die Niederlande keine Option gewesen sei, da sich zwei Kinder in der Bundesrepublik aufgehalten hätten.

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vom 19.12.2019 erklärt, dass sie das Berufungsverfahren für die Zeit vom 21.06.2017 bis 31.10.2017 für erledigt erkläre.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 15.05.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr unter Abänderung des Bescheides vom 17.10.2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 09.11.2017 und 15.02.2018 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.06.2017 bis 20.06.2017 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die beigezogenen Akten des Sozialgerichts Duisburg S 49 AS 4663/16 ER und S 48 SO 621/17 und die Verwaltungsakte der Stadt P Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 17.10.2017 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 09.11.2017 und 15.02.2018, mit dem der Beklagte der Klägerin Grundsicherungsleistungen nach den SGB II für den Zeitraum 21.06.2017 bis 31.10.2017 gewährt und Leistungen für den Zeitraum 01.06.2017 bis 20.06.2017 abgelehnt hat. Nach der teilweisen Rücknahme der Berufung durch die einseitige Erledigungserklärung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist streitiger Zeitraum allein die Zeit vom 01.06.2017 bis 20.06.2017.

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 1. Alt. SGG i.V.m. § 56 SGG.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Die Klägerin ist nicht beschwert i.S.v. § 54 abs. 2 SGG. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig. Die Klägerin hat im Zeitraum von 01.06.2017 bis 20.06.2017 keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB I gegenüber dem Beklagten. In diesem Zeitraum war sie vom Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

Im streitbefangenen Zeitraum hat Klägerin die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erfüllt. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht (Nr. 1), ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt (Nr. 4), ist erwerbsfähig (Nr. 2) und hilfebedürftig i.S.v. § 7 Abs. 1 SGB II (Nr. 3) gewesen. Sie über kein anrechenbares Einkommen oder zu berücksichtigendes Vermögen verfügt.

Jedoch ist die Kläger in der Zeit vom 01.06.2017 bis 20.06.2017 von den Leistungen ausgeschlossen gewesen. Sie ist von dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II (i.d.F. des Gesetzes vom. 22.12.2016, BGBl I 3155 mit Wirkung zum 29.12.2016) erfasst gewesen. Hiernach sind Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, a) die kein Aufenthaltsrecht haben, b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union ableiten (ABl. L 141 vom 27.05.2011, S. 1, geändert durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.04.2016, S. 1). Abweichend von Satz 2 Nr. 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben (§ 7 Abs. 1 S. 4 Halbs. 1 SGB II).

Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II findet auf die Klägerin keine Anwendung. Sie kann sich nicht auf einen Aufenthalt von fünf Jahren im Bundesgebiet berufen. Denn sie reiste erst im Dezember 2015 in die Bundesrepublik ein und ist seitdem gemeldet.

Die Klägerin ist nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 b) SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Sie hat allenfalls noch über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche verfügt. Die Voraussetzungen der Aufenthaltsrechte aus §§ 2, 3, 4, 4a FreizügG/EU - bis auf ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU - haben nicht vorlegen. Die Klägerin hat keine (abhängige oder selbständige) Tätigkeit ausgeübt (§ 2 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FreizügG/EU) und sich nicht zu dem Zwecke aufgehalten, Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 FreizügG/EU). Sie hat nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Sie ist keine Familienangehörige eines aufenthaltsberechtigten Unionsbürgers i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 FreizügG/EU gewesen. Die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht (§ 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU) haben bei ihr nicht vorgelegen.

Die Klägerin konnte sich auch nicht auf ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU berufen. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt das durch eine Erwerbstätigkeit erworbene Aufenthaltsrecht i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Nach § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU wirkt das durch eine Erwerbstätigkeit erworbene Aufenthaltsrecht i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU bei unfreiwilliger und durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten fort.

Die Klägerin war in der Zeit vom 07.07.2015 bis zum 30.04.2016 sozialversicherungspflichtig in Vollzeit bei dem Unternehmen Q beschäftigt und damit Arbeitnehmerin i.S.v. Art. 45 AEUV. Ihr Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin wirkte aufgrund ihrer unfreiwilligen und durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigten Arbeitslosigkeit nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 FreizügG/EU nur bis zum 31.10.2016 fort. Auf die Fortwirkung des Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmerin wegen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU kann sich die Klägerin nicht berufen. Vielmehr gilt für sie lediglich die Regelung des § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU, wonach die durch eine Erwerbstätigkeit erworbene Arbeitnehmereigenschaft i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU bei unfreiwilliger und durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung nur während der Dauer von sechs Monaten fortwirkt und nur solange ein Aufenthaltsrecht vermittelt.

Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Aufenthaltsrechts der Klägerin aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. Bestimmungen des AufenthG sind nicht ersichtlich und ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag der Klägerin.

Der Senat lässt offen, ob die Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU für die Zeit ab dem 01.06.2017 vorgelegen haben. Denn auch ein solches Aufenthaltsrecht wird vom Leistungsauschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II erfasst.

