L 8 SB 2115/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 8 SB 2205/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 2115/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Herabstufung eines GdB von 80 auf 40 nach Ablauf der Heilungsbewährung von Erkrankungen der Harnblase und der Prostata; keine Feststellung eines Einzel-GdB für eine erektile Dysfunktion bei Fehlen des Nachweises einer erfolglosen Behandlung; kein Nachweis einer psychischen Erkrankung bei Fehlen jeglicher fachärztlicher Behandlung.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29.05.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Herabstufung des ihm ursprünglich zuerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 40.

Beim 1943 geborenen Kläger wurde mit Teil-Abhilfebescheid vom 14.11.2011 (Bl. 103 VA) ein GdB von 80 seit 07.04.2011 festgestellt. Die Einstufung beruhte auf der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. W. vom November 2011 (Bl. 101 VA: Erkrankung der Prostata in Heilungsbewährung, Harnblasenerkrankung in Heilungsbewährung).

Im Rahmen des vom Beklagten im Mai 2016 eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens von Amts wegen gelangte unter anderem der Bericht des Urologen Dr. S. vom März 2016 (Bl. 116 VA) zu den Akten, in welchem dieser einen Anhalt für ein Lokalrezidiv oder eine Metastasenbildung ausschloss. Der Versorgungsarzt K. schlug in seiner Stellungnahme vom Juli 2016 einen Gesamt-GdB von 20 für die Funktionsbeeinträchtigungen Verlust der Prostata, erektile Dysfunktion und Entleerungsstörung der Harnblase vor (Bl. 119 VA). Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Herabsetzung machte der Kläger psychische Probleme geltend und teilte auf Nachfrage des Beklagten mit, wegen dieser Beschwerden bislang nicht bei einem Facharzt in Behandlung gewesen zu sein (Bl. 124 VA). Mit Änderungsbescheid vom 16.09.2016 stellte der Beklagte den GdB mit 20 ab 19.09.2016 fest.

Im Widerspruchsverfahren gelangte der Arztbericht des Dr. S. vom 26.09.2016 (Bl. 139 VA) zu den Akten, in dem unter anderem ausgeführt wurde, es liege eine unveränderte erektile Dysfunktion vor, wobei Sildenafil bislang auch noch nicht ausprobiert worden sei. Dem Vorschlag der Versorgungsärztin Dr. Sa. vom März 2017 folgend (Bl. 141 VA), welche die oben genannten Funktionsbeeinträchtigungen nun mit einem Einzel-GdB von 30 bewertete, stellte der Beklagte mit Teil-Abhilfebescheid vom 21.03.2017 den GdB mit 30 seit 19.09.2016 fest (Bl. 143 VA). Der Beklagte zog in der Folge noch ein Befundbericht des Augenarztes Dr. Sas. (Visus rechtes Auge mit Korrektur: 1/10, linkes Auge mit Korrektur: 0,8, Bl. 149 VA) bei. Die Versorgungsärztin St. empfahl in ihrer Stellungnahme vom Mai 2017 (Bl. 151 VA) für die Sehbehinderung einen Einzel-GdB von 20 und insgesamt einen Gesamt-GdB von 40. Mit weiterem Teil-Abhilfebescheid vom 08.06.2017 stellte der Beklagte daraufhin den GdB mit 40 seit 19.09.2016 fest (Bl. 153 VA) und wies den weitergehenden Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.04.2017, ausweislich des in der Akte befindlichen Absendevermerks am 11.07.2017 abgesandt, zurück (Bl. 160 VA).

Hiergegen hat der Kläger am 18.07.2017 Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben, mit der er die Zuerkennung eines GdB von 50 begehrt hat. Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen. Die Augenärztin U. hat im Oktober 2017 über eine Maculanarbe am rechten Auge berichtet und deren Bewertung durch den Beklagten zugestimmt (Bl. 24 SG). Dr. S. hat im Oktober 2017 (Bl. 26 SG) über eine schwere erektile Dysfunktion (GdB 20), eine mittelgradige Belastungsinkontinenz, eine mittelgradige Urge-Inkontinenz (GdB 40), eine mittel- bis schwergradige Depression (GdB 40) und einen Verlust der Prostata (GdB 20) berichtet. Es gebe keinen Hinweis auf einen Blasentumor oder ein Lokalrezidiv. Zu den Akten gelangte ferner ein Entlassungsbericht der Klinik Sch. über den dortigen stationären Aufenthalt vom Ende November/Anfang Dezember 2016 mit den Diagnosen idiopathische akute Pankreatitis, gastroösophageale Refluxkrankheit und h.p.-negative Gastritis (Bl. 21 SG).

Der Versorgungsarzt Dr. Kö. hat in seiner Stellungnahme vom Januar 2018 (Bl. 31 SG) die Einschätzung einer mittelschweren Dranginkontinenz und mittelschweren Belastungsinkontinenz geteilt, die mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei. Die erektile Dysfunktion sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Dem Entlassungsbericht der Klinik Sch. seien keine zusätzlichen chronischen Erkrankungen zu entnehmen. Bezüglich der weiterhin geltend gemachten Harnwegsinfekte fehle es an konkreten Angaben, die die Feststellung einer wesentlichen Beeinträchtigung rechtfertigen könnten. Unter Berücksichtigung des weiteren Einzel-GdB von 20 bleibe es daher bei einem Gesamt-GdB von 40.

Auf Veranlassung des SG hat Dr. M., Facharzt für Urologie, Neuro-Urologie, Tumortherapie und Umweltmedizin, gestützt auf eine ambulante Untersuchung des Klägers, unter dem 17.07.2018 ein Fachgutachten erstattet (Bl. 39 SG) und beim Kläger eine erektile Dysfunktion (Einzel-GdB 20) und eine Entleerungsstörung der Harnblase/Harninkontinenz mit gelegentlichem Urinabgang diagnostiziert (Einzel-GdB 30) und den Gesamt-GdB mit 40 bewertet.

Mit Gerichtsbescheid vom 29.05.2019 hat das SG die Klage abgewiesen und gestützt auf das Gutachten des Dr. M. die Drangsymptomatik mit gelegentlicher geringer Inkontinenz unter körperlicher Belastung bei 1- bis 2-mal jährlich auftretenden Harnwegsinfekten mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Ein Einzel-GdB von 20 komme mangels nachgewiesener erfolgloser Behandlung für die erektile Dysfunktion nicht in Betracht. In Übereinstimmung mit den Angaben und der Bewertung der Augenärztin Dr. U. sei die Sehminderung mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Für die Beeinträchtigung des Klägers im Bereich des Nervensystems und der Psyche könne mangels einer entsprechenden fachärztlichen Behandlung und überzeugenden Anhaltspunkten für eine entsprechende Bewertung ein zu einem höheren Gesamt-GdB führender Einzel-GdB nicht zuerkannt werden, zumal der Kläger selbst im Schriftsatz vom 06.08.2018 (Bl. 46 SG) eine solche Erkrankung in Abrede gestellt habe. Hieraus ergebe sich ein Gesamt-GdB von 40.