Die Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 a) und b) SGB II sind europarechtskonform (vgl. EuGH, Urteile vom 20.05.2014- C-333/13, vom 15.09.2015 - C-67/14 und vom 22.04.2015 - C-299/14).

Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II betreffend den Ausschluss von Unionsbürgern von den Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ist verfassungsgemäß (vgl. Beschluss des Senats vom 19.03.2017 - L 19 AS 190/17 B ER; LSG Hessen, Beschlüsse vom 21.08.2019 - L 7 AS 285/19 B ER und vom 27.03. 2019 - L 7 AS 7/19; LSG NRW, Beschluss vom 05.08.2017 - L 6 AS 783/17 B ER; siehe zu inhaltsgleichen § 23 Abs. 3 S. 1 Nrn. 1-3 SGB XII: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 07.11.2019 - L 7 SO 934/19; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.07.2019 - L 15 SO 181/18; , LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.12.2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B; LSG NRW, Beschlüsse vom 08.05.2017 - L 20 SO 138/17 B ER, vom 05.04.2017 - L 9 SO 83/17 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.02.2017 - L 23 SO 30/17 B ER ; LSG Bayern, Beschluss vom 24.04.2017 - L 8 SO 77/17 B ER; a.A. SG Kassel, Beschluss vom 14.02.2017 - S 4 AS 20/17 ER; siehe auch. Dollinger, Ausschussdrs. 18(11) 851 S. 7 ff. und Berlit a.a.O. S. 55 ff.; Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Ausschluss von EU-Ausländern von Grundsicherungsleistungen - WD 6-30000-025/16; Kannalan, ZESAR 2016, 365ff, 414ff).

Der Ausschluss von Unionsbürgern ohne materielles Aufenthaltsrecht bzw. nur mit einem Recht zur Arbeitsuche von laufenden Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II bzw. Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG) vereinbar, das durch das BVerfG näher konturiert worden ist (BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1, 3, 4/09 ; Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 2/11 - ; Beschluss vom 23.07.2014 - 1 BvL 10, 12/12, 1 BvR 1691/13 ). Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist als Gewährleistungsrecht von vornherein auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss durch einen gesetzlichen Leistungsanspruch eingelöst werden, der indes der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber bedarf. Das Gewährleistungsrecht bedingt nicht, dass existenzsichernde Leistungen voraussetzungslos zur Verfügung gestellt werden müssten, und es fordert nicht, die gesetzliche Ausgestaltung der Grundsicherung für Arbeit-suchende in Richtung auf ein bedingungsloses Grundeinkommen zu entwickeln. Bei der Ausgestaltung des Grundrechts steht dem Gesetzgeber vielmehr ein Gestaltungsspielraum zu, innerhalb dessen er die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat (BSG, Urteil vom 09.03.2016 - B 14 AS 20/15 R.).

Gegenstand der Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Gewährleistungsrecht durch den Gesetzgeber sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung und Anpassung. Gegenstand können vielmehr auch Leistungsvoraussetzungen und -ausschlüsse, Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein. Der Gesetzgeber hat die Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht bzw. nur mit einem Recht zur Arbeitsuche nicht gänzlich aus den existenzsichernden Leistungssystemen ausgeschlossen, sondern für diesen Personenkreis in § 23 Abs. 3 S. 3 - 6 SGB XII einen eigenständigen, differenziert ausgestalteten Anspruch auf Erhalt von existenzsichernden Leistungen, die in der Höhe und im zeitlichen Umfang von existenzsichernden Leistungen für Unionsbürger mit einem materiellen Aufenthaltsrecht abweichen, geschaffen. Die damit statuierte unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen zur Existenzsicherung von Unionsbürgern, die über ein materielles, auf Dauer angelegtes Aufenthaltsrecht verfügen, und von Unionsbürgern, die über kein Aufenthaltsrecht bzw. ein zeitlich befristetes Aufenthaltsrecht, nämlich zur Arbeitsuche verfügen, kann im Hinblick auf den unterschiedlichen Aufenthaltsstatus dieser Personengruppen noch als sachlich gerechtfertigt angesehen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.10.2016 - 1 BVR 2778/13 m.w.N.).

Der Senat hat von einer notwendigen Beiladung der Stadt P als zuständigen Sozialhilfeträger abgesehen, da eine Verurteilung nach § 75 Abs. 5 SGG wegen der bestandskräftigen Ablehnungsbescheide der Stadt P nicht zulässig ist. § 75 Abs. 5 SGG lässt eine Verurteilung des Beigeladenen zu, ohne dass dieser zuvor einen Bescheid erlassen oder ein notwendiges Vorverfahren durchgeführt hat. Hierfür fehlt es an der Grundlage, wenn der Beigeladene bereits einen bindend gewordenen ablehnenden Bescheid erlassen hat (BSG, Urteile vom 04.05.1999 - B 2 U 19/98 R - und vom 31.05.1988 - 2 RU 67/87). Dies gilt selbst für die Fälle, in denen der Kläger einen Anspruch auf Rücknahme des früheren Bescheides nach § 44 Abs. 1 SGB X geltend machen kann (BSG a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
Saved