Gegen den dem Kläger am 03.06.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am 28.06.2019 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und zu deren Begründung vorgetragen, die erektile Dysfunktion sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Denn entgegen den Ausführungen des Dr. M. habe bei ihm ein Therapieversuch stattgefunden, wie sich aus der sachverständigen Zeugenaussage des Dr. S. gegenüber dem SG ergebe. Entgegen der Ausführungen im klägerischen Schriftsatz vom 06.08.2018, in welchen man in Reaktion auf das Gutachten des Dr. M. eine depressive Erkrankung bei ihm in Abrede gestellt habe, bestehe bei ihm eine erhebliche psychische Belastung durch die erektile Dysfunktion sowie die 2 bis 3-maligen nächtlichen Störungen des Schlafs.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29.05.2019 aufzuheben sowie den Bescheid vom 16.09.2016 in der Gestalt der Teil-Abhilfebescheide vom 21.03.2017 und vom 08.06.2017, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2017, abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihm einen GdB von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat zur Begründung vorgetragen, der Sachverständige habe in seinem Gutachten festgehalten, dass eine Therapie der erektilen Dysfunktion erwogen, jedoch aus Angst von Nebenwirkungen vom Kläger nicht durchgeführt worden sei. Ein erfolgloser Therapieversuch lasse sich daraus nicht ableiten. Im Übrigen verweise man auf die Ausführungen des Versorgungsarzt Dr. Kö. vom Januar 2018, wonach eine erektile Dysfunktion und auch ein Verlust der Prostata sich nicht GdB-erhöhend auswirken würden.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Prozessakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist nach § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber nicht begründet. Der Senat hat mit dem Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Streitgegenständlich ist vorliegend der Bescheid vom 16.09.2016 in der Gestalt der Teil-Abhilfebescheide vom 21.03.2017 und vom 08.06.2017, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2017, mit dem der Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 14.11.2011 den Gesamt-GdB seit 19.09.2016 mit nur noch 40 festgestellt hat. Die hiergegen zulässigerweise erhobene Anfechtungsklage ist zulässig, aber unbegründet. Der Beklagte ist im Ergebnis zutreffend von einer wesentlichen tatsächlichen Änderung ausgegangen, auf Grund derer dem Kläger nur noch ein GdB von 40 zusteht.

Ermächtigungsgrundlage für die Herabsetzung des Gesamt-GdB ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist, soweit in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn sich durch das Hinzutreten neuer Gesundheitsstörungen oder eine Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörungen der Gesundheitszustand des behinderten Menschen verschlechtert oder er sich durch den Wegfall oder einer Besserung bereits anerkannter Gesundheitsstörungen gebessert hat. Von einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand ist auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt. Ob dies der Fall ist, ist durch einen Vergleich der für die letzte bindend gewordene Feststellung maßgebenden Befunde mit den jetzt vorliegenden Befunden zu ermitteln.

Für die Ermittlung des GdB gilt folgendes: Rechtsgrundlage ist § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung in Verbindung mit § 69 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung.

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen, nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) getretene Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R – juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R – juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.201 – B 9 SB 3/12 R – juris).

Nach dieser Maßgabe hat der Beklagte den Teil-Abhilfebescheid vom 14.11.2011 zu Recht gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X teilweise aufgehoben. Denn im entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung (BSG, Urteile vom 13.08.1997 – 9 RVs 10/96 –; vom 10.09.1997 – 9 RVs 15/96 –; vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/15 R –, alle in juris) lag eine wesentliche Änderung als materiell-rechtliche Voraussetzung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor, aufgrund derer dem Kläger nur noch ein Gesamt-GdB von 40 zustand.

Der ursprünglich zuerkannte GdB von 80 beruhte auf dem im Januar 2010 entfernten Prostatakarzinom (im Stadium pT2c pN0 M0 R0 G3) und dem im August 2011 entfernten Blasenkarzinom (pT1 G1 Tis) und der hierfür für 5 Jahre nach Entfernung zuzuerkennenden Heilungsbewährung gemäß VG, Teil B, Nr. 13.6 und Nr. 12.2.3. Insoweit ist – auch zwischen den Beteiligten unstreitig –eine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten, als die Heilungsbewährung von 5 Jahren für diese Erkrankungen im August 2016 rezidivfrei abgelaufen ist. Dies haben der behandelnde Urologe Dr. S. (zuletzt in seiner schriftlichen Zeugenaussage vom Oktober 2017) sowie Dr. M. auf Grundlage seiner ambulanten Untersuchung des Klägers im Juli 2018 bestätigt.

Nach Ablauf der Heilungsbewährung bestimmt sich der GdB nur noch nach den tatsächlich vorhandenen Funktionseinbußen. Die noch vorliegenden Gesundheitsstörungen auf urologischen Gebiet rechtfertigen aber keinen Einzel-GdB von mehr als 30.

Beim Kläger liegt noch eine Entleerungsstörung der Harnblase mit Harninkontinenz vor. Dies entnimmt der Senat den insoweit übereinstimmenden Bekundungen des behandelnden Urologen Dr. S. sowie des Dr. M ... Nach den VG, Teil B, Nr. 12.2.4 führt eine relative Harninkontinenz mit leichtem Harnabgang bei Belastung (z.B. Stressinkontinenz Grad I) zu einem Einzel-GdB von 0-10 und bei Harnabgang tags und nachts (z.B. Stressinkontinenz Grad II-III) zu einem solchen von 20-40. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist jedenfalls ein höherer Einzel-GdB als 30 hier nicht gerechtfertigt. Gegenüber dem Sachverständigen hat der Kläger über einen gelegentlichen Urinabgang bei körperlicher Anstrengung, beim Husten, beim Niesen oder Lachen sowie beim Heben schwerer Lasten im Gefolge der Blasenkarzinomoperation 2011 berichtet. Eine Therapie mit einem Anticholinergikum ist erfolglos geblieben. Der Kläger trägt vorsorglich Inkontinenzeinlagen, welche er jedoch nur bei körperlicher Anstrengung wechseln muss, so seine Angaben gegenüber dem Sachverständigen. Unter Berücksichtigung auch des von Dr. S. in seiner sachverständigen Zeugenaussage mitgeteilten Ergebnisses der Blasenspiegelung sind die Angaben des Klägers plausibel und ist die Annahme einer mittelschweren Drang- und Belastungsinkontinenz geboten, so bereits Dr. Kö. in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom Januar 2018. In Übereinstimmung mit Dr. Kö. und Dr. M. ist aus Sicht des Senats aber nicht gerechtfertigt, den für eine mittelschwere Harninkontinenz eingeräumten Bewertungsrahmen von 20-40 nach oben hin vollständig auszuschöpfen, nachdem Dr. M. eine nur gelegentliche und dabei auch nur geringe Inkontinenz feststellen konnte und sich auch den Befundberichten und Stellungnahmen des Dr. S. keine Anhaltspunkte für eine abweichende Beurteilung entnehmen lassen.

Entgegen der Einschätzung des Dr. S. begründet der Verlust der Prostata für sich genommen keinen messbaren Einzel-GdB mehr, so zu Recht Dr. Kö. und Dr. M ... So hat Dr. M. einen unauffälligen Tastbefund der Prostataloge (nach Prostatektomie verbleibende Wundfläche) und der Blase erhoben; die sonographische Kontrolle der Nieren, der Blase und der Prostataloge sowie die transrektale Sonographie der Blase und der Prostataloge ist gleichfalls ohne Befund geblieben. Angesichts von nach Angaben des Klägers 1- bis 2-mal jährlich auftretenden Harnwegsinfekten ist der Sachverständige zu Recht auch nicht von einer chronischen Harnwegsentzündung wenigstens leichten Grades (und einem damit verbundenen Einzel-GdB von 0-10, vergleiche VG, Teil B, Nr. 12.2.1) ausgegangen.

Soweit Dr. S. und Dr. M. übereinstimmend von einer erektilen Dysfunktion ausgegangen sind, rechtfertigt diese keinen Einzel-GdB. Denn die Bewertung mit einem Einzel-GdB (von dann bereits 20) setzt gemäß den VG, Teil B, Nr. 13.2 eine Impotentia coeundi mit nachgewiesener erfolgloser Behandlung voraus. Eine solche erfolglose Behandlung ist indes zum hier maßgeblichen Zeitpunkt (siehe oben) nicht nachgewiesen. So hat Dr. S. im Arztbrief vom September 2016 über eine fortdauernde erektile Dysfunktion berichtet, dabei aber auch darauf hingewiesen, dass eine Therapie mit Sildenafil auch noch nicht erprobt worden sei. Zwar hat Dr. S. in seiner zeugenschaftlichen Stellungnahme vom Oktober 2017 bei der von ihm verordneten Medikation ohne weitere Angaben zum Zeitpunkt der Aufnahme, der Dauer und eines möglichen Erfolgs auch Sildenafil erwähnt. Der Kläger selbst hat indes gegenüber dem Sachverständigen mitgeteilt, er habe diese Therapie aus Angst vor Nebenwirkungen nicht durchgeführt. Dass er diese Aussage gegenüber dem Sachverständigen getätigt hat, hat der Kläger in der Berufungsbegründung dann auch nicht etwa in Zweifel gezogen, sondern lediglich unter Verweis auf die von Dr. S. erwähnte Medikation mit Sildenafil einen Therapieversuch behauptet. Dies vermag den Senat nicht zu überzeugen. Jedenfalls für den hier maßgeblichen Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids vom 11.04.2017 kann sich der Senat angesichts der Angaben des Dr. S. sowie der nicht bestrittenen Angaben des Klägers gegenüber dem Sachverständigen nicht von einer erfolglosen Behandlung im Sinne der VG, Teil B, Nr. 13.2 überzeugen.

Die von Dr. Sas. berichtete Sehminderung ist mit einem Einzel-GdB von 20 entsprechend der VG, Teil B, Nr. 4.3 zu bewerten, wie bereits das SG in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat und worauf der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt (§ 153 Abs. 2 SGG).

Eine eigenständige Erkrankung auf psychischem Gebiet ist zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Befunde, die eine über das normale Maß, welches bei der Einstufung der jeweiligen Gesundheitsstörung somatischer Art bereits berücksichtigt wird, hinausgehende psychoreaktive Symptomatik mit eigenständigem Krankheitswert beschreiben, liegen nicht vor, so zu Recht Dr. Kö. in seiner Stellungnahme vom Januar 2018. Der Kläger selbst hat zu keiner Zeit fachärztliche Behandlung in Anspruch genommen und hat im Klageverfahren eine depressive Erkrankung sogar verneint. Er hat allerdings bereits im Verwaltungsverfahren und nun auch wieder im Berufungsverfahren eine psychische Belastung aufgrund der erektilen Dysfunktion geltend gemacht. Zwar hat Dr. S. in seiner sachverständigen Zeugenaussage von einer Depression, welche in den letzten Jahren zugenommen habe, berichtet. Entsprechende Angaben finden sich allerdings zum einen nicht in seinem ausführlichen Arztbrief vom September 2016. Auch in seiner sachverständigen Zeugenaussage bleibt er jedwede Angaben über die bloße Diagnose einer "Depression" schuldig. Weder lässt sich seinen vagen Angaben der konkrete Ausprägungsgrad der von ihm angenommenen depressiven Erkrankung entnehmen, noch enthält dieser irgendwelche Befunde, um die Diagnose zu untermauern. Zu Recht hat Dr. Kö. deshalb den Nachweis einer relevanten Erkrankung auf seelischen Gebiet, insbesondere zum hier maßgeblichen Zeitpunkt, verneint. Dem folgt der Senat aus eigener Überzeugung.

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Darlegungen zur Bildung des Gesamt-GdB und ausgehend von den Funktionsbeeinträchtigungen auf urologischem Gebiet mit einem Einzel-GdB von 30 erhöht sich der Gesamt-GdB unter Berücksichtigung des Einzel-GdB von 20 für die Sehminderung auf dann 40. Zutreffend hat das SG dargelegt, dass im Übrigen selbst bei Annahme eines Einzel-GdB von 20 für die psychische Erkrankung sich hieraus kein höherer Gesamt-GdB ergeben würde. Der Senat macht sich die diesbezüglichen Ausführungen des SG in vollem Umfang zu eigen und weist die Berufung insoweit aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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